Dialyse in Armenien Lösung
Autorin: Britta Schiebel
Behandelte Themen: zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Gesundheitsgefahr, medizinische Versorgung
Zugrundeliegender Sachverhalt: Dialyse im Armenien
Schwierigkeitsgrad: Anfänger*innen
Falllösung
BearbeitenDer Sachverhalt und die Falllösung sind einem Urteil des VG Ansbach nachempfunden, auf das für weitere Details verwiesen wird.[1]
Die Klage ist voraussichtlich zulässig und begründet.
Die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 VII 1 AufenthG sind erfüllt.
Aufgrund der Beschränkung des Klageantrags sowie des Bearbeitungsvermerks war allein ein Abschiebungsverbot nach § 60 VII AufenthG zu prüfen. Ohne einen solchen Hinweis wäre es auch möglich gewesen, die Frage der drohenden Gesundheitsgefahr am Maßstab des § 60 V AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu messen. Insoweit gilt nach der Rechtsprechung des EGMR ein vergleichbar strenger Maßstab für den Nachweis einer schwerwiegenden Erkrankung und die Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands im Fall einer Abschiebung.[2]
Nach § 60 VII AufenthG soll von der Abschiebung in einen Zielstaat abgesehen werden, wenn dort für die abzuschiebende Person eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies setzt nach § 60 VII 3 AufenthG eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraus, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 VII 1 AufenthG ist nach dem Gefahrenmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erforderlich, aber auch ausreichend, dass sich die vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Abschiebung droht.[3] Von einer abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustandes kann nicht schon dann gesprochen werden, wenn eine Heilung eines Krankheitszustandes im Abschiebungsfall nicht zu erwarten ist; eine solche Gefahr ist auch nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur, wenn außergewöhnlich schwere körperliche oder psychische Schäden alsbald nach der Einreise des Betroffenen in den Zielstaat drohen. Die Gefahr der wesentlichen Verschlimmerung einer Erkrankung kann insbesondere auf unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat beruhen. Allerdings ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Der oder die Betroffene muss sich grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 VII 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll die abzuschiebende Person vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung ihrer Rechtsgüter bewahren.[4] Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt dabei in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 VII 3 und 4 AufenthG). Neben den Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sind auch sämtliche anderen zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung mit einzubeziehen. Eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung kann demnach insbesondere auch dann eintreten, wenn in dem Abschiebezielstaat Behandlungsmöglichkeiten zwar vorhanden, für die betreffende Person aber aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht erreichbar sind.[5]
Gemessen hieran ist wohl von einem Anspruch des A auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 VII 1 AufenthG auszugehen. Bei der terminalen Niereninsuffizienz, die bei einer Unterbrechung der Dialysebehandlung für nur wenige Tage zu einer lebensbedrohlichen Situation führt, handelt es sich im Fall des A um eine schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung in diesem Sinne. Die Krankheit wurde durch Vorlage mehrerer fachärztlicher Bescheinigungen, welche die Voraussetzungen des § 60a IIc AufenthG erfüllen, glaubhaft gemacht. Es ist auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich die Erkrankung alsbald nach einer möglichen Abschiebung erheblich verschlimmern und so in einer erheblichen Gefahr für die Gesundheit oder sogar das Leben des A münden würde.
Dabei kann nach den vorliegenden, vom BAMF in seinem Bescheid angeführten Erkenntnissen zwar im Ausgangspunkt - jedenfalls unter normalen Umständen - von einer Behandelbarkeit der Erkrankung des A auch in Armenien ausgegangen werden. Denn danach bieten zahlreiche öffentliche und private Kliniken Dialysebehandlungen an und die erforderlichen Medikamente sind in Armenien erhältlich. Unerheblich ist dabei, dass die Qualität der medizinischen Versorgung geringer ist als in Deutschland; insoweit muss sich der A grundsätzlich auf den in seinem Heimatstaat vorhandenen Gesundheitsstandard verweisen lassen.
Allerdings sind in die Betrachtung weitere zielstaatsbezogene sowie individuelle persönliche Umstände miteinzubeziehen. So stehen zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 I 1 Hs. 1 AsylG) das armenische Gesundheitssystem und die dortige öffentliche Infrastruktur stark unter Druck, da die an Corona erkrankten Personen sowie die Verletzten des Bergkarabach-Konflikts versorgt werden müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint es beachtlich wahrscheinlich, dass sich der Gesundheitszustand des A durch den fehlenden Zugang oder eine mögliche Unterbrechung der Dialysebehandlung wesentlich verschlechtert oder er sogar in Lebensgefahr gerät. Denn in der gegenwärtigen Situation ist generell davon auszugehen, dass der Zugang zu den im Normalfall verfügbaren kostenlosen Dialyseplätzen erschwert ist oder sich jedenfalls der Aufnahmeprozess erheblich verzögern könnte. Für den A führt jedoch schon eine Unterbrechung der Behandlung von wenigen Tagen zu einer lebensgefährlichen Situation. Seinen glaubhaften Angaben zufolge verfügt er über keinerlei Geldmittel, um - für einen Übergangszeitraum von unabsehbarer Länge - die Behandlungskosten von je 35 Dollar für jede der mindestens dreimal wöchentlich erforderlichen Sitzungen zu tragen. Auf familiäre Unterstützung kann er insofern nicht zählen, als seine Mutter als seine einzige Verwandte lediglich über ein geringes Einkommen verfügt, von dem sie überdies ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten muss. Aufgrund seines Gesundheitszustandes dürfte der A zudem nicht in der Lage sein, die erforderlichen Mittel durch eigene Arbeit zu erwirtschaften, zumal es ihm als Wiederkehrender ohne Berufsausbildung während einer wegen der Corona-Pandemie und der kriegerischen Auseinandersetzung im Bergkarabach-Konflikt angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt schwerfallen dürfte, unmittelbar eine Arbeit zu finden. Auch insoweit wäre bereits eine nur kurze Unterbrechung der Behandlung lebensbedrohlich.
Auch ist nicht ausnahmsweise entgegen der von § 60 VII 1 AufenthG intendierten Rechtsfolge ("soll") trotz Vorliegens der Voraussetzungen von der Feststellung eines Abschiebungsverbots im Ermessenswege abzusehen. Zwar wird das in der Rechtsprechung zum Teil angenommen, wenn eine Person einen Asylantrag unter Missbrauch des Asylverfahrens allein deswegen stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, jedenfalls wenn aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind.[6] Von einer solchen Missbrauchskonstellation ist auch auszugehen, da der A seinen eigenen Angaben zufolge bereits in Armenien wegen seiner Nierenerkrankung in Behandlung war und sich nur deshalb nach Deutschland begeben hat, um eine bessere medizinische Behandlung zu erhalten. Jedoch ist ausnahmsweise im Fall des A das möglicherweise in der skizzierten Missbrauchskonstellation eröffnete Ermessen des BAMF zu seinen Gunsten auf Null reduziert. Kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Unterbrechung der Dialysebehandlung, die binnen kurzer Zeit zum Tod führt, und kann andererseits bei Fortführung der Behandlung das Überleben des A gesichert und eine gute Lebensqualität gewährleistet werden, erscheint die Feststellung eines Abschiebungsverbots unter dem Gesichtspunkt des Art. 1 I i.V.m. Art. 2 I 1 GG zwingend.
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ VG Ansbach, Urt. v. 5.11.2020, Az.: AN 6 K 17.34985.
- ↑ EGMR, Urt. v. 13.12.2016, Az.: 41738/10, Rn. 186 ff.
- ↑ BVerwG, Urt. v. 17.11.2006, Az.: 1 C 18.05, Rn. 20.
- ↑ OVG NRW, Beschl. v. 14.6.2005, Az.: 11 A 4518/02.A, Rn. 24.
- ↑ BVerwG, Urt. v. 17.11.2006, Az.: 1 C 18.05, Rn. 20.
- ↑ VG Ansbach, Urt. v. 5.11.2020, Az.: AN 6 K 17.34985, Rn. 26 ff.