Familie Nkrumah Lösung
Autorin: Rhea Nachtigall
Behandelte Themen: Rechtsstellung im Asylverfahren, sichere Herkunftsstaaten, Wohnverpflichtung, Arbeitsmarktzugang, Integrationskurse, Studium, Anspruchsduldung, Ermessensduldung
Zugrundeliegender Sachverhalt: Familie Nkrumah
Schwierigkeitsgrad: Anfänger*innen/Fortgeschrittene
A. Fallfrage 1: Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung
BearbeitenFraglich ist, ob die Familie Nkrumah einen Anspruch darauf hat, aus der Aufnahmeeinrichtung entlassen zu werden. Dies wäre der Fall, wenn sie nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Die Wohnverpflichtung von Asylsuchenden ist in den §§ 47 ff. AsylG geregelt.
I. Grundsätzliche Höchstwohndauer
BearbeitenGemäß § 47 I 1 AsylG beträgt die Dauer der Wohnverpflichtung grundsätzlich maximal 18 Monate, bei minderjährigen Kindern und ihren Eltern maximal sechs Monate. Die Familie wohnt seit dem 14.5.2022 in der Aufnahmeeinrichtung in Spandau. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Entlassung aus der Einrichtung am 20.2.2023 wohnt die Familie somit seit neun Monaten in der Aufnahmeeinrichtung. Da M und V eine zweijährige Tochter T haben, gilt grundsätzlich die Höchstwohndauer von sechs Monaten. Etwas Anderes könnte sich aber daraus ergeben, dass sie aus Ghana stammen, einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat.
Das Herkunftsland der asylsuchenden Person(en) spielt nicht nur für das Asylverfahren selbst eine wichtige Rolle, sondern auch für die aufenthaltsrechtliche Stellung während des Asylverfahrens und nach einer etwaigen Ablehnung. Insbesondere, wenn Asylsuchende aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat im Sinne des Art. 16a III GG kommen, sind ihre Rechte während des Verfahrens stark eingeschränkt. Gemäß § 29a II AsylG zählen zu den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten alle EU-Mitgliedsstaaten sowie die in Anlage II zum AsylG aufgeführten Staaten. Zurzeit sind dies Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro, Senegal und Serbien.
II. Ausnahmen von der Höchstwohndauer für Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten
BearbeitenGemäß § 47 Ia 1 AsylG müssen Personen aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat abweichend von § 47 I AsylG bis zum Abschluss des Asylverfahrens in der Aufnahmeeinrichtung wohnen. Gemäß § 47 Ia 2 AsylG gilt dies jedoch nicht bei minderjährigen Kindern und ihren Eltern oder anderen Sorgeberechtigten sowie ihren volljährigen, ledigen Geschwistern. Da die M und V eine zweijährige Tochter haben, müssen sie also nicht bis zum Abschluss des Asylverfahrens in der Aufnahmeeinrichtung wohnen, obwohl sie aus dem sogenannten sicheren Herkunftsstaat Ghana stammen.
Neben der Ausnahmeregelung in § 47 Ia AsylG enthält auch § 47 I 3 AsylG Gründe für eine dauerhafte Wohnverpflichtung, insbesondere bei der Verletzung verschiedener Mitwirkungspflichten. Daneben sieht § 47 Ib AsylG vor, dass die Länder die Höchstwohndauer auf 24 Monate verlängern können. Auch wenn diese Regelung keine Ausnahme für Familien enthält, kann aus Kindeswohlgründen nichts anderes gelten als in den Fällen des § 47 I und Ia AsylG.[1] Für Berlin existiert eine derartige Regelung nicht.
III. Ergebnis
BearbeitenFamilie Nkrumah hat einen Anspruch darauf, aus der Aufnahmeeinrichtung entlassen zu werden.
B. Fallfrage 2: Beschäftigungserlaubnis
BearbeitenFraglich ist, ob M die Beschäftigungserlaubnis versagt werden darf, weil sie noch in der Aufnahmeeinrichtung wohnt.
I. Grundsatz des Beschäftigungsverbots während Wohnverpflichtung
BearbeitenGrundsätzlich bestimmt § 61 I 1 AsylG, dass Asylsuchende für die Dauer der Wohnverpflichtung einem Erwerbstätigkeitsverbot unterliegen.
II. Anspruch auf Beschäftigungserlaubnis nach neun Monaten
BearbeitenDavon abweichend hat die asylsuchende Person aber gemäß § 61 I 2 AsylG einen Anspruch auf die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis, wenn nach neun Monaten noch nicht über ihren Asylantrag entschieden wurde (Nr.1), die Bundesagentur für Arbeit der Erteilung zugestimmt hat (Nr. 2) und die asylsuchende Person nicht aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat stammt (Nr. 3). Demnach besteht für M, die aus dem sogenannten sicheren Herkunftsstaat Ghana stammt, kein Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis.
Der Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach neun Monaten beruht auf der unionsrechtlichen Vorgabe aus Art.15 I Aufnahme-RL.[2] Eine Ausnahme vom Anspruch auf Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten sieht die Aufnahme-RL nicht vor. Das Erwerbstätigkeitsverbot für Asylsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten nach neun Monaten ist damit klar unionsrechtswidrig und muss daher unangewendet bleiben, wenn innerhalb von neun Monaten noch keine Entscheidung über den Asylantrag ergangen ist.[3] Bisher liegt keine Entscheidung des EuGH zu dieser konkreten Konstellation vor; allerdings hat sich der EuGH in einem Urteil 2021 mit der Frage auseinander gesetzt, ob Asylsuchenden, für die nach der Dublin-III-VO die Zuständigkeit eines anderes Mitgliedstaats festgestellt wurde, der Arbeitsmarktzugang verweigert werden darf.[4] In dem Urteil stellte der EuGH ausdrücklich fest, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe allein keinen Ausschluss von unionsrechtlich vorgesehenen Rechten rechtfertigt und nahm eine Verletzung des Art. 15 I Aufnahme-RL an: "[D]er Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat gegebenenfalls mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen durch Drittstaatsangehörige konfrontiert sieht, [könne] den Erlass einer Maßnahme, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens der Betroffenen auf generalpräventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen", so der EuGH.[5] Es spricht daher Vieles dafür, dass der EuGH bezüglich des Arbeitsmarktverbots von Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, das ausweislich der Gesetzesbegründung ebenfalls auf generalpräventiven Zwecken beruht, entsprechend entscheiden würde.
III. Dauerhaftes Verbot der Erwerbstätigkeit für Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten
BearbeitenGemäß § 61 II 4 AsylG unterliegen Asylsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, die nach dem 31.8.2015 einen Asylantrag gestellt haben, einem dauerhaften Erwerbstätigkeitsverbot, unabhängig davon, ob sie dazu verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen oder nicht. M hat ihren Asylantrag am 14.7.2019 gestellt. Selbst wenn M also aus der Aufnahmeeinrichtung aus- und in die Wohnung ihrer Schwägerin einzöge, unterläge sie dem Verbot der Erwerbstätigkeit, wenn man nicht von der Unionsrechtswidrigkeit der Regelung ausgeht.
Im Falle der Ablehnung des Asylantrags und der Erteilung einer Duldung setzt sich das pauschale Erwerbstätigkeitsverbot im Übrigen für Geduldete aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten gemäß § 60a VI 1 Nr. 3 AufenthG fort.
C. Fallfrage 3: Studium
BearbeitenFraglich ist, ob M stattdessen ein Studium beginnen kann. Grundsätzlich haben alle Asylsuchenden, also auch solche, die einem Beschäftigungsverbot unterliegen, Zugang zu einem Studium.[6] Das Aufenthaltsrecht enthält hierzu keine weiteren Voraussetzungen. Die jeweilige Hochschule setzt jedoch voraus, dass sie über eine Hochschulzulassung (etwa Hochschulreife oder ein ausländisches Pendant[7]) verfügen und ein Deutschsprachniveau von etwa C1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens besitzen. Da M laut Sachverhalt bereits in Ghana studiert hat und ein Sprachniveau von C1 nachweisen kann, kann sie sich an der Freien Universität auf einen Studienplatz für VWL bewerben.
D. Fallfrage 4: Zulassung zum Integrationskurs für Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten
BearbeitenV könnte Zugang zu einem Integrationskurs gemäß § 44 AufenthG haben. Der Antrag auf Zulassung zu einem Integrationskurs ist gemäß §§ 5 I, 9 II Integrationskursverordnung[8] schriftlich beim BAMF zu stellen. Zwar hat V keinen Aufenthaltstitel, sodass er keinen Anspruch auf Teilnahme an einem Integrationskurs nach § 44 I AufenthG besitzt; er könnte jedoch im Rahmen der verfügbaren Plätze gemäß § 44 IV AufenthG zugelassen werden, wenn er die dort genannten Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Als Asylsuchender mit einer Aufenthaltsgestattung kann er gemäß § 44 IV 2 Nr. 1 AufenthG zum Integrationskurs zugelassen werden.
Seit dem 31.12.2022 steht der Zugang zu Integrationskursen allen Asylsuchenden offen.[9] Zuvor differenzierte § 44 IV 2 AufenthG hinsichtlich des Zugangs zwischen unterschiedlichen Gruppen von Asylsuchenden mit Aufenthaltsgestattung: Solche aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten waren ausdrücklich ausgeschlossen, da bei ihnen kein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt vermutet wurde. Bei der Voraussetzung des „rechtmäßigen und dauerhaften Aufenthalts“ handelt es sich um ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal, das auch als „gute Bleibeperspektive“ bezeichnet wird.[10] Aktuell findet sich das Kriterium der guten Bleibeperspektive noch beim Zugang von Asylsuchenden zu Arbeitsmarktintegrationsmaßnahmen (§ 39a S. 1 SGB III). Wann ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist, ist umstritten.
Als unbestimmtes Tatbestandsmerkmal, das nicht legaldefiniert wurde, unterliegt es der Auslegung durch die zuständige Behörde. In der Gesetzesbegründung heißt es, die gute Bleibeperspektive sei erfüllt bei Asylsuchenden, „die aus einem Land mit einer hohen Anerkennungsquote kommen oder bei denen eine belastbare Prognose für einen erfolgreichen Asylantrag besteht.“[11] Das BAMF beschränkt seine Prüfung jedoch darauf, ob die asylrechtliche Anerkennungsquote des Herkunftsstaats, dessen Staatsangehörigkeit die antragstellende Person innehat, bei über 50 Prozent liegt.
Diese Auslegung wird in Literatur und Rechtsprechung aus verschiedenen Gründen kritisiert.[12] Zunächst lässt das BAMF die zweite Alternative der Gesetzesbegründung (belastbare Prognose eines erfolgreichen Asylantrags) völlig außen vor. Die Formulierung der Erwartbarkeit eines dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalts legt eine umfassende Prüfung der Bleibeperspektive in jedem individuellen Fall jedoch gerade nahe.[13] Bei einer Entscheidung, die ausschließlich anhand der durchschnittlichen Anerkennungsquote eines Herkunftslands getroffen wird, findet diese individuelle Prüfung nicht statt. Darüber hinaus zieht das BAMF zur Berechnung der Anerkennungsquote die – allgemein deutlich niedriger liegende – sogenannte Gesamtschutzquote heran und nicht die sogenannte bereinigte Schutzquote. Die Gesamtschutzquote gibt an, wieviel Prozent aller Antragstellenden einen Schutzstatus erlangt haben, während die bereinigte Schutzquote bei der Berechnung nur solche Entscheidungen berücksichtigt, in denen tatsächlich inhaltlich über den Asylantrag entschieden wurde. Sie "bereinigt" die Gesamtzahl der getroffenen Entscheidungen also um die Fälle, in denen der Antrag zurückgenommen oder als unzulässig abgelehnt wurde, etwa, weil die Abschiebung der Person im Dublin-Verfahren angeordnet wurde. Diese Bereinigung erfolgt, weil formelle Entscheidungen in der Regel nichts über die materielle Aussicht des Asylantrags, also über die Sicherheit des Herkunftsstaates, aussagen. Die Auslegung des BAMF lässt zudem außer Acht, dass neben einem erfolgreichen Asylantrag auch zahlreiche andere Gründe dazu führen können, dass die betreffende Person dauerhaft beziehungsweise zumindest für einen längeren Zeitraum in Deutschland leben wird.
E. Abwandlung: Zulassung zum Integrationskurs für Geduldete
BearbeitenFraglich ist, ob V Zugang zu einem Integrationskurs gemäß § 44 IV 2 AufenthG hat, wenn sein Asylantrag abgelehnt wurde und er nunmehr Inhaber einer Duldung ist. Gemäß § 44 IV 2 Nr. 2 AufenthG kann geduldeten Personen Zugang zu einem Integrationskurs gewährt werden, allerdings nur dann, wenn sie eine Duldung nach § 60a II 3 AufenthG besitzen. Bei dieser Duldung handelt es sich um eine sogenannte Ermessensduldung, da die Duldung im Falle dringender humanitärer oder persönlicher Gründen oder erheblichen öffentlichen Interesses erteilt werden kann, dies also im Ermessen der Ausländerbehörde liegt. Laut Sachverhalt wurde V jedoch eine sogenannte Anspruchsduldung nach § 60a II 1 AufenthG erteilt. Eine solche ist zu erteilten, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist – hier besteht also kein Ermessen der Ausländerbehörde. V kann mangels Ermessensduldung also nicht zu einem Integrationskurs zugelassen werden.
Weiterführende Literatur
Bearbeiten- Tipps und Hinweise für Geflüchtete, die in Deutschland studieren wollen, finden sich hier.
- Zum Konzept der „guten Bleibeperspektive“: Voigt, Asylmagazin 2016, 245.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Bearbeiten- Asylsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten müssen während des Asylverfahrens grundsätzlich dauerhaft in Aufnahmeeinrichtungen wohnen – davon ausgenommen sind jedoch Familien mit minderjährigen Kindern.
- Seit dem 31.12.2022 haben sie Zugang zu staatlichen Integrationskursen, unterliegen aber einem Verbot der Erwerbstätigkeit. Soweit dieses auch nach neun Monaten während des Asylverfahrens fortbesteht, ist es jedoch unionsrechtswidrig.
- Asylsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten dürfen jedoch ein Studium aufnehmen.
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ So auch Judith, Asylmagazin 8-9 2019, 73 (74).
- ↑ Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen vom 26.6.2013, ABl. EU Nr. L 180, S. 96..
- ↑ So auch Neundorf, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Ed. 1.1.2021, AsylG § 61 Rn. 29.
- ↑ EuGH, Urt. v. 14.1.2021, Az.: C-385/19.
- ↑ EuGH, Urt. v. 14.1.2021, Az.: C-385/19, Tz. 92.
- ↑ Umfassende Informationen zum Hochschulzugang für Geflüchtete finden sich z.B. hier.
- ↑ Ob ein ausländischer Schulabschluss zum Studium an einer deutschen Hochschule berechtigt, lässt sich etwa hier überprüfen.
- ↑ Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler vom 13.12.2004, BGBl. I S. 3370.
- ↑ BT-Drs. 20/3717, S. 18.
- ↑ BT-Drs. 18/6386, S. 4.
- ↑ BT-Drs. 18/6185, S. 48.
- ↑ Statt vieler Voigt, Asylmagazin 2016, 245 (246 f.).
- ↑ So etwa auch das SG Potsdam, Beschl. v. 20.12.2017, Az.: S 6 AL 237/17 ER = Asylmagazin 3/2018, S. 103 f.