Autorin: Cana Mungan

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Behandelte Themen: Familiennachzug, Elternnachzug, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Zuständigkeit der Auslandsvertretung, Beurteilungszeitpunkt Minderjährigkeit, Eintritt der Volljährigkeit

Zugrundeliegender Sachverhalt: Recht auf Eltern – auch nach dem 18. Geburtstag?

Schwierigkeitsgrad: Anfänger*innen bis Fortgeschrittene

A. Grundfall Bearbeiten

Fraglich ist, ob die Eltern des O einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzugs zu ihrem Sohn haben.

I. Anspruchsgrundlage Bearbeiten

Die Voraussetzungen für einen Familiennachzug der Eltern des O könnten sich aus § 6 III in Verbindung mit § 36 I AufenthG ergeben. Nach § 6 III 1 und 2 AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte ein Visum für das Bundesgebiet erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften.[1] Nach § 36 I AufenthG ist den Eltern einer minderjährigen und unverheirateten Person, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 II 1 Alt. 1 AufenthG besitzt, abweichend von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 I Nr. 1 (Lebensunterhaltssicherung) und § 29 I Nr. 2 AufenthG (Wohnraumerfordernis) ein Visum zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.[2]

Weiterführendes Wissen

Dieser Anspruch ist – wie sich aus der Formulierung „abweichend von § 5 I Nr. 1 und § 29 I Nr. 2 AufenthG“ ergibt – unabhängig vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung und des Vorhandenseins von Wohnraum (siehe weiter unter 4.) und wird daher als "privilegierter Nachzug" bezeichnet. Anders als beim privilegierten Nachzug von Eheleuten und Kindern verlangt § 29 II 2 AufenthG im Falle des Elternnachzugs keine Anzeige des Nachzugs innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Schutzzuerkennung des Kindes (sogenannte fristwahrende Anzeige).

Der vereinfachte Nachzug zu unbegleiteten Minderjährigen resultiert aus der Umsetzung der Familienzusammenführungs-RL durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.8.2007.[3]

II. Rechtliche Voraussetzungen Bearbeiten

Die Eltern des O. müssten die Voraussetzungen des § 36 I AufenthG erfüllen.

1. Aufenthaltstitel der minderjährigen Referenzperson Bearbeiten

§ 36 I AufenthG verlangt, dass das Kind (in diesem Zusammenhang als „Referenzperson“ oder „stammberechtigte Person“ bezeichnet), einen Aufenthaltstitel nach § 23 IV, § 25 I oder II 1 Alt. 1, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 III oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 26 IV AufenthG besitzt.

O hat einen Aufenthaltstitel nach § 25 II 1 Alt. 1 AufenthG als anerkannter Flüchtling. Der Anspruch der Eltern des O. auf Elternnachzug kann sich somit aus § 36 I AufenthG ergeben.

Weiterführendes Wissen

Die stammberechtigte Person muss grundsätzlich im Besitz eines Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit sein. Dies folgt bereits aus Art. 3 I Familienzusammenführungs-RL, nach der Stammberechtigte eine begründete Aussicht darauf haben müssen, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen. Da nach § 26 I 2 AufenthG die Aufenthaltstitel gemäß § 25 I für Asylberechtigte und II 1 Alt. 1 AufenthG für anerkannte Flüchtlinge mit einer Gültigkeit von drei Jahren erteilt werden, stellt diese Voraussetzung in der Praxis kaum ein Problem dar.

2. Kein nachzugsberechtigter Elternteil im Bundesgebiet Bearbeiten

Des Weiteren dürfte sich kein nachzugsberechtigter Elternteil des O bereits im Bundesgebiet aufhalten.

§ 36 I AufenthG sieht grundsätzlich einen beiden Elternteilen zustehenden Nachzugsanspruch zu ihrem minderjährigen Kind vor. Eine Einschränkung dieses Grundsatzes findet statt durch die negative Voraussetzung, dass sich kein nachzugberechtigter Elternteil bereits im Bundesgebiet befinden darf. Eine Entsprechung findet diese Voraussetzung in Art. 2 lit. f Familienzusammenführungs-RL, wonach eine Person nur solange als „unbegleitete Minderjährige“ anzusehen ist, als sie sich „nicht tatsächlich in der Obhut“ einer für sie verantwortlichen erwachsenen Person befindet.

Der Nachzugsanspruch nach § 36 I AufenthG greift u.a. dann nicht, wenn von vornherein ein Elternteil mit dem minderjährigen Kind nach Deutschland eingereist ist oder es dort in Empfang genommen hat, denn dann war das Kind nicht unbegleitet. Demgegenüber ist die Voraussetzung, dass sich kein sorgerechtsberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält, jedenfalls auch dann erfüllt, wenn ein Elternteil zeitgleich oder in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem anderen Elternteil den Lebensmittelpunkt ins Bundesgebiet verlagert.[4] Als noch in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang wird es angesehen, wenn der zweite Elternteil noch innerhalb von drei Monaten nach Einreise des ersten Elternteils nachzieht. Sofern die Einreise des ersten Elternteils vor länger als drei Monaten stattgefunden hat, besteht die Gefahr dass der Nachzug des zweiten Elternteils nicht gewährt wird.[5]

Weiterführendes Wissen

Sind die Eltern der minderjährigen Referenzperson geschieden, wird für die Erteilung eines Visums nach § 6 III AufenthG i. V. m. § 36 I AufenthG grundsätzlich ein bestehendes Sorgerecht des den Nachzug begehrenden Elternteils vorausgesetzt, welches auch tatsächlich ausgeübt werden muss. Beruht das Recht zur Personensorge auf der Entscheidung einer ausländischen Behörde, ist vorauszusetzen, dass sie im Bundesgebiet anzuerkennen ist (z.B. nach dem Haager Minderjährigenschutzübereinkommen bzw. dem Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern). Hat das Kind mittlerweile seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, ist hinsichtlich der Sorgerechtsentscheidung deutsches Recht anzuwenden. Danach bleibt es nach der Scheidung grundsätzlich beim gemeinsamen Sorgerecht.

Im Einzelfall kann der Nachzug eines nicht personensorgeberechtigten Elternteils gemäß § 36 I AufenthG erfolgen. Hierfür ist jedoch ein Nachweis der Übernahme tatsächlicher Verantwortung für das Kind und einer engen familiäreren Beziehung erforderlich und es bedarf einer einzelfallbezogenen Prüfung. Insofern stellt § 36 I eine speziellere Regelung im Verhältnis zu Härtefallregelungen wie § 36 II AufenthG dar.

O ist unbegleitet in das Bundesgebiet eingereist. Der Nachzug beider personensorgeberechtigter Elternteile soll nunmehr zeitgleich erfolgen. Die Eltern beabsichtigen nach Einreise auch die Wiederaufnahme der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Kind.

Unschädlich für den Nachzugsanspruch des O ist zudem, dass er sich im Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet in Begleitung seines Onkels befand. Ein Nachzug minderjähriger sonstiger Familienangehöriger zu Verwandten in gerader aufsteigender Linie kommt ausnahmsweise nur in Betracht, wenn sie Vollwaisen sind (zum Beispiel Enkelkinder zu Großeltern) oder wenn die Eltern nachweislich auf Dauer nicht mehr in der Lage sind, die Personensorge auszuüben (zum Beispiel wegen einer Pflegebedürftigkeit).[6]

3. Minderjährigkeit der stammberechtigten Person Bearbeiten

Der Nachzugsanspruch aus § 36 I AufenthG setzt die Minderjährigkeit des Kindes voraus. Die Minderjährigkeit berechnet sich nach deutschem Recht und endet mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Ob die Referenzperson als minderjährig gilt, wenn sie zum Zeitpunkt der Visumsbeantragung der Eltern noch minderjährig war oder ob sie noch bis zur Einreise der Eltern in das Bundesgebiet weiterhin minderjährig sein muss war lange Zeit höchst strittig (s. hierzu Abwandlungen unten).[7]

Im vorliegenden Fall kann der Meinungsstreit über den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt außen vor gelassen werden. O hat erst das 15. Lebensalter vollendet und ist damit minderjährig.

4. Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen Bearbeiten

Der Nachzugsanspruch gemäß § 36 I AufenthG besteht, wie oben dargestellt, unabhängig von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 I Nr. 1 AufenthG und des ausreichenden Wohnraums gemäß § 29 I Nr. 2 AufenthG.

Allerdings müssen unter anderem die Identitäten und Staatsangehörigkeiten der nachzugswilligen Eltern geklärt sein (§ 5 I Nr. 1a AufenthG) und zum anderen grundsätzlich auch die Passpflicht gemäß § 3 AufenthG durch ebendiese erfüllt sein (§ 5 I Nr. 4 AufenthG).[8]

O's Eltern sind im Besitz von syrischen Reisepässen und Personenstandsurkunden (siehe hierzu genauer sogleich unter Abschnitt III.2.).

III. Faktische Voraussetzungen Bearbeiten

1. Beantragung der Visa Bearbeiten

In der Praxis wird bisher vielfach die persönliche Vorsprache zur Antragstellung bei einer deutschen Auslandsvertretung verlangt. Allerdings ist inzwischen in der Rechtprechung geklärt, dass Visumsanträge grds. auch formlos – etwa per E-Mail – bei der jeweiligen Auslandsvertretung gestellt werden können.[9] Daher können etwaige Fristen mit einem formlosen Antrag gewahrt werden. In der Folge der Antragstellung ist in der Praxis die Vorsprache stets Voraussetzung für die Erteilung eines Visums.

Die Eltern des O haben bei der zuständigen Auslandsvertretung Anträge zur Erteilung von Visa zu stellen. Dabei haben sie auch zu beachten, dass bei der Antragstellung eine Antragsgebühr in bar, aktuell i.H.v. 75,00 Euro pro Person, zu zahlen ist.

2. Terminregistrierung/-buchung Bearbeiten

Abhängig von der für die Nachzugswilligen zuständigen Auslandsvertretung, kommt entweder eine Buchung eines konkreten Termins zur Vorsprache bei der Auslandsvertretung oder eine Registrierung für eine Terminvergabe in Betracht. Einige Auslandsvertetungen beauftragen für die Terminvergabe externe Dienstleistungsunternehmen (u.a. iDATA[10], VFS-Global[11]).

3. Zuständige Auslandsvertretung Bearbeiten

In der Regel ist die Auslandsvertretung des Landes für den Nachzugswilligen zuständig, in der dieser seinen regelmäßigen Wohnsitz hat (dies wird für üblich ab einem Aufenhalt von sechs Monaten bejaht).

Weiterführendes Wissen

§ 71 II AufenthG regelt die örtliche Zuständigkeit deutscher Auslandsvertretungen nicht im Einzelnen und über die Aussage hinaus, dass diese grundsätzlich im Ausland für Pass- und Visaangelegenheiten zuständig sind.

Über die Erteilung eines Visums entscheiden die deutschen Auslandsvertretungen, in deren Amtsbezirk die antragstellende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.[12] Hierzu haben Antragstellende im Zweifel geeignete Nachweise zu erbringen, ansonsten kann die Annahme des Antrags verweigert werden.

Zur Definition des „gewöhnlichen Aufenthalts“ gilt in Anlehnung an § 3 I Nr. 3 lit. a VwVfG Folgendes: Es kommt darauf an, ob die betreffende Person sich an einem Ort oder in einem Gebiet unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilt, vgl. Ziff. 71.1.2.2 VwV-AufenthG. Von einer solchen Verfestigung ist dann auszugehen, wenn sich die betreffende Person bereits seit sechs Monaten an dem Ort aufhält oder voraussichtlich aufhalten wird. Dies gilt auch für Personen, die sich irregulär dort aufhalten. Wird eine Registrierung des UNHCR vorgelegt, ist in der Regel davon auszugehen, dass der gewöhnliche Aufenthalt gegeben ist.[13]

Es bestehen Sonderzuständigkeiten, wenn es im Land des Wohnsitzes keine deutsche Auslandsvertretung gibt.

Weiterführendes Wissen

Im Aufenthaltsgesetz ist die Ermächtigung einer örtlich unzuständigen Auslandsvertretung nicht geregelt. Nach Ziffer 71.2.2 VwV-AufenthG kann ein Visum mit Ermächtigung der zuständigen Auslandsvertretung oder des Auswärtigen Amts ausnahmsweise auch von einer anderen als der für den gewöhnlichen Aufenthaltsort der betreffenden Person zuständigen Auslandsvertretung erteilt werden. Diese Ermächtigung erfolgt formlos und sollte aus rechtsstaatlichen Gründen flexibel gehandhabt werden. Unterhält Deutschland in einem Drittstaat keine Auslandsvertretung oder verfügt diese über keine Visastelle, wird die Vertretung für die Erteilung nationaler Visa im Regelfall durch eine Auslandsvertretung (sog. Service-Vertretung) in einem Nachbarland wahrgenommen.[14]

4. Dokumente aus dem Herkunftsland Bearbeiten

Welche Dokumente als Nachweis der Identität bzw. der familiären Beziehung zur stammberechtigten Person vorzulegen sind, ist abhängig vom Herkunftsland und den Anforderungen, die die zuständige deutsche Auslandsvertretung hierfür stellt.[15] Informationen zu den erforderlichen Dokumenten können bei den meisten Auslandsvertretungen auf ihren jeweiligen Webseiten aufgerufen werden. Im Übrigen können für Informationen zum Visaverfahren auch die von den Auslandsvertretungen beauftragten externen Dienstleistungsstellen kontaktiert werden.[16]

Im vorliegenden Fall sind die Eltern des O im Besitz von Geburtsurkunden und dem Familienregisterauszug – jeweils im Original. Die Originaldokumente bedürfen eines Überbeglaubigungsvermerks durch das syrische Außenministerium. Sie müssen jeweils mit einer von einem beeidigten Übersetzer angefertigten deutschen Übersetzung verbunden werden. Die Familie muss darauf hingewiesen werden, dass der Auszug aus dem Familienregister nicht älter als sechs Monate sein darf. Die Dokumente müssen von der deutschen Botschaft in Beirut vor Antragstellung legalisiert werden. Pro Urkunde fällt hierfür eine Gebühr an. Die Botschaft in Beirut ist aktuell für die Legalisation syrischer Urkunden allein zuständige deutsche Auslandsvertretung.[17]

5. Reisekosten Bearbeiten

Die Eltern des O sind darauf hinzuweisen, dass sie die Reisekosten für den Nachzug nach Deutschland zu tragen haben. Finanzielle Unterstützung kann bei Wohlfahrtsverbänden, Flüchtlingsräten oder anderen Organisationen am Aufenthaltsort der stammberechtigten Person erfragt werden.

IV. Verfahrensablauf Bearbeiten

Das Visumsverfahren ist in der Praxis oft langwierig.[18] Im vorliegenden Fall müssen sich die Eltern des O in der Türkei über die Visaserviceagentur iDATA gebührenpflichtig für Termine registrieren und auf eine Terminzuweisung warten. Während dieser Wartezeit sollte die Familie die für das Visaverfahren erforderlichen Unterlagen vorbereiten.

Anschließend prüft die Auslandsvertretung alle auslandsbezogenen Voraussetzungen, wie etwa die Identität der Antragstellenden und das Vorliegen der Dokumente aus dem Herkunftsland. Die Auslandsvertretung ist auch zuständig für die Überprüfung der Echtheit der Dokumente bzw. der gemachten Angaben gegebenenfalls durch Beauftragung sogenannte „Vertrauensanwält*innen“.[19]

Im nächsten Schritt prüft die zuständige Ausländerbehörde, ob die inlandsbezogenen Voraussetzungen, wie etwa das Vorliegen der erforderlichen Aufenthaltserlaubnis der stammberechtigten Person ebenfalls vorliegen. Sofern diese Voraussetzungen vorliegen, übermittelt die Ausländerbehörde ihre Zustimmung an die Auslandsvertretung. Diese hat die Letztentscheidungskompetenz zur Erteilung des Visums.

V. Ergebnis Bearbeiten

Die Eltern des O. haben einen Anspruch auf Erteilung jeweils eines Visums zum Zwecke des Familiennachzugs zu ihrem Sohn. Das Visum wird erteilt, sofern die oben bezeichneten Unterlagen vorliegen und das Verfahren wie oben ausgeführt durchgeführt wird.

B. Abwandlungen Bearbeiten

I. Abwandlung 1: Drohende Volljährigkeit im Laufe des Visumverfahrens Bearbeiten

In Bezug auf die meisten Voraussetzungen kann auf den obenstehenden Lösungsvorschlag verwiesen werden. In der Abwandlung stellen sich die folgenden Punkte anders dar: In der vorliegenden Abwandlung ist O zum Beratungszeitpunkt 17 Jahre und 90 Tage alt. Aufgrund der langen Verfahrenszeiten in Familiennachzugsfällen zu Stammberechtigten mit einem humanitären Aufenthalt droht der Eintritt der Volljährigkeit noch bevor das Verfahren einen positiven Abschluss findet und die beantragten Visa für die Eltern erteilt werden.

1. Beurteilungszeitpunkt Minderjährigkeit Bearbeiten

Nach der bis August 2022 bestehenden Verwaltungspraxis und Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hätte die Familie zu befürchten gehabt, dass den Eltern nach Eintritt der Volljährigkeit keine Visa mehr erteilt werden würde.

Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erlosch nämlich der Anspruch auf Nachzug der Eltern zur unbegleiteten minderjährigen Referenzperson nach § 36 I AufenthG in dem Zeitpunkt, in dem das Kind volljährig wird.[20] Mit anderen Worten musste das stammberechigte Kind noch zum Zeitpunkt der Einreise der Eltern minderjährig sein.

Demgegenüber hat der EuGH mit grundlegenden Urteilen in den Rechtssachen „A und S“ zum Elternnachzug[21] und „B.M.M. u.a.“ zum Kindernachzug [22] in Vorlageverfahren aus den Niederlanden und aus Belgien entschieden, dass Art. 2 lit. f i.V.m. Art. 10 Abs. III lit. a Familienzusammenführungs-RL dahin auszulegen ist, dass eine Person, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise und Asylantragstellung unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und der später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „minderjährig“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.[23]

Das Auswärtige Amt vertrat bis zum jetzigen Zeitpunkt die Auffassung, dass die Auslegung des EuGH den Besonderheiten des niederländischen Rechts geschuldet und demnach nicht auf die deutsche Rechtslage anwendbar sei. Die Niederlande hätten im Gegensatz zu Deutschland von der Möglichkeit des Art. 15 Abs. 2 Familienzusammenführungs-RL Gebrauch gemacht, den nachgezogenen Eltern nach Eintritt der Volljährigkeit des Kindes ein eigenständiges Aufenthaltsrecht einzuräumen.

Das Bundesverwaltungsgericht beschloss daher weitere Verfahren zum Elternnachzug, die bei ihm anhängig waren, auszusetzen und gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.[24] Bis zur erneuten Klärung durch den EuGH hatte das Auswärtige Amt seine Visastellen daraufhin angewiesen, Visumsanträge zum Elternnachzug zu Kindern, die zum Einreisezeitpunkt der Eltern volljährig sein würden, „ruhend“ zu stellen.[25]

Am 1.8.2022 hat der EuGH nunmehr entschieden, dass das Recht auf die Familienzusammenführung von Eltern und Kindern auch dann bestehen bleibt, wenn das Kind im Laufe des Familiennachzugs-Verfahrens volljährig wird.[26] Der EuGH hat die Auffassung des Auswärtigen Amtes und des BVerwG damit ausdrücklich zurückgewiesen und die Auffassung des VG Berlin und des OVG-Berlin-Brandenburg bestätigt.[27]

Das Auswärtige Amt setzte in einer Weisung vom 9. September 2022 (Gz.: 508-543.53/2) die Rechtsprechung des EuGH nunmehr um.[28] Dabei weist es seine Visastellen unter anderem wie folgt an:

Bei Visumsanträgen zum Elternnachzug zu Kindern, bei denen das Kind bei der Entscheidung über den Visumsantrag der Eltern nicht mehr minderjährig ist, gilt das Kind dennoch als minderjährig im Sinne von § 36 AufenthG, wenn

- das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrags minderjährig war, und

- das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrags unbegleitet war, und

- der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung des Kindes gestellt worden ist.[29]

2. Frist zur Nachzugsbeantragung nach Eintritt der Volljährigkeit Bearbeiten

Grundsätzlich ist nach deutschem Recht eine sogenannte fristwahrende Anzeige im Falle des Familiennachzugs zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen keine rechtliche Voraussetzung für den (privilegierten) Familiennachzug (siehe oben Abschnitt A.I.). Der EuGH hat jedoch in seinen oben zitierten Entscheidungen ausgeführt, dass es mit dem Ziel von Art. 10 III lit. a Familienzusammenführungs-RL unvereinbar wäre, wenn eine Person, die zum Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung noch „unbegleitet minderjährig“ war, aber während des Verfahrens volljährig geworden ist, ohne jede zeitliche Begrenzung auf diese Vorschrift berufen könnte, um eine Familienzusammenführung zu erwirken. Vielmehr müsse die Familienzusammenführung innerhalb einer „angemessenen Frist“ beantragt werden.

Laut EuGH könne zur Bestimmung einer solchen angemessenen Frist die im ähnlichen Kontext von Art. 12 I UAbs. III Familienzusammenführungs-RL gewählte Lösung als Hinweis dienen. Der auf der Grundlage von Art. 10 III lit. a Familienzusammenführungs-RL eingereichte Nachzugsantrag sei daher in einer solchen Situation grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen, an dem die Referenzperson als Flüchtling anerkannt worden ist.[30]

Auch nach der bereits oben zitierten Weisung des Auswärtigen Amtes vom 9. September 2022 (Gz.: 508-543.53/2) muss der Visumantrag (von den Eltern, dem Kind selbst oder dessen Vormund) innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Kindes als Flüchtling gestellt worden sein.Wurde der Visumantrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung gestellt und war das Kind beim Visumantrag volljährig, sei der Antrag abzulehnen.[31]

Daher ist den Ratsuchenden zu raten, einen diese Frist wahrenden Antrag binnen drei Monaten nach unanfechtbarer Schutzgewährung bei der zuständigen Auslandsvertretung - möglichst per Fax - zu stellen und die Sendebestätigung als Nachweis gut aufzubewahren.

Weiterführendes Wissen

In besonderen Fallkonstellationen, wie bei humanitären oder medizinischen Notfällen, können die deutschen Auslandsvertretungen, unter Einhaltung bestimmter Bedingungen, Sonder-/Vorzugstermine vergeben. Sofern ein solcher Umstand gegeben sein sollte, ist die Anfrage eines Sondertermins per E-Mail unter Zusendung von entsprechenden Nachweisen in Form von ärztlichen Attesten oder anderen Beweismitteln bei der zuständigen Auslandsvertretung ratsam.

3. Rechtsmittel Bearbeiten

Im Falle des drohenden Eintritts der Volljährigkeit im Visumverfahren kann auch die Geltendmachung des Nachzugsanspruchs vor Gericht angebracht sein. Die frühzeitige Einlegung eines Antrags auf einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO vor dem Eintritt der Volljährigkeit der unbegleiteten minderjährigen Referenzperson ist in Anbetracht der aktuellen Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg und des VG Berlin ratsam. Bei Vorliegen auch aller weiteren Voraussetzungen würde der Erfolg solch eines Eilantrags zu der Verpflichtung der Auslandsvertretung führen, das Visum rechtzeitig vor Eintritt der Volljährigkeit zu erteilen.

Nach der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg gilt dies in Konstellationen, in denen der Antrag auf Familiennachzug nach Abschluss des Asylverfahrens der unbegleiteten minderjährigen Referenzperson und vor Eintritt der Volljährigkeit gestellt worden ist, die Volljährigkeit aber im Laufe des Visumsverfahrens eintritt.[32]

Das OVG Berlin-Brandenburg zieht daraus den Schluss, dass deshalb die Notwendigkeit einer einstweiligen Regelung nicht entfallen sei, weil der Anspruch auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH bis zur gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache fortbestehe und nicht mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes erlösche.[33] Denn das Bundesverwaltungsgericht habe seine oben dargelegte Rechtsprechung auch in Ansehung der EuGH-Rechtsprechung bisher nicht geändert. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass es dem EuGH diese Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Eine Änderung der Rechtsprechung des BVerwG lasse sich nicht sicher prognostizieren, dass die Betroffenen in Eilverfahren auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden könnten.[34] So würden die Betroffenen das Risiko, dass sich die Prognose einer Rechtsprechungsänderung als unzutreffend erweist. Dies ließe sich mit ihrem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV 1 GG) nicht vereinbaren.

Es ist jedoch zu beachten, dass auch eine andere Auffassung vertreten und die Notwendigkeit einer einstweiligen Regelung nicht mehr für erforderlich gehalten wird, da der Anspruch auf Familiennachzug unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH bis zur gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache fortbestehe und nicht mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes erlösche.[35]

II. Abwandlung 2: Eintritt der Volljährigkeit im Laufe des Asylverfahrens Bearbeiten

Diese Fallkonstellation unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der Konstellation, in der der Eintritt der Volljährigkeit erst im anhängigen Visumverfahren droht. Jedoch ist auch hier zu beachten, dass vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung des EuGH und der Weisungslage des Auswärtigen Amtes der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Anerkennung der ehemals unbegleiteten minderjährigen Person bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellt werden sollte.

Weiterführende Literatur Bearbeiten

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Inhaltsverzeichnis des Buches Bearbeiten

§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

Fußnoten Bearbeiten

  1. Zu den Erteilungsvoraussetzungen beim Familiennachzug siehe auch Fall Nr. 37 "Die kleine Delina will zu ihrer Mutter", Abschnitt A.I.
  2. Vgl. BVerwG, Urteil v. 18.04.2013 – 10 C 9.12, Rn. 16, asyl.net: M20813.
  3. Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG vom 22.9.2003.
  4. Vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 176
  5. In entsprechender Heranziehung von Nr. 32.1.3.1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz ist eine Anordnung des Bundesministeriums des Innern vom 26.10.2009 (AVV-AufenthG): asyl.net unter „Recht“ / „Gesetzestexte“ / „Erlasse/Behördliche Mitteilungen“.
  6. Nach Oberhäuser, in HK-AuslRecht, § 36, Rn. 9, sollen auch Großeltern nachzugsberechtigt sein; andere Auffassung: Heinhold, ZAR 2012, 142. Nach Art. 10 Abs. 3 lit. b Familienzusammenführungs-RL kann der Vormundsperson von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen oder einem anderen Familienmitglied eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilt werden. Diese Öffnungsklausel wurde von Deutschland allerdings noch nicht in nationales Recht umgesetzt.
  7. Inzwischen hat das Auswärtige Amt seine Weisungen aufgrund von EuGH Rechtsprechung angepasst. Siehe hierzu asyl.net Meldung.
  8. Siehe zu diesen Voraussetzungen ausführlich den Fall Nr. 37 "Die kleine Delina will zu ihrer Mutter".
  9. Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.1.2022 – OVG 3 M 185/20, Rn. 3 f., asyl.net: M30369; Beschl. v. 25.8.2020 – OVG 12 B 18.19, Rn. 22, asyl.net: M30105.
  10. So für die Türkei: https://idata.com.tr/de/de/p/terminvereinbarung-de
  11. So für den Irak: https://visa.vfsglobal.com/irq/en/deu
  12. Ziff. 71.2.1 Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz des Bundesinnenministeriums (VwV-AufenthG)
  13. Vgl. Auswärtiges Amt, Visumshandbuch, Stand: August 2020, 72. Ergänzungslieferung, S. 580 ff.
  14. Vgl. Auswärtiges Amt, Visumshandbuch, Stand: August 2020, 72. Ergänzungslieferung, S. 580 ff.
  15. Siehe zu diesen Voraussetzungen ausführlich den Fall Nr. 37 "Die kleine Delina will zu ihrer Mutter". Vgl. dort zitiert EuGH, Urt. v. 13.3.2019 - C-635/17 E gg. Niederlande, asyl.net: M27392; Ujkasevic, Asylmagazin 6-7/2020, S. 205; Ujkasevic, NVwZ 2021, S. 620
  16. So wurde die IOM vom Auswärtigen Amt damit beauftragt, Antragstellende und die Auslandsvertretungen im Rahmen des »Family Assistance Programme« (kurz: FAP) in Beirut, Amman, Erbil, Istanbul, Kairo, Kabul, Addis Abeba, Khartoum und Nairobi bei der Durchführung der Familiennachzugsverfahren zu unterstützen, vgl. IOM.
  17. Zur Zumutbarkeit dieser Anforderungen, siehe den Fall Nr. 37 "Die kleine Delina will zu ihrer Mutter".
  18. Ausführlich zum Ablauf des Visumsverfahrens siehe familie.asyl.net unter "Außerhalb Europas" / "Verfahren".
  19. Siehe hierzu ausführlich den Fall Nr. 37 "Die kleine Delina will zu ihrer Mutter".
  20. Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.4.2013 - 10 C 9/12, Rn. 17, asyl.net: M20813.
  21. EuGH, Urt. v. 12.4.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff., asyl.net: M26143.
  22. EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-133/19, C-136/19, C-137/19 B.M.M. u.a. gg. Belgien, asyl.net: M28868.
  23. Siehe hierzu ausführlich: Habbe, Asylmagazin 5/2018, 149-153.
  24. BVerwG, Beschl. v. 23.4.2020 - 1 C 9.19, 1 C 10.19, asyl.net: M28542
  25. Siehe hierzu Weisung des Auswärtigen Amtes vom 7.12.2021, Gz.: 508-2-543.53/2, abrufbar unter: https://www.fluechtlingsrat-thr.de/sites/fluechtlingsrat/files/pdf/Familiennachzug/2022%2011%2029_AA_Weisung-zur-umsetzung-der-eugh-urteile-zum-familiennachzug.pdf
  26. EuGH, Urt. v. 1.8.2022, Az.: C 273/20 und C 355/20; EuGH, Urt. v. 1.8.2022, Az.: C 279/20.
  27. Siehe hierzu https://www.asyl.net/view/eugh-urteile-minderjaehrigkeit-bei-antragstellung-ist-im-familiennachzugsverfahren-massgeblich
  28. Vgl. Weisung vom 9. September 2022 (Gz.: 508-543.53/2), abrufbar unter: https://www.asyl.net/rsdb/m31184
  29. Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung auf asyl.net.
  30. EuGH, Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff., asyl.net: M26143. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 4.9.2018, OVG 3 S 47.18, OVG 3 M 52.18, Rn. 6, asyl.net: M26617.
  31. Vgl. Weisung vom 9. September 2022 (Gz.: 508-543.53/2), abrufbar unter: https://www.asyl.net/rsdb/m31184
  32. Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.5.2019 - 3 B 1.19 - Rn. 27 ff., 37, juris
  33. So noch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 4.9.2018 - OVG 3 S 47.18, OVG 3 M 52.18, Rn. 6, asyl.net: M26617 und VG Berlin, Beschluss vom 18. Januar 2021 - 8 L 18/21 - Rn. 4 f., juris
  34. So auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 4.12.2020 - 6 N 102/20.
  35. Vgl. VG Berlin, Beschluss vom 18. Januar 2021 - 8 L 18/21, Rn. 9