Autor: Max Putzer

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Behandelte Themen: Erlöschen, Widerruf und Rücknahme internationalen Schutzes, Hauptsache und Eilverfahren

Sachverhalt: Schluss mit Schutz?

Schwierigkeitsgrad: Fortgeschrittene

A. AusgangsfallBearbeiten

Fraglich ist, ob die Klage der F gegen den Bescheid des BAMF vom 16.12.2020 begründet ist. Dies ist der Fall, wenn sich der angegriffene Bescheid, mit dem das BAMF den Schutzstatus der F widerrufen hat, in dem dafür maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 I Hs. 1 AsylG) als rechtswidrig erweist und die F dadurch in ihren Rechten verletzt (vgl. § 113 I 1 VwGO).

I. Erlöschen des zuerkannten Schutzes gemäß § 72 I Nr. 1 AsylG?Bearbeiten

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber der F könnte - unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf ihrer Schutzstellung - bereits deshalb kraft Gesetzes erloschen sein, weil sich die F nach - wenn auch kurzzeitiger - Rückkehr in den Staat ihrer Staatsangehörigkeit dort einen Reisepass hat neu ausstellen lassen. Nach § 72 I Nr. 1 AsylG erlischt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Person, die sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, unterstellt.

Hierbei ist jedoch fraglich, ob ein Erlöschen der zuerkannten Flüchtlingseigenschaft bereits kraft Gesetzes, mithin ohne Durchführung eines eigenen behördlichen Verfahrens zur konstitutiven Feststellung dessen tatbestandlicher Voraussetzungen eintritt.

Hierfür spricht der Wortlaut von § 72 I Nr. 1 AsylG, wonach "die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlöschen". Auch die Formulierung in Art. 11 I lit. a) Qualifikationsrichtlinie[1], in dessen Umsetzung § 72 I Nr. 1 AsylG ergangen ist, legt ein Erlöschen der Rechtsstellung ohne vorgeschaltetes behördliches Prüfverfahren nahe. Danach „ist“ ein Drittstaatsangehöriger „nicht mehr Flüchtling“, wenn er sich freiwillig erneut dem Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Absatz 2 der Bestimmung sieht eine Prüfung der Mitgliedstaaten, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann, ausdrücklich nur für Fälle nach den Buchstaben e) und f), nicht jedoch für den hier einschlägigen Buchstaben a) vor.

Andererseits schreibt Art. 14 II Qualifikationsrichtlinie eine behördliche Prüfung im Einzelfall vor, wenn Antragstellende nicht länger Flüchtlinge gemäß Artikel 11 der Richtlinie sind. Hierfür spricht auch, dass die Tatbestandsmerkmale der Freiwilligkeit und der Schutzunterstellung gemäß Art. 11 I lit. a) Qualifikationsrichtlinie auslegungsbedürftig sind; entsprechend bedarf ihre Feststellung einer vorgeschalteten Prüfung. Jedenfalls aber ergibt sich die Pflicht zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens aus Art. 44 i.V.m. Art. 45 V Asylverfahrensrichtlinie.[2] Die Vorschriften ermöglichen den Mitgliedstaaten nicht nur die Prüfung zur Aberkennung des internationalen Schutzes bei Vorliegen neuer Erkenntnisse über die Voraussetzungen des zuerkannten internationalen Schutzes. Sie regeln zugleich das Verfahren für diese Prüfung und legen die Voraussetzungen fest, unter denen die Mitgliedstaaten ein Erlöschen des internationalen Schutzes kraft Gesetzes vorsehen können. Art. 45 V Asylverfahrensrichtlinie verlangt hierfür einen "eindeutigen Verzicht" der Person mit Schutzanspruch, der allein in der Erneuerung eines Nationalpasses nicht erblickt werden kann. Da § 72 I Nr. 1 AsylG somit mit vorrangigem Unionsrecht kollidiert und die Asylverfahrensrichtlinie nach ihrem Art. 51 I 1 bis zum 20.7.2015 in nationales Recht umzusetzen war, findet die Vorschrift keine Anwendung mehr.

Weiterführendes Wissen

Eine andere Auffassung ist hier, gestützt auf den Wortlaut von § 72 I Nr. 1 AsylG, durchaus vertretbar.[3] Behördliche Feststellungen des Erlöschens der Asylberechtigung beziehungsweise des internationalen Schutzes haben danach rein deklaratorischen Charakter. Weit überwiegende Gründe sprechen gleichwohl dafür, dass eine strikt am Wortlaut der Norm orientierte Auslegung durch das Unionsrecht versperrt ist. Dies gilt ebenso jedenfalls für die in I Nrn. 1a und 2 aufgeführten Fälle, die – wie § 72 I Nr. 1 AsylG – stattdessen nach § 73 I AsylG zu behandeln sind. Allein in Fällen eines Verzichts auf die Anerkennung (§ 72 I Nr. 4 Alt 1 AsylG) und des Erwerbs einer neuen Staatsangehörigkeit (I Nr. 3) können Mitgliedstaaten weiterhin einen Erlöschenstatbestand vorsehen.[4]

Im Ergebnis ist der internationale Schutz der F nicht bereits nach § 72 I Nr. 1 AsylG erloschen.

II. Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung der FlüchtlingseigenschaftBearbeiten

Allerdings könnte sich der Widerruf des der F zuerkannten Schutzstatus wegen ihrer Rückkehr nach X und die Beantragung eines neuen Reisepasses auf § 73 I 1 AsylG stützen. Danach ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Der Widerruf ist formell rechtmäßig, insbesondere hat das BAMF die F vor seiner Entscheidung ordnungsgemäß angehört (vgl. § 73 IIIa, IV AsylG).

Gegen das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für einen Widerruf könnte sprechen, dass die F ihrem Vortrag nach allein deshalb in ihr Herkunftsland zurückgekehrt ist, um ihre schwerkranke Mutter zu besuchen und zu pflegen, mithin um eine sittliche Pflicht zu erfüllen. Hierzu hat sie im Termin zur mündlichen Verhandlung einen Arztbrief eingereicht, der den vorgetragenen operativen Eingriff belegt. Darüber hinaus kommt einer Passerneuerung lediglich eine Indizwirkung zu, dass die Person die Absicht hat, sich wieder dem Schutz ihres Heimatlandes zu unterstellen. Der äußere Geschehensablauf kann jedoch einer solchen Indizwirkung entgegenstehen. Maßgeblich sind insoweit die Umstände des Einzelfalls. So könnte etwa der Vortrag der F, den neu ausgestellten Pass zur Wiederausreise benötigt zu haben, die indizielle Wirkung der Erneuerung entfallen lassen. Gleiches könnte gelten, soweit die F vorgetragen hat, nicht sie, sondern ihre Mutter habe den beantragten Pass bei der ihn ausstellenden Behörde in Empfang genommen. Auch ist die F nur einmal für eine relativ kurze Zeit, nicht jedoch wiederholt in ihre frühere Heimat X zurückgekehrt.

Allerdings ist der Vortrag der F, den Pass zum Verlassen des Landes benötigt zu haben, insoweit nicht glaubhaft, als sie - ihren eigenen Angaben nach - illegal nach X wiedereingereist ist. Warum es ihr nicht möglich gewesen sein sollte, das Land auch wieder illegal zu verlassen, um den Behörden nicht aufzufallen, ist nicht ersichtlich. Andere Gründe, die die F dazu bewegt haben könnten, die Ausstellung eines neuen Reisepasses zu beantragen, sind ebenso wenig erkennbar. Dies gilt umso mehr, als sie der zuständigen Ausländerbehörde mitgeteilt hat, während ihres Aufenthalts jeglichen Kontakt zu Repräsentant*innen ihres früheren Heimatstaates vermieden zu haben. Aus diesem Grund habe sie kaum das Haus ihrer Mutter verlassen. Dass ihre Mutter aus demselben Grund den ausgestellten Pass an ihrer Stelle abgeholt habe, steht gleichwohl in Widerspruch zu ihren übrigen Angaben die Erkrankung und Genesung ihrer Mutter betreffend, sodass auch insoweit ihr Vortrag nicht glaubhaft ist. Denn sowohl das Ausstellungsdatum als auch der auf dem Pass angebrachte Ausreisestempel liegen innerhalb der zwei Wochen, während der die F ihre Mutter zu Hause gepflegt haben will.

Nach alldem stehen die Umstände des Einzelfalls der Indizwirkung der Passneuausstellung nicht entgegen. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die F den Pass während ihres Aufenthalts in X nicht freiwillig beantragt hätte.

Im Ergebnis liegen damit die Voraussetzungen für den Widerruf der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes vor.

Die Klage ist unbegründet.

B. AbwandlungBearbeiten

Fraglich ist, ob der Antrag der F auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet ist.

Dies ist der Fall, wenn das Interesse der F, vorläufig von der Vollziehung der Rücknahmeentscheidung des BAMF verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 16.12.2020 überwiegt (vgl. § 80 V 1 Alt. 2 VwGO).

Das Aussetzungsinteresse überwiegt das Vollziehungsinteresse, wenn sich der angegriffene Bescheid nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als rechtswidrig erweist oder der Ausgang des Verfahrens jedenfalls offen ist.

Fraglich ist mithin, ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes vorliegen. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nach § 73 II AsylG zurückzunehmen, wenn sie auf Grund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden ist und der Antragstellende auch aus anderen Gründen nicht anerkannt werden könnte. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes ist gemäß § 73b III AsylG unter anderem zurückzunehmen, wenn eine falsche Darstellung oder das Verschweigen von Tatsachen oder die Verwendung gefälschter Dokumente für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes ausschlaggebend war. Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 V oder VII AufenthG ist nach § 73c I AsylG zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist.

Vorliegend erweist sich der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache jedenfalls als offen. Ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme des zuerkannten internationalen Schutzes vorliegen, weil die F im Asylverfahren falsche Angaben über ihre Staatsangehörigkeit gemacht hat, bedarf weiterer Aufklärung im Klageverfahren. So bestehen bislang lediglich Anhaltspunkte für eine mögliche Täuschungshandlung der F. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist zwar eingeleitet; über das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachtes als Voraussetzung für die Erhebung der öffentlichen Klage nach § 170 I StPO hat die Staatsanwaltschaft noch nicht entschieden. Das Ergebnis einer Prüfung der Echtheit der sichergestellten Urkunde, die die F als Staatsangehörige von N ausweist, steht noch aus. Die Stempel in dem alten Reiseausweis belegen zudem allein einen Aufenthalt der F in diesem Land, lassen aber nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf ihre Staatsangehörigkeit zu. Dies gilt umso mehr, als die F im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung gegenüber dem BAMF erklärt hat, wegen der Verfolgung ihres Volkes in ihrer Heimat bereits 2012 X zeitweise verlassen zu haben, nach N geflohen zu sein und dort mehr als ein Jahr gelebt zu haben. Dass sie in dieser Zeit enge Freundschaften geknüpft und dort Familienmitglieder nach ihrer endgültigen Ausreise aus X zurückgelassen hat, erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen. Überdies ist denkbar, dass der M die F gegenüber der Staatsanwaltschaft in der Hoffnung belastet hat, sich dadurch Vorteile in dem Sorgerechtsstreit um die beiden Kinder zu verschaffen.

Vor diesem Hintergrund überwiegt das Interesse der F, bis zu einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Rücknahmeentscheidung des BAMF von deren Vollziehung und den sich hieraus ergebenden Folgen verschont zu bleiben. Andernfalls drohte der F bereits vor Abschluss des gegen sie geführten Ermittlungsverfahrens die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung, ohne dass zuvor der Sachverhalt vollständig aufgeklärt und die Identität und Staatsangehörigkeit der F sicher bestimmt wären, muss dahinter zurücktreten. Dabei ist auch die gesetzliche Wertung des § 75 I 1 AsylG zu berücksichtigen, wonach Klagen gegen Entscheidungen in Fällen des § 73 und § 73b AsylG grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben.

Weiterführende LiteraturBearbeiten

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Twitter oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des BuchesBearbeiten

§ 1 Nationales Asylverfahrensrecht

§ 2 Asylverfahrensrecht im europäischen Kontext

§ 3 Materielles Asylrecht

§ 4 Entscheidungsmöglichkeiten des BAMF und der Asylprozess

§ 5 Rechte und Pflichten nach Schutzzuerkennung

§ 6 Rechtsstellung nach Antragsablehnung und Aufenthaltssicherung

§ 7 Sozialleistungen im Flüchtlingskontext

§ 8 Nicht-humanitäres Aufenthaltsrecht

FußnotenBearbeiten

  1. Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. EU Nr. L 337/9.
  2. Richtlinie 2013/32/RL des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. EU Nr. 180/60.
  3. Vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 2.12.1991, Az.: 9 C 126/90; ebenso OVG Nds, Beschl. v. 14.10.2011, Az.: 13 OA 196/11.
  4. Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, AsylG, § 72 Rn. 7; ähnlich Mantel/Stern, in: Huber/Mantel, AsylG, 3. Aufl. 2021, § 72 Rn. 4; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AsylG, 13. Aufl. 2020, § 72 Rn. 1; andere Ansicht Camerer, in: BeckOK MigR, AsylG, 10. Ed. 15.1.2022, § 72 Rn. 27.