Kommunikation & Meinung
Das Grundgesetz geht von einem „gemeinschaftsgebundenen und gemeinschaftsbezogenen“[1] Menschenbild aus. Das Individuum ist zur Entfaltung seiner Persönlichkeit auf Kontakt, Austausch und zwischenmenschliche Verbindungen angewiesen. Die in diesem Kapitel als Kommunikationsgrundrechte zusammengefassten Grundrechtsartikel entfalten aber auch Bedeutung über die individuelle Persönlichkeitsentfaltung hinaus. Eine demokratische Gesellschaft bedarf für ihre Organisation eines Prozesses der freien Meinungsbildung gleichermaßen im Individuellen wie auch im Öffentlichen. Demokratische Teilhabe, Mehrheitsbildung, Minderheitenschutz, Entscheidungsfindung und schließlich auch die Kontrolle der Ausübung demokratisch verliehener Herrschaftsgewalt setzen voraus, dass Meinungen frei gebildet und geäußert werden können.
Vielfältige Kommunikation
BearbeitenDiesen Anspruch haben auch bereits frühere deutsche Verfassungen formuliert. Im Zentrum des grundrechtlichen Schutzes steht die Meinungsfreiheit des Art. 5 I 1 Var. 1 GG, die durch die Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 Var. 2) ihr Gegenstück erfährt. Die Freiheit massenmedialer Kommunikation gewährleisten hingegen die Medienfreiheiten, Art. 5 I 2 GG. Hier tritt das Element der Persönlichkeitsentfaltung stärker gegenüber der Funktion freier Medien für den Prozess der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung zurück.
Meinungsbildung erfolgt aber nicht nur in den analogen oder digitalen Feuilletons und Kommentarspalten der Zeitungen, in den Sendungen des Rundfunks oder in den Feeds sozialer Medien, sondern findet einen kollektiven Ausdruck auch auf den Straßen. Den Versammlungen verleiht die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) grundrechtlichen Schutz. Wie weit dieser reicht, hängt dabei auch davon ab, ob als deren Zweck der Schutz des Individuums vor sozialer Isolation oder die Teilhabe an politischer Meinungsbildung gesehen wird. Bedeutung für die Meinungsbildung haben aber nicht nur temporäre, sich in Anbetracht eines singulär verbindenden Moments vorübergehend bildende Zusammenschlüsse, sondern auch auf Dauer angelegte Zusammenschlüsse, die vom Schutzbereich der allgemeinen Vereinigungsfreiheit des Art. 9 I GG erfasst werden. Kommunikation verläuft dabei nicht nur zwischen Privaten, sondern bindet auch den Staat als Kommunikationsakteur ein: Mit dem Petitionsrecht (Art. 17 GG) kennt es auch ein niedrigschwelliges Instrument, mit dem Betroffene ihre Beschwerden und Bitten an zuständige staatliche Stellen adressieren können.
Digitale Kommunikation
BearbeitenKommunikation verlagert sich zunehmend ins Internet. Damit ändern sich nicht nur die Formen von Kommunikation (Austausch von WhatsApps statt eines Anrufs auf das Festnetztelefon), sondern es entstehen auch neue Arten von Inhalten (etwa Instagram-Storys, Videos auf Tiktok oder Petitionen auf openPetition). Das Internet ist dabei nicht einfach ein neues Medium neben „klassischen“ Medien wie Presse oder Rundfunk: Einerseits ist das Internet eine neue Verbreitungsform klassischer Medien (Streamen von Rundfunk-Angeboten, Zeitungen in Online-Version). Andererseits ermöglicht es hybride Formate (etwa Zeitungsartikel, die von kurzen Videos oder Tweets unterbrochen sind) und schließlich ganz neue Medien (insb. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter). Diese Veränderungen stellen auch das Recht vor Herausforderungen: Klassische Kategorisierungen passen nicht mehr. Definitionen müssen verändert oder ergänzt werden, um Phänomene wie Online-Flashmobs oder Shitstorms zu erfassen. Rechtsprechung und Literatur sind vielfach noch in der Findungsphase. Das macht aktuelle Internetphänomene für Klausursteller:innen interessant. Hier gilt es, nicht nur auswendig gelerntes Wissen zu reproduzieren, sondern überkommene Kategorien zu hinterfragen und unter Rückgriff auf die Schutzzwecke der Grundrechte kreativ zu argumentieren: Ist die Online-Versammlung durch Art. 8 GG geschützt? Ist ein online gestellter Zeitungsbericht Presse i.S.d. Art. 5 I 2 GG? Macht es einen Unterschied, ob eine herabwürdigende Äußerung am Stammtisch geäußert wird oder auf Twitter?
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ BVerfGE 50, 290 (320).