Wirtschaft & Gemeinwohl
Die in diesem Abschnitt behandelten Grundrechte der Eigentums- und Erbrechtsgarantie, der Berufsfreiheit und der Koalitionsfreiheit werden den sog. Wirtschaftsgrundrechten zugeordnet. Dies liegt in ihrer besonderen Bezüglichkeit zur Wirtschaft begründet: Art. 12 I GG schützt die Freiheit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Art. 14 I 1 GG ergänzt diesen Schutz um das Recht, das Erworbene auch behalten zu dürfen und darüber sogar über den Tod hinaus zu verfügen (Erbrechtsgarantie). Art. 9 III GG gewährt das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden.
Ob die Grundrechte als Teil einer grundgesetzlichen "Wirtschaftsverfassung" gelten können, ist umstritten. Denn das Grundgesetz enthält nur punktuelle Regelungen mit Bezug zur Wirtschaft, keinen eigenständigen Abschnitt.[1] Bezweifelt wird, ob aus diesen über das Grundgesetz verteilten Bestimmungen überhaupt so etwas wie eine Wirtschaftsverfassung im Sinne einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung wirtschaftspolitischer Leitlinien abgeleitet werden können.[2] Weder die Extrempositionen, wonach das Grundgesetz eine planwirtschaftliche Anlage aufweise oder strikt marktwirtschaftlich konzipiert sei, noch der vermittelnde Ansatz, dem zufolge die Verfassung eine soziale Marktwirtschaft konstituiere, konnten sich durchsetzen.[3] Diesen Ansätzen hat das BVerfG durch den Ausspruch von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des GG" eine Absage erteilt,[4] auch wenn daran bis heute von Teilen der Literatur Kritik geübt wird.[5] Dementsprechend sieht die heute wohl herrschende Meinung die Frage der wirtschaftspolitischen Ausrichtung Deutschlands als dem politischen Diskurs überlassen an. Bedeutung entfaltet das GG aber als Ordnungsrahmen, an dem wirtschaftspolitische Einzelmaßnahmen zu messen sind.[6] Nur insofern kann von "Wirtschaftsverfassung" gesprochen werden. Hieraus können durchaus gewisse Grenzen für wirtschaftspolitische Extreme abgeleitet werden: Marktradikalen Lösungen, bei denen der Staat seine Steuerungsressourcen gänzlich zugunsten der „unsichtbaren Hand des Marktes“ aufgäbe, stünde etwa das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 I GG, die Menschenwürde, der Gleichheitssatz, der Umweltschutz aus Art. 20a GG, die Möglichkeit zu Grundrechtsschranken und die Sozialbindung des Eigentums entgegen.[7] Art. 12 I und 14 I 1, 15 GG stünden aber andererseits einer zentral gelenkten Planwirtschaft und einer vollständigen Vergesellschaftung des Privateigentums entgegen. Das GG gewährt also einerseits wirtschaftliche Freiheiten, erlaubt dem Gesetzgeber aber zugleich, diese im Sinne des Gemeinwohls einzuschränken. Diese Spannungslage aus Gemeinwohlbindung und wirtschaftlicher Freiheit macht die Wirtschaftsgrundrechte so spannend, weil ihr Verhältnis in jeder staatlichen Maßnahme neu ausgelotet werden muss.[8]
Anders als das GG legt sich das europäische Primärrecht auf eine soziale Marktwirtschaft fest (Art. 3 III 2 EUV).[9] Das europäische Primärrecht wird aber wohl überwiegend dahin gehend verstanden, dass es die mitgliedstaatliche Autonomie in Hinblick auf die wirtschaftspolitische Ausrichtung nicht derart einenge, dass dies Auswirkungen auf das Verständnis des GG als wirtschaftspolitisch neutral habe.[10]
Die Grundrechte erfüllen mehrere für das Wirtschaftsrecht relevante Funktionen. Zentrale Bedeutung kommt ihrer Funktion als Abwehrrechte zu (status negativus). Art. 12 I und 14 I GG schützen vor staatlichen Eingriffen in Beruf, Wettbewerb, Eigentum und Erbrecht. Art. 9 III GG schützt vor Beeinträchtigungen der koalitionsmäßigen Betätigungsfreiheit.
Darüber hinaus haben die Wirtschaftsgrundrechte aber auch Bedeutung in ihrer Leistungsdimension (status positivus). Zwar begründen sie nach h.M. keine originären Leistungsansprüche: Aus Art. 12 I GG lässt sich kein Anspruch auf Schaffung von Arbeitsplätzen herleiten. Auch ergibt sich aus der Norm kein pauschaler Anspruch auf die Eröffnung von Wettbewerb und damit keine Liberalisierungspflicht, weil Monopolisierungen grundrechtlich gerechtfertigt werden können. Art. 14 I GG gewährt keinen Anspruch auf Gewährung/Bildung von Eigentum. Die Normen vermitteln aber staatliche Schutzpflichten und daraus folgende Handlungsaufträge, indem sie den Gesetzgeber zur Ausgestaltung eines einfach-rechtlichen Eigentumsregimes und auch eines ausreichenden strafrechtlichen Eigentumsschutzes verpflichten.[11] Aus Art. 12 I GG wird die Verpflichtung entnommen, sich schützend vor den Wettbewerb und damit auch vor überzogene zivilrechtliche Bindungen von Wettbewerbern zu stellen, weshalb der Gesetzgeber zur Schaffung eines Kartellrechts angehalten ist.[12]
Die Grundrechte gewährleisten zudem einen Anspruch auf chancengerechte Teilhabe am Wettbewerb (sog. derivative Teilhaberechte). Nicht abschließend geklärt ist, wo dieser Teilhabeanspruch genau zu verorten ist: Teils wird auf Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG, teils ausschließlich auf Art. 3 I GG rekurriert. Er wird insbesondere im Zusammenhang mit staatlichen Allokationsentscheidungen im Falle begrenzter Güter relevant, weil die Grundrechte dann auf ein gleichheitsgerechtes Verteilungsverfahren drängen. Als Beispiel kann hier die Konkurrenz um Erlaubnisse, z.B. Offshore-Anlagen zu betreiben oder mit einem Stand auf einem Markt zugelassen zu werden, genannt werden. Ein weiterer, durch das Vergaberecht in besonderer Weise strukturierter Bereich staatlicher Verteilung ist die Beschaffungsverwaltung, in der (teilweise) auch Art. 3 I GG maßstabsbildend wirkt. Hier erfolgt Grundrechtsschutz durch Verfahrensgewährleistungen, indem die Grundrechte die chancengerechte Teilhabe am Vergabeverfahren gewährleisten. Eine grundrechtlich indizierte Strukturierung von Verfahren findet sich aber auch in anderen Bereichen, etwa im Gewerbeuntersagungsverfahren,[13] bei berufsbezogenen Prüfungsverfahren[14] und im Enteignungsverfahren.[15]
Art. 14 I GG erfüllt schließlich die Funktion einer Einrichtungsgarantie: Eigentum und Erbrecht aus Art. 14 I 1 GG dürfen als solche nicht abgeschafft werden.
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ Anders war dies noch in der Weimarer Reichsverfassung, s. den als "Das Wirtschaftsleben" überschriebenen 5. Abschnitt (Art. 151 ff. WRV).
- ↑ Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, 3. Teil, 6. Abschnitt Rn. 1.
- ↑ Vgl. Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, 3. Teil, 6. Abschnitt Rn. 2 ff.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 20.7.1954, Az.: 1 BvR 459 u.a. = BVerfGE 4, 7 (17) (Investitionshilfe); BVerfG, Urt. v. 1.3.1979, Az.: 1 BvR 532, 533/17 u.a. = BVerfGE 50, 290 (336) (Mitbestimmung).
- ↑ S. eingehend Sodan, in: Ziekow, Wirtschaft und Verwaltung vor den Herausforderungen der Zukunft, 2000, S. 35 (36 ff.).
- ↑ Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, 3. Teil, 6. Abschnitt Rn. 4; vgl. auch Knauff, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 1.
- ↑ Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, 3. Teil, 6. Abschnitt Rn. 5.
- ↑ Von einem fruchtbaren Spannungsverhältnis spricht Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, 3. Teil, 6. Abschnitt Rn. 6.
- ↑ Zur nunmehr verstärkten Berücksichtigung auch sozialer Aspekte in der EU Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, 3. Teil, 6. Abschnitt Rn. 7; näher Stumpf, Das Recht der sozialen Marktwirtschaft im BInnenmarkt, in: Müller-Graff, Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht, 2. Aufl. 2021, § 23.
- ↑ S. dazu näher Jungbluth, EuR 2010, 471.
- ↑ S. §§ 242, 303 StGB; so Axer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 14 Rn. 22.
- ↑ Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, § 35 Rn. 41.
- ↑ Für Art. 12 I GG Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, § 35 Rn. 43.
- ↑ Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, § 35 Rn. 48.
- ↑ Hufen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2021, § 38 Rn. 46.