Autorin: Camilla Schloss

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Behandelte Themen: Abschiebungsverbot nach § 60 V AufenthG, humanitäre Lage im Herkunftsland

Zugrundeliegender Sachverhalt: Allgemeine Lebensbedingungen

Schwierigkeitsgrad: Fortgeschrittene

A. Allgemeines: Anforderungen des zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 V AufenthG

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Nach § 60 V AufenthG darf eine antragstellende Person nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung eines Antragstellers ist nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere dann mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der tatsächlichen Gefahr („real risk“) der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre. Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen, wobei dies nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt, in denen die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind.[1] Dabei kommt es darauf an, ob sich die betreffende Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.[2] Es ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen, wobei zunächst zu prüfen ist, ob solche Umstände an dem Zielort der Abschiebung vorliegen.[3]

Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt (§ 77 I AsylG).

B. Ausgangsfall: Prüfung der Lage im Herkunftsland

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Um zu prüfen, ob ein Abschiebungsverbot nach den oben benannten Maßstäben festzustellen ist, müssen die relevanten Lebensverhältnisse in F analysiert werden. Hierbei sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen.[4]

Zur Analyse der Lage werden Erkenntnismittel herangezogen, etwa der Lagebericht des Auswärtigen Amtes, UNHCR-Richtlinien, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, der Weltbank, etc. Diese Erkenntnismittel werden - zur Wahrung des Gebots des rechtlichen Gehörs - in der Regel vom Gericht im Wege der Übersendung einer Erkenntnismittelliste in das Verfahren eingeführt.[5] Analysiert werden - je nach Situation im Herkunftsland - zum Beispiel folgende Faktoren: allgemeine wirtschaftliche Lage, Investitionstätigkeit, Wirtschaftswachstum, Bruttonationaleinkommen, Armutsrate, Struktur des Arbeitsmarktes (Tagelöhnerarbeit, Stellung für gelernte und ungelernte Arbeitskräfte), Zugang zum Arbeitsmarkt (Bedeutung von Netzwerken), Migrationsbewegungen im Herkunftsland, Binnenvertriebene, Sicherheitslage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen, insbesondere Dürre und Überschwemmungen,[6] und Rückkehrhilfen internationaler Einrichtungen und der Bundesrepublik Deutschland.

In der Regel wird sich die humanitäre Lage nicht auf jede Person im Herkunftsland gleich auswirken; die individuellen Umstände von A sind mit zu berücksichtigen. Es ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. [7] Folgende gefahrerhöhende individuelle Umstände beziehungsweise besondere günstige Merkmale des Klägers können zum Beispiel eine Rolle spielen: [8] familiäres oder soziales Netzwerk im Herkunftsland, finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte im Herkunftsland oder auch in anderen Staaten, eigenes Vermögen, besondere Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, Volkszugehörigkeit, fachliche Qualifikation und Berufserfahrung sowie, ob der Kläger im Herkunftsland sozialisiert ist.

Im Falle des A ist unter Umständen zu berücksichtigten, dass er keine Schulausbildung hat und seine Berufserfahrung sich im Wesentlichen auf Tagelöhnerarbeit in der Baubranche beschränkt, sodass seine Arbeitsmöglichkeiten - je nach Arbeitsmarktlage in F - eingeschränkt sein könnten.

C. Abwandlung

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I. Familiäres Netzwerk im Herkunftsland

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Für A könnte es je nach Situation in F schwerer sein, seinen Lebensunterhalt im Falle einer Rückkehr zu sichern, weil er kein familiäres Netzwerk dort hat. Da er F zudem im Kleinkindalter verlassen hat, könnte hinzukommen, dass er in F nicht sozialisiert ist, wobei dies unterschiedlich zu bewerten sein dürfte, je nachdem wie unterschiedlich F und G etwa hinsichtlich ihrer Kultur und Sprachen sind.[9]

II. Krankheiten

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Negativ auf die Leistungsfähigkeit des A könnten sich etwaige Krankheiten auswirken - je nach Situation im Heimatland und Art und Schwere der Krankheit, da A etwa Arbeiten auf dem Bau als Tagelöhner gar nicht verrichten oder sich nicht gegenüber anderen Arbeitssuchenden durchsetzen können wird. A müsste seine Erkrankung hinreichend dargelegt haben. Ob die Maßstäbe des § 60a IIc AufenthG heranzuziehen sind (vgl. anschließender Fall), ist noch nicht abschließend geklärt. [10]

Krankheiten können im Rahmen der Prüfung von § 60 V AufenthG also dergestalt eine Rolle spielen, dass sie negative Auswirkungen auf die humanitäre Lage des A haben. Unabhängig von der humanitären Lage können Krankheiten zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 VII AufenthG führen – allerdings nur unter hohen Voraussetzungen (unter anderem muss eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung vorliegen).

III. Gelebte Kernfamilie

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Der Umstand, dass A Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Familienangehörigen hat, ist bei der Gesamtwürdigung aller Umstände zu berücksichtigen.

Für die Gefahrenprognose ist von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der - wenngleich hypothetischen - Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie (Eltern mit ihren minderjährigen Kindern) im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehrt. Art. 6 GG enthält nämlich als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Dies gilt auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden ist.[11]

Dies entbindet mit Blick auf § 60 V AufenthG und Art. 3 EMRK aber nicht vom Erfordernis, die Gefahrenprognose unter Würdigung aller Umstände des konkreten Falles vorzunehmen. Dabei spielen der tatsächliche Unterhaltsbedarf der Familienangehörigen, das Vorhandensein von Vermögen, die bisherige Form der Bedarfsdeckung sowie die Bereitschaft Dritter (insbesondere naher Familienangehöriger), erforderlichenfalls zur Bedarfsdeckung beizutragen, eine wichtige Rolle. [12]

IV. Covid-19 Pandemie

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Negative Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, wie etwa die Covid-19 Pandemie, können zu einer anderen Bewertung der humanitären Lage in F führen.

So hat zum Beispiel für Afghanistan der VGH Baden-Württemberg im Dezember 2020 entschieden, dass er zumindest vorerst nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung zu Afghanistan festhält. Derzeit seien angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der Covid-19 Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 V AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. [13]

Es gilt also immer, die aktuelle humanitäre Lage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung beziehungsweise schriftlichen Entscheidung zu prüfen (§ 77 I AsylG).

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Bluesky oder X oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

Fußnoten

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  1. Vgl. EGMR, Urt. v. 29.01.2013, S.H.H./Vereinigtes Königreich, Nr. 60367/10, Rn. 75; BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, Az.: 1 B 2.19, Rn. 6, BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, Az.: 10 C 15.12, Rn. 25; VGH BW, Urt. v. 17.12.2020, Az.: A 11 S 2042/20, Rn. 22.
  2. Vgl. EuGH, Urt. v. 19.3.2019, Az.: C-163/17, Tz. 92; EuGH, Urt. v. 19.3.2019, Az.: C-297/17, Tz. 89 ff.
  3. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, Az.: 10 C 15.12, Rn. 26 m.w.N.
  4. Vgl. VGH BW, Urt. v. 17.12.2020, Az.: A 11 S 2042/20, Rn. 26, 36.
  5. Vgl. VGH Bayern, Beschl. v. 29.9.2020, Az.: 24 ZB 20.31723.
  6. Zur Relevanz von § 60 V AufenthG für Klimamigration: Schloss, Klimamigration, BDVR-Rundschreiben 3, 2021, S. 4 ff. und Schloss, The Role of Environmental Disasters in Asylum Cases, in: Behrman/Kent, Climate Refugees, CUP, 2022, S. 261 ff.
  7. BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, Az.: 1 B 2.19, Rn. 6.
  8. Vgl. etwa zur unterschiedlichen Bewertung der relevanten Kriterien in Afghanistan: Vgl. VGH BW, Urt. v. 17.12.2020, Az.: A 11 S 2042/20, Rn. 10f ff.; OVG Bremen, Beschl. v. 23.4.2021, Az.: 1 LA 76/20, Rn. 8 - juris.
  9. Vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 25.3.2021, Az.: 1 Bf 388/19.A, Rn. 180 ff.
  10. Vgl. OVG BB, Beschl. v. 16.7.2020, Az.: 12 N 144.19, Rn. 3.
  11. BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, Az.: 1 C 45/18, Rn. 15 ff.
  12. VGH BW, Beschl. v. 7.5.2020, Az. A 11 S 2277/19, Rn. 10 ff.
  13. VGH BW, Urt. v. 17.12.2020, Az.: A 11 S 2042/20, Rn. 104 ff.; andere Ansicht VGH Bayern, Urt. v. 7.6 2021, Az.: 13a B 21.30342; OVG Bremen, Beschl. v. 23.4.2021, Az.: 1 LA 76/20 - juris.