Autor:innen: Jan-Louis Wiedmann

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Notwendiges Vorwissen: Wirkungsweise der Staatsstrukturprinzipien

Lernziel: Erster Einblick in die Dogmatik der Staatszielbestimmungen

Im Grundgesetz finden sich zahlreiche sog. Staatszielbestimmungen, die sich von den Staatsstrukturprinzipien in ihrer Wirkungsweise unterscheiden.[1] Es handelt sich um Verfassungsnormen, die dem Staat die dauerhafte Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben[2], etwa das Bewahren einer lebenswerten Umwelt (Art. 20a GG) oder die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG). Anders als die Staatsstrukturprinzipien, die die staatlichen Strukturen in ihrer Gesamtheit prägen, handelt es sich bei den Staatsstrukturprinzipien somit um (rechtlich verbindliche) politische Aufträge, die auf ihre Verwirklichung drängen.[3]

A. Übersicht über die Staatszielbestimmungen

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Dem Grundgesetz lässt sich eine kaum übersehbare Anzahl von Staatszielbestimmungen entnehmen. So wird der Staat

  • zur Wahrung des Friedens in der Welt (Präambel, Art. 24 II, 26 GG),
  • zur Verwirklichung der Gleichbereichtigung von Mann und Frau (Art. 3 II GG),
  • zur Wahrung und Förderung des Kultur- und Wissenschaftslebens (Art. 5 III GG),
  • zum Mutterschutz (Art. 6 IV GG),
  • zur Gleichstellung ehelicher und nicht-ehelicher Kinder (Art. 6 V GG),
  • zur Mitwirkung an der Kindeserziehung (Art. 7 GG),
  • zum Schaffen einer sozialen Ordnung (Art. 20 GG), soweit man die Sozialstaatlichkeit als Staatszielbestimmung und nicht als Staatsstrukturprinzip versteht,
  • zum Schutz einer lebenswerten Umwelt und der Tiere (Art. 20a GG),
  • zur Verwirklichung eines vereinten Europas (Präambel, Art. 23 GG),
  • zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit, sowie zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 72 II GG),
  • zur Gewährleistung der Grundversorgung im Bereich des Post-, Telekommunikations- und Eisenbahnwesens (Art. 87e IV, 87f I GG) und
  • zur Herstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 II GG) verpflichtet.[4]

Im Folgenden sollen einige der für das Staatsorganisationsrecht besonders relevanten Staatszielbestimmungen näher beleuchtet werden. Davor gilt es aber, die Wirkungsweise dieser Verfassungsvorschriften allgemein zu klären.

B. Adressat und Wirkweise der Staatszielbestimmungen

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Staatszielbestimmungen richten sich in erster Linie an den Gesetzgeber.[5] Dieser steht in der Pflicht, die genannten Ziele durch entsprechende Rechtssetzung zu erreichen. Die Staatszielbestimmungen sind daher nicht als die Absicherung eines status quo, sondern als zukunftsgerichteter Appell an den Gesetzgeber zu verstehen.[6] Hierbei kommt dem Gesetzgeber aber ein erheblicher Spielraum zu.[7] Die Staatszielbestimmungen geben nur das „ob“ vor; die Frage des „wie“ hat weitestgehend der Gesetzgeber zu beantworten.[8] Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Staatszielbestimmungen extrem unbestimmt und entwicklungsoffen formuliert sind.[9]

Beispiel: Art. 20 I GG gibt es dem Gesetzgeber auf, eine soziale Ordnung zu schaffen. Aber was bedeutet „sozial“? Hierüber besteht in einer pluralistischen Gesellschaft naturgemäß Streit. Die Verfassung nimmt insoweit keine Antwort vorweg, sondern überlässt sie dem plural besetzten Parlament.[10]

Mit dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers korrespondiert ein eingeschränkter Prüfungsmaßstab der Gerichte.[11] Gleichwohl handelt es sich bei den Staatszielbestimmungen um voll verbindliche Verfassungsnormen, die auch einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind.[12] Der Gesetzgeber darf keine Rückschritte bei der Erfüllung der Staatsziele machen, er muss bei neuen (wissenschaftlichen) Erkenntnissen Nachbesserungen vornehmen und darf die von der Verfassung formulierten Staatsziele nicht offensichtlich verfehlen.[13] Die Anforderungen hieran sind allerdings sehr hoch, sodass eine gerichtliche Durchsetzung der Staatsziele gegen den Gesetzgeber in der Regel wenig erfolgsversprechend ist.[14] Jedenfalls können konkrete legislative Maßnahmen nur höchst selten unter Berufung auf die Staatszielbestimmungen eingeklagt werden.[15]

Examenswissen: Diese geringen Erfolgsaussichten bei der Durchsetzung von Staatszielbestimmungen gegen den Gesetzgeber können zu einer rechtlich unbefriedigenden Diskrepanz zwischen verfassungstextlichem Anspruch und einfach-gesetzlicher Realität führen. Beispielhaft sei das staatlich gebilligte Schreddern von Küken genannt, das über Jahrzehnte parallel zum verfassungsrechtlichen Auftrag des „Tierschutzes" (!) praktiziert wurde.[16] Ähnliche Divergenzen zwischen verfassungstextlichem Anspruch und Wirklichkeit bestehen im Umwelt- und Klimaschutzrecht.[17] In seinem sog. „Klima-Beschluss"[18] hat das BVerfG nun aber einen „innovativen"[19] Ansatz verfolgt, um den verfassungsrechtlichen Anspruch der Staatszielbestimmungen zu effektivieren: Nach Ansicht des BVerfG können einfachgesetzliche Zielfestlegungen des Gesetzgebers zur Konkretisierung der Staatszielbestimmungen herangezogen und damit zum Maßstab der verfassungsgerichtlichen Prüfung gemacht werden. Das BVerfG geht davon aus, dass der Gesetzgeber seinen weiten Gestaltungsspielraum durch die einfach-gesetzlichen Zielfestlegungen (semi-)verbindlich festgelegt hat. Infolge dieser Selbstbindung des Gesetzgebers komme den Zielfestlegungen eine „verfassungsrechtliche Orientierungsfunktion"[20] zu. Durch diese Einengung des gesetzgeberischen Spielraums zieht das Gericht die „Zügel" der Staatszielbestimmung straffer – freilich ohne damit den nach wie vor weiten Spielraum des Gesetzgebers grundsätzlich in Frage zu stellen.

Der rechtspraktische Vorteil der Staatszielbestimmungen liegt daher auch anderswo: Es erfolgt eine verfassungsrechtliche Aufwertung politischer Ziele.[21] Durch die Aufnahme von Staatszielen in die Verfassung erlangen bestimmte politische Anliegen Verfassungsrang. Die Staatszielbestimmungen begründen dabei zwar keine klarbaren, subjektiven Rechte der Einzelnen; es handelt sich um rein objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates.[22] Sie können aber die bestehenden subjektiven Rechtspositionen der Einzelnen verfassungsrechtlich verstärken.[23]

Beispiel: So wurde etwa aus dem Grundrecht auf Menschenwürde i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (!) ein Anspruch auf menschenwürdiges Existenzminimum hergeleitet.[24] Analog hierzu wird die Anerkennung eines Grundrechts auf ökologisches Existenzminimum (aus Art. 1 i.V.m. Art. 20a GG) diskutiert.[25].

Vor allem aber schaffen die Staatszielbestimmungen in vielen Fällen erst die verfassungsrechtliche Grundlage dafür, grundrechtliche Freiheit zu beschränken, wo diese dem Ziel zuwiderläuft.[26]

Beispiel: Zirkusaufführungen sind selbst dann von der Kunstfreiheit (Art. 5 III 1 GG) geschützt, wenn das Tierwohl durch die Aufführung erheblich beeinträchtigt wird. Das Staatsziel Tierwohl (Art. 20a GG) liefert allerdings die verfassungsrechtliche Grundlage dafür, derlei Aufführungen zu verbieten.

Insoweit fordern die Staatszielbestimmungen vom Gesetzgeber nicht nur die Erfüllung der Ziele. An vielen Stellen ermöglichen sie es dem Gesetzgeber erst, im Interesse des Staatsziels tätig zu werden. Das ist gerade deshalb wichtig, weil Privatpersonen nicht unmittelbar an die Staatsziele[27], wohl aber an die vom Parlament erlassenen Gesetze, gebunden sind.

Für die übrigen Staatsgewalten sind die Staatszielbestimmungen von geringerer Bedeutung. Doch auch sie haben die Staatszielbestimmungen bei ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen. So haben die Gerichte bei der Auslegung des einfachen Rechts der Bedeutung der Staatsziele Rechnung zu tragen und die Exekutive hat die Staatsziele bei der Ausübung ihres gesetzlichen Spielraums einzubeziehen.[28]

Weiterführende Studienliteratur

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  • Schladebach, Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht, JuS 2018, 118-122.

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

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  • Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen, die dem Staat die dauerhafte Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben.
  • Dabei handelt es sich nicht unmittelbar um subjektiv einklagbare Rechte. Trotzdem binden Staatszielbestimmungen den Gesetzgeber an verfassungsrechtlich determinierte Aufträge.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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1. Kapitel – Die Grundlagen des Staatsorganisationsrechts - Verfassung und Staat als zentrale Anknüpfungspunkte

2. Kapitel – Staatsstrukturprinzipien – Die Fundamentalnormen des Staates

3. Kapitel – Staatszielbestimmungen

4. Kapitel – Verfassungsorgane

5. Kapitel – Kompetenz und Verfahren

6. Kapitel – Verfassungsgerichtsbarkeit

7. Kapitel – Methodik der Fallbearbeitung im Staatsorganisationsrecht

Fußnoten

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  1. Schladebach, JuS 2018, 118 (120).
  2. Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Auflage 2021, § 3 Rn. 4.
  3. Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 6 Rn. 243.
  4. Schladebach, JuS 2018, 118 (120).
  5. Allgemein Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 5 Rn. 245; speziell zu Art. 20a GG etwa BVerfG, Beschl.v. 13.03.2007, Az.: 1 BvF 1/05, Rn. 111 = BVerfGE 118, 79 (110); aus jüngster Zeit BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a., Rn. 205 = NJW 2021, 1723 (1742); siehe auch Schlacke, Umweltrecht, 8. Auflage 2021, § 4 Rn. 7.
  6. Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 5 Rn. 245.
  7. BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a., Rn. 207 = NJW 2021, 1723 (1741).
  8. Schladebach, JuS 2018, 118 (120).
  9. Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 5 Rn. 245; für Art. 20a GG BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a., Rn. 205 = NJW 2021, 1723 (1741).
  10. Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 10 Rn. 674.
  11. Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a., Rn. 207 = NJW 2021, 1723 (1742).
  12. BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a., Rn. 205 ff. = NJW 2021, 1723 (1741 f.); Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 5 Rn. 245.
  13. Hierzu am Beispiel des Umweltschutzes Kloepfer, Umweltrecht, 4. Auflage 2016, § 3 Rn. 49 f.
  14. So für den Bereich des Umweltschutzes Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Auflage 2021, § 3 Rn. 4; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Auflage 2016, § 3 Rn. 48. Im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes wurde trotz eklatanter Missstände bis heute kein Verstoß gegen das Staatsziel des Art. 20a GG festgestellt.
  15. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Bd. II, 3. Auflage 2015, Art. 20a Rn. 71.
  16. Zum Verbot des Küken-Schredderns ab dem Jahr 2022 siehe Süddeutsche Zeitung v. 20.5.2021.
  17. Murswiek, in: Sachs, GG, 9. Auflage 2021, Art. 20a Rn. 64 spricht von „etlichen Defiziten".
  18. BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a. = NJW 2021, 1723 ff.; hierzu Schlacke, NVwZ 2021, 912 ff.; Kloepfer/Wiedmann, DVBl. 2021, 1333 ff.
  19. Kritisch Beckmann, UPR 2021, 241 (244).
  20. BVerfG, Beschl.v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u.a. Rn. 213 = NJW 2021, 1723 (1743).
  21. Vgl. Schladebach, JuS 2018, 118 (121).
  22. Schladebach, Jus 2018, 118 (119).
  23. Für Art. 20a GG: Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Auflage 2021, § 4 Rn. 5; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Auflage 2016, § 3 Rn. 26.
  24. BVerfG, Urt. v. 9.2.2010, Az.: 1 BvL 1,3,4/09 = BVerfGE 125, 175 ff.
  25. Buser, DVBl. 2020, 1389 (1391).
  26. Schladebach, JuS 2018, 118 (121).
  27. Für Art. 20a GG Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Auflage 2021, § 3 Rn. 4; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Auflage 2016, § 3 Rn. 24; Schlacke, Umweltrecht, 8. Auflage 2021, § 4 Rn. 6.
  28. Gröpl, Staatsrecht I, 13. Auflage 2021, § 10 Rn. 684 (am Beispiel der Sozialstaatlichkeit).