Berufsfreiheit - Art. 12 GG
Autorin: Katharina Goldberg
Notwendiges Vorwissen: Prüfungsaufbau eines Freiheitsgrundrechts
Lernziel: Begriffs des Berufs definieren können, mit der 3-Stufen-Theorie bei Eingriff und Rechtfertigung umgehen
Die Berufsfreiheit ist als eines der Wirtschaftsgrundrechte beliebt in juristischen Prüfungen. Da sie in der Prüfung strukturell eine Besonderheit aufweist, sollte sie im Studium nicht vernachlässigt werden. Sie kann Studierenden regelmäßig sowohl in verfassungsrechtlichen als auch in verwaltungsrechtlichen Fallgestaltungen begegnen. Art. 12 I GG beinhaltet sowohl Abwehr- (unter A.) als auch Teilhaberechte (unter B.). Art. 12 II und III GG beinhalten den Schutz vor Arbeitszwang und Zwangsarbeit (im Kasten „Weiterführendes Wissen“).
A. Das Abwehrrecht des Art. 12 I GG
BearbeitenArt. 12 I GG ist trotz seiner entgegenstehenden Formulierung ein einheitliches Grundrecht, das die Berufswahl-, Berufsausübungs-, Arbeitsplatzwahl- und Ausbildungswahlfreiheit umfasst. Die Begriffe der „Wahl“ und „Ausübung“ eines Berufes lassen sich nicht trennen, sondern beschreiben jeweils eine zeitliche Phase der Berufstätigkeit zwischen ihrer Aufnahme und Ausübung. Daher spricht das BVerfG von einem einheitlichen Grundrecht der Berufsfreiheit, nimmt aber eine Differenzierung zwischen Berufsausübung und Berufswahl im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffes vor.[1]
I. Schutzbereich
Bearbeiten1. Sachlicher Schutzbereich
BearbeitenArt. 12 I 1 schützt ausdrücklich die Freiheit der Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte. Aus Art. 12 I 2 GG ergibt sich zudem, dass auch die Freiheit der Berufsausübung geschützt wird. Trotz des einheitlichen Schutzbereiches des Art. 12 I GG wird Inhalt und Umfang des Schutzbereiches durch eine Anknüpfung an diese Begriffe beschrieben.
a. Berufswahlfreiheit und Berufsausübungsfreiheit
BearbeitenDer Beruf ist eine auf eine gewisse Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit .[2] Unter den Berufsbegriff fallen alle denkbaren und damit auch neuen Berufsbilder. Auch Zweitberufe oder nebenberufliche Tätigkeiten sind geschützt (bspw. Züchter von Kampfhunden[3]). Abzugrenzen ist der Beruf von den Hobbies eines Grundrechtsträgers, die nicht von Art. 12 GG erfasst werden. Auch verbotene Tätigkeiten sind grundsätzlich erfasst, durch das Verbot greift der Gesetzgeber in Art. 12 I GG ein. Nur sozialschädliche Tätigkeiten werden nicht vom Berufsbegriff erfasst (bspw. Drogenhandel, Menschenhandel, Auftragsmörder).
Art. 12 I GG schützt sowohl die Berufswahlfreiheit, die in S. 1 genannt ist, als auch die Berufsausübungsfreiheit, die in S. 2 erwähnt wird. Die Berufswahlfreiheit schützt die Entscheidung, überhaupt einen Beruf zu ergreifen. Ebenso geschützt sind die Entscheidungen, einen Beruf nicht zu ergreifen oder einen solchen zu beenden. Die Berufswahlfreiheit ist stets einschlägig, wenn es um das „ob“ der Berufsausübung geht. Die Berufswahlfreiheit gilt auch für Nebenbeschäftigungen und Zweitberufe.
Die Berufsausübungsfreiheit schützt das „wie“ der Berufsausübung. Dies umfasst die Bestimmung von Form, Mittel und Umfang der Tätigkeit.
b. Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes
BearbeitenDer Arbeitsplatz ist der Platz, an dem der Beruf ausgeübt wird sowie den Umkreis der Betätigung.[4] Gegenstand des Grundrechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes ist der Entschluss des Einzelnen, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen, diese beizubehalten oder aufzugeben.[5] Das Grundrecht umfasst bei abhängig Beschäftigten auch den Zutritt zum Arbeitsmarkt und die Wahl des/r Vertragspartner:in.[6]
c. Freiheit der Wahl der Ausbildungsstätte
BearbeitenUnter einer Ausbildungsstätte versteht man eine berufsbezogene Einrichtung, die mehr als nur die allgemeine Schulbildung vermittelt und damit der Ausbildung für einen Beruf dient. Das Recht auf Zugang zur Ausbildungsstätte steht unter Kapazitätsvorbehalt, wobei bei staatlichen Ausbildungsstätten ein Kapazitätserschöpfungsgebot besteht (praktisch besonders relevant bei Studienplätzen an der Universität im Bereich Medizin). Art. 12 I GG schützt entgegen seinem Wortlaut nicht nur die Wahl der Ausbildungsstätte, sondern auch die Ausbildung und das Ausbildungswesen an sich.[7]
2. Persönlicher Schutzbereich
BearbeitenIn persönlicher Hinsicht sind Grundrechtsträger:innen von Art. 12 I GG alle Deutschen gemäß Art. 116 GG, für die die im Kapitel Grundrechtsberechtigung diskutierte Ausweitung auf EU-Bürger besteht. Nicht-EU-Bürger können sich auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG berufen. Nach Maßgabe des Art. 19 III GG schützt Art. 12 I GG auch inländische juristische Personen. Schutzgut des Art. 12 I GG ist bei juristischen Personen die Freiheit, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe, zu betreiben, soweit diese Tätigkeit ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden kann.[8]
II. Eingriff
BearbeitenIm Rahmen der Prüfung von Art. 12 I GG macht es einen Unterschied, ob man dem klassischen oder dem modernen Eingriffsverständnis folgt. Definiert man einen Eingriff nach dem klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff eine eine imperative (mit Befehl und Zwang durchsetzbare), zielgerichtete (finale), rechtsförmliche und unmittelbare Maßnahme. Nach dem modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts dagegen gegeben, wenn staatliches Handeln dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder erschwert.
1. Berufsregelnde Tendenz
BearbeitenFolgt man dem modernen Eingriffsverständnis, haben viele Handlungen des Staates zunächst mittelbar Auswirkungen auf die Berufstätigkeit.
Beispiel: Verkehrsrechtliche Regelungen haben beispielsweise mittelbare Wirkung auf die Tätigkeit von Pizza-Lieferdiensten.
Für das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit gibt das BVerfG daher das zusätzliche Kriterium der berufsregelnden Tendenz des staatlichen Handelns[9] vor, um den Eingriffscharakter staatlichen Handelns zu ermitteln. Eine solche liegt vor, wenn die Maßnahme im Schwerpunkt Tätigkeiten betrifft, die typischerweise beruflich ausgeübt werden. Nur bei Vorliegen dieses zusätzlichen Kriteriums kommt es zu einem Eingriff in die Berufsfreiheit.
2. Art des Eingriffs
BearbeitenEingriffe in die Berufsfreiheit können durch Rechtsakt oder durch Realakt erfolgen.
Beispiel: Einen solchen Realakt stellt staatliches Informationshandeln dar, wenn es in seiner Zielsetzung und seinen mittelbar-faktischen Wirkungen einem Eingriff in die Berufsfreiheit als funktionales Äquivalent gleichkommt.[10]
Es ist zudem sinnvoll, bereits im Eingriff zu bestimmen, ob in die Berufswahl- oder die Berufsausübungsfreiheit eingegriffen wurde. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das BVerfG in seinem Apothekerurteil die sogenannte Drei-Stufen-Theorie entwickelt hat.[11] Dafür hat das BVerfG innerhalb des einheitlichen Grundrechts der Berufsfreiheit Eingriffsarten in drei Intensitätsstufen ausformuliert, denen je nach Intensität höhere Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs folgen. Der Eingriff mit der niedrigsten Intensität ist einer in die Berufsausübungsfreiheit, es folgt auf der zweiten Stufe der Eingriff in die subjektive Berufswahlfreiheit und schließlich auf der dritten Stufe der Eingriff in die objektive Berufswahlfreiheit.
Ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit liegt vor, wenn das „wie“, also die Art und Weise der Berufsausübung betroffen ist.
Beispiel: Die Festsetzung von Ladenschlusszeiten[12], Rauchverbot in Gaststätten[13].
In die subjektive Berufswahlfreiheit wird eingegriffen, wenn das „ob“ der Berufswahl, also der Zugang zu einem Beruf betroffen ist und die staatliche Maßnahme sich auf Umstände, die in der Person des Betroffenen liegen, stützt.
Beispiel: Der Meisterzwang. Es steht jedem Betroffenen grundsätzlich frei, eine Meisterprüfung abzulegen und ist somit nur eine Frage der subjektiven Qualifikation. Weitere Beispiele: Altersgrenzen, Zuverlässigkeit, Würdigkeit, Geschäfts- und Prozessfähigkeit, erfolgreich abgelegte Prüfungen, beruflich erworbene Erfahrungen und die Nichternennung von Rechtsanwälten zu Staatsbeamten.[14]
In die objektive Berufswahlfreiheit wird eingegriffen, wenn das „ob“ der Berufswahl, also der Zugang zu einem Beruf betroffen ist und die staatliche Maßnahme sich auf Umstände, die außerhalb der Person des Betroffenen liegen, stützt.
Beispiel: Nur eine bestimmte Anzahl von Apotheken wird anteilig zur Bevölkerung zugelassen. So sehr eine Apotheker:in auch subjektiv an sich arbeitet, er/sie kann die objektive Anzahl verfügbarer Apotheken nicht ändern.[15]
Die Art des Eingriffs ist nicht nur bei der Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit, sondern auch bei Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes und Freiheit der Wahl der Ausbildungsstätte relevant. Die Wahl des Arbeitsplatzes kann ebenfalls an subjektive und objektive Voraussetzungen für den Erhalt eines Arbeitsplatzes angeknüpft werden. Bei der Ausbildungsfreiheit kommen neben der Anknüpfung an subjektive oder objektive Voraussetzungen auch Regelungen betreffend das Ausbildungswesen (also das „wie“ der Ausbildung) in Betracht.
Die Abgrenzung zwischen den Stufen des Eingriffes kann mitunter Schwierigkeiten bereiten. Da hierdurch jedoch nur eine Vorsortierung geschieht, die Anhaltspunkte für die Möglichkeit der Rechtfertigung des Eingriffs bieten soll, die hierfür durch das BVerfG entwickelten Maßstäbe jedoch nicht schematisch Anwendung auf die Eingriffsstufen finden, kommt es hier vor allem auf eine saubere Argumentation an. Die Bestimmung der Art des Eingriffs kann daher auch später im Rahmen der Angemessenheit stattfinden. Wichtig ist nur, dass entweder unter dem Prüfungspunkt Eingriff oder unter dem Prüfungspunkt Rechtfertigung die Drei-Stufen-Theorie nachgezeichnet und ihr Einfluss auf die heutige Rechtsprechung des BVerfG dargelegt wird. Der hier gewählte Aufbau wurde gewählt, da er die Prüfung entzerrt.
III. Rechtfertigung
BearbeitenEin Eingriff in Art. 12 I GG kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes gerechtfertigt werden.
1. Einschränkbarkeit des Grundrechts
BearbeitenArt. 12 I 2 GG enthält trotz des missverständlichen Wortlauts eine Schrankenregelung für alle Bestandteile des einheitlichen Grundrechts aus Art. 12 I GG. Durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes können also sowohl die Berufswahl- als auch die Berufsausübungsfreiheit, die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes und die Freiheit der Wahl des Ausbildungsplatzes beschränkt werden. Es handelt sich hierbei um einen einfachen Gesetzesvorbehalt.
2. Grenzen der Einschränkbarkeit
BearbeitenIm Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen der legitime Zweck, die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im engeren Sinne geprüft werden. Besonderheiten aus der Drei-Stufen-Theorie ergeben sich für die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.
a) Legitimes Ziel und Geeignetheit
BearbeitenNach den Anforderungen der Drei-Stufen-Lehre und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes müssen Eingriffe in die Berufsfreiheit einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet sein. Die Prüfung dieser Voraussetzungen kann noch unbeeinflusst von der Drei-Stufen-Theorie nach dem üblichen Vorgehen erfolgen.
Es ist ebenso möglich, die hier unter dem Prüfungspunkt der „Erforderlichkeit“ aufgeführten Überlegungen zur Prüfung der zusätzlichen Anforderungen der Drei-Stufen-Theorie bereits an dieser Stelle zu prüfen.[16]
b) Erforderlichkeit
BearbeitenIm Rahmen der Erforderlichkeit ist zu prüfen, ob es bei gleicher Wirksamkeit kein milderes Mittel zur Erreichung des Zweckes gibt. Für die Prüfung der Erforderlichkeit von Eingriffen in die Berufsfreiheit hat das BVerfG in seinem Apotheken-Urteil den Grundsatz aufgestellt,[17] dass ein Eingriff durch eine Eingriffsart auf einer höheren Stufe grundsätzlich nicht erforderlich sein kann, wenn ein Eingriff auf einer niedrigeren Stufe zur Zweckerreichung ausreichen würde. Es ist daher zu prüfen, ob statt einer objektiven Berufswahlregelung eine subjektive Berufswahlregelung oder Berufsausübungsregelung in Frage kommt. Beim Vorliegen einer subjektiven Berufswahlregelung ist zu prüfen, ob nicht eine Berufsausübungsregelung für die Zweckerreichung ausreicht.
Die Drei-Stufen-Theorie wurde seit ihrer Entstehung in der Rechtsprechung des BVerfG jedoch weiterentwickelt. Das BVerfG hat erkannt, dass eine Maßnahme auf niedrigerer Stufe eine stärkere Eingriffsintensität aufweisen kann als eine Maßnahme auf höherer Stufe.[18]
In ihren Grundgedanken kann (und sollte) die Drei-Stufen-Theorie auch heute noch für die Klausurlösung herangezogen werden. Wenn eine Maßnahme auf niedrigerer Stufe im Einzelfall jedoch eine stärkere Eingriffsintensität aufweist als eine Maßnahme auf höherer Stufe muss von der grundsätzlichen Regel abgewichen werden und die Maßnahme auf der höheren Stufe stellt das mildere Mittel dar (und ist damit erforderlich). Es ist daher notwendig zu prüfen, ob ein Eingriff auf einer niedrigeren Stufe im Einzelfall schwerer wiegt als ein Eingriff auf einer höheren Stufe. In einem solchen Fall bleibt es bei der Erforderlichkeit des Eingriffs auf der höheren Stufe. Hier können Klausurbearbeiter:innen ihr vertieftes Verständnis in der Anwendung der BVerfG-Rechtsprechung zu Art. 12 I GG zeigen, indem sie die Kenntnis der Historie der Normanwendung darlegen, aber die aktuellen Argumentationsmuster aufzeigen.
c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
BearbeitenEbenfalls anhand des Apothekerurteils hat das BVerfG Maßstäbe dafür entwickelt,[19] wann Eingriffe verhältnismäßig im engeren Sinne sind. Der jeweilige Maßstab orientiert sich an dem Wert des Zweckes, der mit der Maßnahme verfolgt wird.
Eingriffe in die Berufsausübung sind gerechtfertigt, wenn Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit sie verlangen.
Eingriffe in die subjektive Berufswahlfreiheit sind gerechtfertigt, wenn die Ausübung des Berufs ohne Erfüllung der Voraussetzungen unmöglich oder unsachgemäß wäre und Schäden oder Gefahren für die Allgemeinheit drohten.
Eingriffe in die objektive Berufswahlfreiheit sind gerechtfertigt, wenn sie zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut erforderlich sind.
Die genaue Bestimmung des Wertes des zu erreichenden Zweckes ist jedoch stark vom Einzelfall abhängig. So vertritt auch das BVerfG in seiner Rechtsprechung nicht immer eine klare Linie.[20] Es ist an dieser Stelle also einer guten Argumentation überlassen, welchen Wert ein verfolgter Zweck hat und welcher Eingriff auf diese Weise gerechtfertigt werden kann. Auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist heute daher nicht mehr „schematisch“ anhand der Maßstäbe des Apothekerurteils zu prüfen, vielmehr können die Grenzen zwischen den einzelnen Stufen verschwimmen. So hat auch das BVerfG die Stufentheorie durchbrochen, um das Verbot eines Spielbankunternehmens (eine objektive Berufswahlregelung) mit einem „wichtigen Gemeinwohlbelang“ zu rechtfertigen[21] und dies mit den „atypischen Besonderheiten“ des Berufs der Spielbankbetreiber gerechtfertigt.
Auch hier können Klausurbearbeiter:innen gut zeigen, dass sie die historische Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG kennen, jedoch auch wissen, dass diese sich heute weg von der schematischen Prüfung hin zu einer Stimmigkeitskontrolle unter Abwägung aller einfließenden Faktoren entwickelt hat.
B. Art. 12 I GG als Teilhabe- und Schutzrecht
BearbeitenArt. 12 I GG beinhaltet neben dem Abwehrrecht auch eine teilhaberechtliche Komponente. Diese tritt dann hervor, wenn es von einem staatlichen Gut weniger gibt als Interessenten an dem Gut. In solchen Fällen kann das staatliche Gut nur möglichst gleichmäßig unter den Interessenten verteilt werden. Damit besteht ein Anspruch auf Gleichbehandlung der Interessenten an dem Gut.
Beispiele: Begrenzte Studienplatzkapazitäten müssen so unter den Interessent:innen verteilt werden, dass unter Ausschöpfung aller personellen und sachlichen Mittel jede:r Interessent:in die Möglichkeit hat, einen Studienplatz zu erhalten bzw. auch an der gewünschten Universität zu studieren[22]. Eine Auswahl nach Leistungskriterien ist dabei gleichheitsrechtlich möglich [23].
Art. 12 I GG beinhaltet auch eine schutzrechtliche Komponente. So stehen insbesondere Verfahren bei Prüfungen, die den Zugang zu Berufen eröffnen (bspw. die juristischen Staatsprüfungen)[24] und ein Mindestschutz des Arbeitsplatzes durch das Kündigungsschutzgesetz und zivilrechtliche Generalklauseln[25] unter dem Schutz des Art. 12 I GG.
Art. 12 II GG
Art. 12 II GG enthält die Freiheit von Arbeitszwang. Ihr Schutzbereich umfasst „jedermann“ und sie schützt davor, zu einer bestimmten Arbeit gezwungen zu werden. Mit der Qualifizierung einer Pflicht als Arbeitszwang ist die Rechtsprechung sehr zurückhaltend. Ein Eingriff liegt nur vor, wenn jemand zu einer Arbeit in einem gewissen Umfang gezwungen wird. Wenn ein Zwang zu einer Arbeit im Rahmen der beruflichen Tätigkeit erfolgt ist nicht Art. 12 II GG, sondern Art. 12 I GG einschlägig.
Im Rahmen der Rechtfertigung ist zu beachten, dass die Auferlegung von Arbeitszwang durch ein formelles Gesetz erfolgen kann. Dieses muss gem. Art. 12 II GG eine herkömmliche allgemeine und für alle gleiche öffentliche Dienstleistungspflicht vorsehen.
Beispiele: Historisch sind hier gemeindliche Hand- und Spanndienste, die Pflicht zur Deichhilfe und die Feuerwehrpflicht[26] gemeint.
Art. 12 II GG ist daher sowohl in der Praxis als auch in der Prüfung eher unbedeutend.
Art. 12 III GG
Art. 12 III GG schützt vor Zwangsarbeit. Zwangsarbeit bedeutet den Einsatz der gesamten Arbeitskraft in bestimmter Weise. Die Freiheit von Zwangsarbeit ist zugleich ein Menschenrecht.
Beispiel: Die Arbeit in Erziehungs-, Arbeits- und Konzentrationslagern.
Zwangsarbeit ist gem. Art. 12 III GG nur bei gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehung zulässig.
Beispiele für gerechtfertigte Eingriffe sind die Arbeit Gefangener in einer Justizvollzugsanstalt (vgl. § 41 StVollzG), die im Jugendstrafrecht als Erziehungsmaßregel vorgesehene Weisung, Arbeitsleistungen zu erbringen (§ 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 JGG)[27] und die Bewährungsauflage, gemeinnützige Leistungen zu erbringen (§ 56b Abs. Abs. 2 Nr. 3 StGB)[28]
C. Konkurrenzen
BearbeitenArt. 12 I GG steht in einem Konkurrenzverhältnis zu Art. 33 GG. Art. 33 V GG beinhaltet einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber und eine institutionelle Garantie, enthält aber nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbares subjektives Recht der Beamten.[29] So sind dem Staat vorbehaltene Berufe von Art. 12 I GG, aber ebenfalls von Art. 33 GG erfasst.
Beispiel: Beamten, Soldaten, Richter
Auch staatlich gebundene Berufe werden von Art. 12 I GG erfasst. Diese liegen vor, wenn der Gesetzgeber dem Berufsinhaber öffentliche Aufgaben überträgt, die er dem eigenen Verwaltungsapparat vorbehalten könnte, und zu diesem Zweck die Ausgestaltung des Berufs dem öffentlichen Dienst annähert.[30]
Beispiel: Notare, Prüfingenieure für Baustatik, öffentlich bestellte Vermessungsingenieure sowie Bezirksschornsteinfeger.[31]
Art. 33 IV und 5 GG überlagern Art. 12 I GG. Je näher ein Beruf durch öffentlich-rechtliche Bindungen und Auflagen an den „öffentlichen Dienst" herangeführt wird, umso stärker können Sonderregelungen in Anlehnung an Art. 33 GG die Wirkung des Grundrechts aus Art. 12 I GG tatsächlich zurückdrängen.[32]
D. Europäische und internationale Bezüge
BearbeitenIm europäischen Mehrebenensystem gilt, dass die Berufsfreiheit als zentrales Menschenrecht Kern der europäischen Wirtschaftsverfassung ist, die auf europäischer Ebene über der grundrechtliche Gewährleistung des Art. 12 GG steht.[33] Sie findet sich in Art. 15 und 16 GRCh. Art. 15 I GRCh enthält das abwehrrechtlich wirkende Verbot hoheitlich veranlasster Behinderungen unselbständiger Arbeit und verstärkt damit den Rechtfertigungsdruck auf hoheitliche Regelungen von Berufswahl und -ausübung.[34] Art. 16 I GRCh schützt die unternehmerische Freiheit. Zwangs- und Pflichtarbeit werden in Art. 5 II GRCh verboten.
Die Grundfreiheiten wirken als besondere Berufsfreiheiten im EU-Binnenmarkt.[35] Ihr Verhältnis zum Grundrecht auf Berufsfreiheit ist bisher ungeklärt. Sekundärrechtlich stützen die Dienstleistungsrichtlinie[36] und die Berufsanerkennungsrichtlinie[37] die Verwirklichung der Berufsfreiheit.
Auf völkerrechtlicher Ebene sichern verschiedene Regelungen von Menschenrechten (Art. 12 und 23 Nr. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; Art. 6 Abs. 1, 7 lit. c Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) und das Übereinkommen der World Trade Organization mit dem General Agreement on Tariffs and Trade für den Warenhandel und dem General Agreement on Trade and Services für den Dienstleistungshandel die transnationale wirtschaftliche Betätigung.[38]
Weiterführende Studienliteratur
Bearbeiten- Goldhammer/Hofmann, Anfängerklausur Öffentliches Recht: Grundrechte, Gefährliche Bräune, JuS 2013, S. 704 ff.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Bearbeiten- Bei der Berufsfreiheit des Art. 12 I GG handelt es sich um ein einheitliches Grundrecht mit einem einheitlich geltenden einfachen Gesetzesvorbehalt.
- Im Rahmen der Prüfung des Eingriffs und der Rechtfertigung hat das BVerfG die sogenannte Drei-Stufen-Theorie entwickelt. Nach dieser ist es notwendig zu bestimmen, auf welcher Stufe (Berufsausübung, subjektive oder objektive Berufswahl) ein Eingriff stattgefunden hat, um dessen Intensität und damit die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs zu prüfen. Zu beachten ist jedoch, dass die Drei-Stufen-Theorie nicht schablonenartig angewendet werden darf, sondern nur einen Anhaltspunkt für die Intensität eines Eingriffs geben kann und diese darüber hinaus individuell in jedem Einzelfall zu ermitteln ist, um die Anforderungen für die Rechtfertigung eines Eingriffs zu ermitteln.
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ siehe zur historischen Entstehung dieser vermeintlich drei Schutzbereiche Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 36. Auflage 2020, § 21 Rn. 933.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 11.6.1958, 1 BvR 596/56, Rn. 54 ff. = BVerfGE 7, 377 (404 ff.) – Apotheken-Urteil.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 05.11.2003, 1 BvR 1778/01, Rn. 61 ff. = BVerfGE 110, 141, 156.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 24.04.1991, 1 BvR 1341/90, Rn. 58 = BVerfGE 84, 133, 146.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 24.04.1991, 1 BvR 1341/90, Rn. 58 = BVerfGE 84, 133, 146.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 25.01.2011, 1 BvR 1741/09, Rn. 69 = BVerfGE 128, 157.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 03.05.1972, 1 BvL 32/70 und 25/71, Rn. 64 = BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I.
- ↑ st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.03.1971, 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, Rn. 61 = BVerfGE 30, 292 – Erdölbevorratung.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 30.10.1961, 1 BvR 833/59, Rn. 20 = BVerfGE 13, 181 – Schankerlaubnissteuer.
- ↑ Beschl. v. 31.03.2018, 1 BvF 1/13, Rn. 28 = BVerfGE 148, 40 – Lebensmittelpranger.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 11.6.1958, 1 BvR 596/56, Rn. 67 = BVerfGE 7, 377 (404 ff.) – Apotheken-Urteil.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 29.11.1961, 1 BvR 760/57, Rn. 10 = BVerfG 13, 237 – Ladenschlußgesetz II.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 30.07.2008, 1 BvR 3262/07, 1 BvR 402/08, 1 BvR 906/08 Rn. 57 = BVerfGE 121, 317.
- ↑ Beispiele nach Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 36. Auflage 2020, Rn. 961.
- ↑ so auch in BVerfG, Urt. v. 11.6.1958, 1 BvR 596/56, Rn. 57 = BVerfGE 7, 377 (404 ff.) – Apotheken-Urteil.
- ↑ Dieser Prüfungsaufbau findet sich bspw. bei Goldhammer/Hofmann, Anfängerklausur Öffentliches Recht: Grundrechte, Gefährliche Bräune, JuS 2013, S. 704 ff.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 11.6.1958, 1 BvR 596/56, Rn. 57 = BVerfGE 7, 377 (404 ff.) – Apotheken-Urteil.
- ↑ vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.03.1971, 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, Rn. 64 ff. = BVerfGE 30, 292 – Erdölbevorratung.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 11.6.1958, 1 BvR 596/56, Rn. 77 ff. = BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil.
- ↑ zu dieser Einschätzung kommen auch nach Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 36. Auflage 2020, Rn. 985
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 19.07.2000, 1 BvR 539/96, Rn. 72 ff. = BVerfGE 102, 197 – Spielbankengesetz Baden-Württemberg.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 18.07.1972, 1 BvL 32/70 und 25/71, Rn. 66 = BVerfGE 33, 303 – numerus-clausus I.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 08.02.1977, 1 BvF 1/76, 1 BvL 7,8/75, 1 BvR 239/75, 92, 103-114, 115, 140-143, 187/76, Rn. 57 ff. = BVerfGE 43, 291 – numerus-clausus II.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 17.04.1991, 1 BvR 419/81 und 213/83, Rn. 39, 49 ff. = BVerfGE 84, 34 – gerichtliche Prüfungskontrolle.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 27.01.1998, 1 BvL 15/87, Rn. 35 = BVerfGE 97, 169 – Kleinbetriebsklausel I.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 29.11.1967, 1 BvR 175/66, Rn. 12 = BVerfGE 22, 380 – Dienstleistungspflichten von Kreditinstituten.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 13.01.1987, 2 BvR 209/84, Rn. 57 ff. = BVerfGE 74, 102,122 – Erziehungsmaßregeln.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 14.11.1990, 2 BvR 1462/87, BVerfGE 83, 119-129, Rn. 33 ff. (juris).
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 1.6.1958, 1 BvR 1/52, 46/52, Rn. 35 = BVerfGE 8, 1 – Teuerungszulage.
- ↑ Ruffert, in Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 47. Edition, Stand: 15.05.2021, § 12 Rn. 43.
- ↑ Nach Ruffert, in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 47. Edition, Stand: 15.5.2021, § 12 Rn. 43.1.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 11.6.1958, 1 BvR 596/56, Rn. 59 = BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil.
- ↑ Ruffert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 47. Edition Stand: 15.05.2021, Art. 12 Rn. 1.
- ↑ Ruffert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 47. Edition Stand: 15.05.2021, Art. 12 Rn. 3.
- ↑ EuGH, Urt. v. 15.10.1987, RS 222/86, Rn. 14 = EuGH Slg. 1987, 4097 Rn. 14.
- ↑ Richtlinie 2006/123/EG– Dienstleistungsrichtlinie.
- ↑ RL 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 7.9.2005, ABl. L 255, 22.
- ↑ Siehe hierzu Ruffert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 47. Edition Stand: 15.05.2021, Art. 12 Rn. 10.