Autorin: Valentina Chiofalo

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Notwendiges Vorwissen: Wirksweise der Staatszielbestimmungen

Lernziel: Kleiner Einstieg in die Gleichbehandlungsgrundsätze mit Fokus auf dem Staatziel der Gleichstellung erhalten

Neben den Gleichbehandlungsgrundsätze aus Art. 3 I bis III GG[1], findet sich in Art. 3 II 2 GG eine Staatszielbestimmungen wieder. Demnach habe der Gesetzgeber den Auftrag, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu fördern und bestehende Nachteile abzubauen. Bevor sich der rechtlichen Ausgestaltung gewidmet wird, soll kurz die geschichtliche Entwicklung der Staatszielbestimmung skizziert werden.

A. Geschichtliche Entwicklung

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I. Verfassungskonvent von 1949

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Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 I GG hat eine ideengeschichtliche Tradition, die bis zur Antike zurückgeht. Zu Zeiten der Weimarer Republik war in Art. 109 I WRV festgelegt, dass „alle Deutschen vor dem Gesetz gleich“ sind. Während des Verfassungskonvents entschied sich der Parlamentarische Rat 1949, den Gleichheitssatz nicht mehr als Deutschengrundrecht zu formulieren, sondern Art. 3 I GG in der geltenden Fassung festzulegen.[2]

Gleichzeitig wurde sich bereits 1949 auf den heutigen Satz 1 in Art. 3 II GG (und auf Satz 1 des Art. 3 III GG) geeinigt. Ursprünglich sollte der Gleichbehandlungsgrundsatz nur als Programmsatz gelten und auf staatsbürgerliche Rechte begrenzt sein. Elisabeth Selbert und Friederike Nadig konnten jedoch, unterstützt von der Frauenbewegung, im Parlamentarischen Rat durchsetzen, dass die Gleichheit der Geschlechter auch für das Zivilrecht gilt.[3]

II. Gemeinsame Verfassungskommission und Änderung des GG (1994)

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Nach dem Ende der DDR wurde die Gemeinsame Verfassungskommission Ende November 1991 durch Bundestag und Bundesrat eingesetzt, um sich nach Art. 5 des Einigungsvertrages „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ zu befassen - dabei wurde erneut über die Geschlechtergleichstellung diskutiert. 1994 trat Satz 2 in Art. 3 II GG in Kraft: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Ziel war es, den Gleichberechtigungsauftrag ausdrücklich in der Verfassung zu verankern und ein proaktives Gleichstellungsrecht zu sichern.[4]

Die bereits davor bestehende Staatszielbestimmung wurde mithin durch Art. 3 II 2 GG verfassungsrechtlich normiert. Laut Begründung der Gemeinsamen Verfassungskommission sollten damit „die zuständigen staatlichen Organe angehalten werden, Maßnahmen zur Erreichung der tatsächlichen Gleichberechtigung zu ergreifen. Dabei geht es nicht nur darum, Rechtsnormen zu beseitigen, die Vor- oder Nachteile an die Geschlechtszugehörigkeit knüpfen, sondern darum, die Lebensverhältnisse von Männern und Frauen auch real anzugleichen. Es handelt sich insoweit weniger um den Versuch der Lösung eines rechtlichen als eines gesellschaftlichen Problems.“[5]

B. Konkrete Ausgestaltung der Staatszielbestimmung

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Dabei stellte die Verfassungskommission bereits 1993 klar, dass sich (anders als aus Art. 3 II 1 GG) kein Individualanspruch auf ein bestimmtes staatliches Handeln aus Art. 3 II 2 GG ergeben könne.[6] Dass Art. 3 II 2 GG trotzdem einiges Gewicht zukommen kann, zeigt die Rechtsprechung des BVerfG vom Urteil zum Nachtarbeitsverbot 1992[7] bis zum Beschluss vom 15.12.2020[8], welcher sich mit dem Fehlen gesetzlicher Regelungen zur paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts bei der Bundestagswahl 2017 beschäftigte. Im Ergebnis

  • können über Art. 3 II 2 GG Rechtsnormen für verfassungswidrig erklärt werden, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale knüpfen;
  • zielt Art. 3 II 2 GG auf die Angleichung der Lebensverhältnisse von Männern und Frauen ab und strebt die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter für die Zukunft an;
  • ist Art. 3 II 2 GG ein Verfassungsgut, das beispielsweise Art. 38 I 1 GG und Art. 21 I GG gleichrangig gegenübersteht.

Strittig ist mithin der Umfang des Gleichberechtigungsgebots aus Art. 3 II 2 GG. Können über die Beseitigung bestehender Nachteile hinaus zur Schaffung gleicher Startchancen Fördermaßnahmen gestattet werden, auch wenn dadurch ein Geschlecht benachteiligt wird? Bereits der Wortlaut von Art. 3 II 2 GG weist auf die Zulässigkeit von Fördermaßnahmen hin. Wie weit diese gehen können, ist hingegen fraglich. Vor allem im Bereich des Berufs werden positive Fördermaßnahmen immer wieder diskutiert.

  • e.A.: So seien laut der h.M. im beruflichen Bereich nur solche Maßnahmen zulässig, die Chancengleichheit fördern ¬ nicht hingegen solche, die auf die Erfolgsgleichheit einwirken.[9]

Grund dafür sei, dass Fördermaßnahmen nur gegen tatsächlich bestehende Beeinträchtigungen und Gefährdungen genutzt werden könnten. Zwischen der konkreten Benachteiligung und der Gewährung von Vorteilen müsste ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen.[10]

  • a.A.: Demgegenüber steht die Auffassung, dass Fördermaßnahmen in einem weiteren Umfang zulässig sind und anhand einer Zumutbarkeitsprüfung bewertet werden.[11]

Gegen die h.M. wird angeführt, dass Diskriminierung anhand eines rein formalen Verständnisses erfasst werde – Diskriminierungen ergeben sich jedoch gerade aus strukturellen Elementen, die nicht ohne Fördermaßnahmen behoben werden könnten und gleichzeitig nicht immer unmittelbar zu fassen seien (materialer Diskriminierungsbegriff).

  • Stellungnahme: Die erste Ansicht stellt die überwiegende h.M. dar, die zuletzt zumindest teilweise vom BVerfG bei der Frage der paritätisch besetzten Wahllisten bestätigt wurde. Das BVerfG lehnte eine Pflicht zur Herbeiführung einer Ergebnisgleichheit zumindest in Bezug auf das Wahlrecht ab.[12] Zum einen stehe der Wortlaut der Norm einer solchen Auslegung entgegen, da Art. 3 II 2 GG von einer „Durchsetzung der Gleichberechtigung“ spreche und gerade nicht von einer Herbeiführung tatsächlicher „Gleichstellung“. Während des Gemeinsamen Verfassungskonvents 1994 fand ein Antrag, in Art. 3 II GG ausdrücklich das Staatsziel, die „Gleichstellung der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen“ festzuschreiben, nicht die erforderliche Mehrheit.[13] Daraus kann allerdings keine generelle Ablehnung eines materialen Gleichheitsverständnisses herausgelesen werden.[14] Allgemein kann über ein materiales Verständnis des Art. 3 II (und auch Art. 3 III GG) die strukturelle Ungleichheit sozialer Gruppen abgebildet werden. Diskriminierung beruht nicht alleine auf der Tatsache, dass ein Person in einer spezifischen Situation nicht angemessen (weil ungleich) behandelt wird. Viel mehr begründen sich die problematisch gelagerten Fälle gerade aus historisch gewachsenen Annahmen und Lebensrealitäten.[15] Somit sollte der zweiten Meinung durchaus Beachtung geschenkt werden, da nur so struktureller Diskriminierung langfristig entgegengewirkt werden kann.
Klausurtaktik

Art. 3 II 2 GG wird vor allem im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant werden. Es wird meistens darum gehen, warum ein Gesetz gegen den Grundsatz der Geschlechtergleichheit verstößt - entweder, weil Frauen durch das zu prüfende Gesetz diskriminiert werden, oder weil Männer durch Fördermaßnahmen benachteiligt werden.

Weiterführendes Wissen zur gendergerechten Sprache

Im Jahr 2020 wies das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde bezogen auf die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in Sparkassenvordrucken und -formularen als unzulässig ab. Im Verfahrensgang klagte die Sparkassenkundin bis zum BGH, da sie in den Vordrucken ihrer Sparkasse als „Kundin“, „Kontoinhaberin“, „Einzahlerin“ oder „Sparerin“ bezeichnet werden wollte. Der BGH lehnte ab, nach dem allgemein üblichen Sprachgebrauch und Sprachverständnis, könne der Bedeutungsgehalt einer grammatisch männlichen Personenbezeichnung jedes natürliche Geschlecht umfassen.[16] Die Klägerin sei mitgemeint. Über die Verfassungsbeschwerde rügte die Kundin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie der gleichheitsrechtlichen Anforderungen aus Art. 3 III 1 i.V.m. Art. 3 II 1 und aus Art. 3 II 2 GG. Laut BVerfG hätte sich Beschwerdeführerin tiefergehend mit dem vom Bundesgerichtshof angeführten Argument auseinandersetzen müssen, dass das Grundgesetz selbst das generische Maskulinum verwendet.[17] Das Verfassungsgericht bezog inhaltlich zu dieser Frage keine Stellung.[18]

Weiterführende Studienliteratur

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  • Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019.
  • Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. 1996.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

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  • Die Staatszielbestimmung aus Art. 3 II 2 GG vermittelt keinen Individualanspruch auf staatliches Handeln.
  • Trotzdem können Gesetze über Art. 3 II 2 GG für verfassungswidrig erklärt werden und der Auftrag ist ein Verfassungsgut, das Art. 38 I 1 und Art. 21 I GG gleichrangig gegenübersteht.
  • Dabei ist besonders strittig ist, inwiefern Förderungsmaßnahmen zum Abbau des Geschlechterunterschieds über Art. 3 II 2 GG gestützt werden können.

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Bluesky oder X oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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1. Kapitel – Die Grundlagen des Staatsorganisationsrechts - Verfassung und Staat als zentrale Anknüpfungspunkte

2. Kapitel – Staatsstrukturprinzipien – Die Fundamentalnormen des Staates

3. Kapitel – Staatszielbestimmungen

4. Kapitel – Verfassungsorgane

5. Kapitel – Kompetenz und Verfahren

6. Kapitel – Verfassungsgerichtsbarkeit

7. Kapitel – Methodik der Fallbearbeitung im Staatsorganisationsrecht

Fußnoten

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  1. Siehe dazu Macoun/ Hauck, § 19 Gleichheit & Nichtdiskriminierung im OpenRewi Grundrechte-Lehrbuch.
  2. Wollenschläger, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 8 ff.
  3. Baer/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2 Rn. 339 f.
  4. Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019, S. 183 f.
  5. Gemeinsame Verfassungskommission, Bericht, BT-Drucks. 12/6000, S. 50.
  6. Gemeinsame Verfassungskommission, Bericht, BT-Drucks. 12/6000, S. 50.
  7. BVerfG, Urt. v. 28.1.1992, Az. 1 BvR 1025/82 u.a. = BVerfGE 85, 191 (206 f) - Nachtarbeitsverbot.
  8. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020, Az. 2 BvC 46/19 = NVwZ 2021, 469 - Paritätsgesetz.
  9. Nußberger, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 282.
  10. Gemeinsame Verfassungskommission, Bericht, BT-Drucks. 12/6000, S. 50.
  11. Bear/Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 372 ff.
  12. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020, Az. 2 BvC 46/19, Rn. 112 = NVwZ 2021, 469 - Paritätsgesetz.
  13. Deutscher Bundestag, Drucksache 12/6000, S. 50.; BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020, Az. 2 BvC 46/19, Rn. 112 = NVwZ 2021, 469 - Paritätsgesetz.
  14. Siehe zur Einordnung des Urteils Valentiner, VerfBlog, 4.2.2021 und Chiofalo, § 5 Die Parlamentarische Demokratie, Prinzip der Volkssouveränität in diesem Lehrbuch.
  15. Dazu weiterführend: Liebscher, Rasse im Recht - Recht gegen Rassismus, 2021, S. 217 ff.
  16. BGH, Urt. v. 13.3.2018, Az.: VI ZR 143/17, LS = BGHZ 218, 96.
  17. BVerfG, Beschl. v. 26.5.2020, Az.: 1 BvR 1074/18, Rn. 5 = WM 2020, 1304.
  18. Siehe weiterführend Lischewski, VerfBlog, 2.7.2020; Deutscher Juristinnenbund, Pressemitteilung v. 1.7.2020.