Grundrechtsbindung
Autorin: Sué González Hauck
Lernziel: Struktur und Hintergründe der Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt verstehen
Notwendiges Vorwissen: Grundrechtsfunktionen, Grundrechtsberechtigung natürlicher und juristischer Personen
Grundrechte gelten in dem Verhältnis zwischen Staat und Bürger:in und verleihen den Einzelnen gegenüber dem Staat subjektive Rechte. Grundrechtsberechtigt sind daher zunächst natürliche Personen, in bestimmten Fällen auch juristische Personen – jedenfalls aber Private. Auf der anderen Seite dieser Rechtsbeziehung steht der Staat als Adressat der Grundrechte. Nur Hoheitsträger können direkt an die Grundrechte gebunden sein.
A. Umfassende Grundrechtsbindung der Staatsgewalt
BearbeitenAusgangspunkt für die Beantwortung der Frage danach, was konkret mit der Grundrechtsbindung des Staates gemeint ist, bildet Art. 1 III GG: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. Der enumerative Charakter des Wortlauts, der einzelne staatliche Funktionen benennt, lässt vermuten, dass die Grundrechtsbindung von der eindeutigen Zuordnung zu einer der drei klassischen Gewalten abhängt. Tatsächlich ist immer dann, wenn sich eine Tätigkeit eindeutig einer der drei klassischen Gewalten zuordnen lässt, unproblematisch zu bejahen, dass hoheitliches Handeln vorliegt und bei diesen Handeln daher die Grundrechte zu beachten sind. Jedoch soll durch Art. 1 III GG die Grundrechtsbindung nicht eingeschränkt werden auf diese klassischen Formen der Ausübung von Hoheitsgewalt. Die Formulierung soll vielmehr deutlich machen, dass der Grundrechtsschutz gegenüber allen Ausprägungen staatlichen Handelns gilt. Insbesondere sollte die Grundrechtsbindung der gesetzgebenden Gewalt hervorgehoben werden, was zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes noch nicht selbstverständlich war.[1]
Auch teleologische und systematische Argumente sprechen für eine umfassende Grundrechtsbindung der Staatsgewalt. Die Grundrechtsbindung ist die Kehrseite des Umstands, dass staatliche Organe und Organisationen den Anspruch erheben können, dem Gemeinwohl zu dienen und damit im Namen aller Bürger:innen zu handeln. Deshalb ist staatliche Gewalt i.S.d. Art. 1 III GG jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen.[2]
Nach der Rechtsprechung des BVerfG gelten die Grundrechte daher „nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung, sondern binden die staatliche Gewalt umfassend und insgesamt“.[3] Der Staat ist also nicht nur dann an die Grundrechte gebunden, wenn er in Form eines Gesetzes, Verwaltungsaktes, oder Urteils oder in einer anderen klar rechtsförmigen und einer der drei Staatsgewalten zuzuordnenden Handlungsform tätig wird. Auch bei rein tatsächlichem Handeln wie etwa Informationshandeln müssen Träger:innen öffentlicher Gewalt die Grundrechte beachten.[4]
In der Klausur werden Fragen der Grundrechtsbindung relevant im Prüfungspunkt Grundrechtseingriff.
Art. 1 III GG ist Ausdruck einer grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Staat auf der einen und den Bürger:innen auf der anderen Seite. Private müssen sich grundsätzlich für ihr Handeln nicht rechtfertigen. Werden ihnen durch die Rechtsordnung Pflichten auferlegt, so bedarf das wiederum der Rechtfertigung. Der Staat dagegen handelt in treuhänderischer Aufgabenwahrnehmung für die Bürger:innen. Sobald der Staat eine Aufgabe an sich zieht und wahrnimmt, ist er dabei an die Grundrechte gebunden und zwar unabhängig davon, in welcher Handlungs- und Rechtsform die Aufgabe wahrgenommen wird. Insbesondere kann sich der Staat nicht durch eine Flucht ins Privatrecht seiner Grundrechtsbindung entziehen. Das bedeutet, dass der Staat sich zwar privater Organisations- und Handlungsformen bedienen kann, um seine Aufgaben wahrzunehmen, dabei aber an die Grundrechte gebunden bleibt.[5]
B. Unmittelbare Grundrechtsbindung öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen
BearbeitenSteht ein Unternehmen vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand, so ist sowohl das Unternehmen selbst als auch der öffentliche Träger, der die Anteile hält, unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Dadurch wird eine effektive Grundrechtsbindung gewährleistet, die nicht durch die konkrete Ausgestaltung der gesellschaftsrechtlichen Einflussmöglichkeiten beeinträchtigt wird.[6]
Mit dem einflussreichen Fraport-Urteil hat das BVerfG eine unmittelbare Grundrechtsbindung auch für sogenannte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen bejaht, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden.[7] Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen sind solche, die sowohl öffentliche als auch private Anteilseigner:innen haben. Von der öffentlichen Hand "beherrscht" wird ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen in der Regel dann, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen.[8]
Examenswissen: Vor dem Fraport-Urteil war nicht geklärt, ob auch bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen sowohl das Unternehmen selbst als auch der öffentliche Anteilseigner an die Grundrechte gebunden ist. Als Alternative wurde diskutiert, die Grundrechtsbindung allein der öffentlichen Anteilseigner zu bejahen und die Bürger:innen damit auf die gesellschaftsrechtlichen Einflussmöglichkeiten zu verweisen. Dieser Option erteilte das BVerfG jedoch mit folgender Argumentation eine Absage: Die Frage nach der Grundrechtsbindung könne auch bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen nur einheitlich bejaht werden. Eine Grundrechtsbindung könne nicht quotenweise realisiert werden. Plakativ gesagt kann also ein Unternehmen nicht etwa zu 60 % an die Grundrechte gebunden sein, wenn der Staat 60 % der Anteile hält. Auch sei es nicht ausreichend, eine Grundrechtsbindung allein der öffentlichen Anteilseigner zu bejahen, da deren Einwirkungsrechte auf das Unternehmen oft selbst dann beschränkt ist, wenn eine Person die Mehrheit der Anteile hält. Schließlich sei zu bedenken, dass auch mehrere öffentliche Anteilseigner an einem Unternehmen beteiligt sein können, sodass es äußerst mühsam und schwerfällig wäre, die eigenen Grundrechte gegenüber jedem einzelnen Anteilseigner geltend zu machen.[9].
C. Extraterritoriale Grundrechtsbindung
BearbeitenWie das BVerfG jüngst im BND-Urteil festgestellt hat, lässt sich Art. 1 III GG keine Einschränkung entnehmen, wonach die Grundrechtsbindung etwa von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder von der Ausübung spezifischer hoheitlicher Befugnisse abhängig wäre.[10] Das Urteil betraf die sogenannte Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, also die Überwachung von Kommunikationsvorgängen zwischen Ausländer:innen im Ausland. Es waren also weder deutsche Staatsbürger:innen betroffen noch ging es um Tätigkeiten auf deutschem Hoheitsgebiet. Das BND-Urteil stellte klar, dass auch in diesen Konstellationen die deutsche Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden ist.
Da sich für eine Einschränkung der Grundrechtsbindung auf das Hoheitsgebiet keine Anhaltspunkte im Wortlaut des Art 1 III GG finden, mag es überraschen, dass die im BND-Urteil erfolgte Klarstellung erst in jüngster Zeit erfolgte und derart große Wellen schlug.Vor diesem Urteil wurden verschiedene Theorien vertreten, mit denen argumentiert wurde, dass insbesondere die Geheimdiensttätigkeit im Ausland, speziell die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nicht von der Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte umfasst sei. Die Geltung des Grundgesetzes sei auf das deutsche Territorium begrenzt. Weiterhin wurde gegen eine Grundrechtsbindung argumentiert, BND-Agent:innen handelten im Ausland als Private, da sie in einem anderen Staat dessen Hoheitsgewalt unterlägen und nicht selbst Hoheitsgewalt ausübten.[11]
Examenswissen: Das BVerfG stützt das im BND-Urteil gewonnene Ergebnis im Wesentlichen auf folgende Argumente[12]: Das Grundgesetz enthalte in Art. 1 II GG ein klares Bekenntnis zu der Universalität der Menschenrechte und stelle dieses Bekenntnis in den Zusammenhang mit internationalen Menschenrechtsgewährleistungen. Diesem Prinzip widerspräche es, wenn Grundrechte außerhalb des Staatsgebiets der Bundesrepublik nicht gälten.[13]
Die Tatsache, dass das Handeln deutscher Träger öffentlicher Gewalt im Ausland vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen Interventionsverbots rechtfertigungsbedürftig ist, spreche ebenfalls für und nicht gegen eine Grundrechtsbindung jenseits der territorialen Grenzen der Bundesrepublik. Eine solche Grundrechtsbindung keine Kompetenz zum auswärtigen Handeln, sondern unterwerfe vielmehr das auswärtige Handeln deutscher Staatsorgane zusätzlichen Schranken.[14]
Eine territoriale Einschränkung des Grundrechtsschutzes lehnte das BVerfG auch vor dem Hintergrund der Missbrauchsgefahren ab, die sich daraus ergeben, dass durch staatliche Kooperation - gerade und insbesondere auf dem Gebiet der Geheimdienstkooperation - grundrechtliche Bindungen unterlaufen werden können.[15]
Ergänzend zieht das BVerfG die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes heran. Zwar sei eine extraterritoriale Geltung nicht explizit Gestand der Beratungen gewesen; jedoch spreche der in Abkehr von der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft formulierte Anspruch eines umfassenden Grundrechtsschutzes dafür, dass die Grundrechte immer dann schützen sollen, wenn der deutsche Staat handelt und damit potenziell Schutzbedarf auslösen könne - unabhängig davon, an welchem Ort und gegenüber wem.[16]
Mit dem BND-Urteil ist also entschieden, dass die Grundrechte zumindest in ihrer Abwehrfunktion keiner territorialen Einschränkung unterliegen. Konsequenzen hat das nicht nur für die Tätigkeit des BND, sondern vor allem auch für Auslandseinsätze der Bundeswehr.
Beispiel zu möglichen Grundrechtsfragen bei Bundeswehr-Auslandseinsätzen: Beispielsweise bedeutet die Tatsache, dass die Grundrechte die deutsche Staatsgewalt auch jenseits der territorialen Grenzen Deutschlands binden, auch, dass deutsche Soldaten am Horn von Afrika Piraten nur aufgrund einer den Anforderungen der Art. 2 II 2, 104 GG genügenden Rechtsgrundlage festnehmen dürfen.[17]
Offen geblieben ist, ob und gegebenenfalls wie andere Grundrechtsfunktionen sich ebenfalls über das deutsche Staatsgebiet hinaus entfalten. Nach wie vor ungeklärt und umstritten ist insbesondere, ob die Abwesenheit einer territorialen Einschränkung der Grundrechtsbindung auch für Schutzpflichten gilt.[18] Extraterritoriale Schutzpflichten erscheinen in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen begründen Schutzpflichten anders als Abwehrrechte eine Handlungspflicht des Staates. Diese stünde in Konflikt mit dem völkerrechtlichen Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Zum anderen sind Schutzpflichten eng mit dem auf das Staatsgebiet bezogenen und begrenzten staatlichen Gewaltmonopol verknüpft.
Beispiel zu extraterritorialen Schutzpflichten: Bejaht wurde in der Rechtsprechung jüngst eine über die deutschen Staatsgrenzen hinaus wirkende Schutzpflicht im Hinblick auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrheit der Familienmitglieder eines deutschen IS-Kämpfers.[19] Zu beachten ist dabei jedoch, dass es sich in diesem Fall bei den Antragsteller:innen um deutsche Staatsbürger:innen handelte.
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte
Bearbeiten- Die deutsche Staatsgewalt in all ihren Ausprägungen ist umfassend an die Grundrechte gebunden.
- Nicht an die Grundrechte gebunden sind grundsätzlich Private.
- Die Staatsgewalt bleibt auch dann an die Grundrechte gebunden, wenn sie sich der Formen des Privatrechts bedient.
- Auch im Ausland sind deutsche Hoheitsträger, insbesondere der Bundesnachrichtendienst und die Bundeswehr, an die Grundrechte gebunden.
Weiterführende Studienliteratur
Bearbeiten- Zur Grundrechtsbindung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen: Elke Gurlit, Grundrechtsbindung von Unternehmen, NZG 2012, 249-255.
- Zur extraterritorialen Grundrechtsbindung: Robert Uerpmann-Wittzack, Der offene Rechtsstaat und seine Freunde, Jura 2020, 953-961.
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.5.2020, Az.: 1 BvR 2835/17, Rn. 90.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.2.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 47.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.2.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 47.
- ↑ BVerfG, Beschl. v. 26.6.2002, Az.: 1 BvR 558, 1428/91, Rn. 40 ff.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.2.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 48.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.02.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 50
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.2.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 49
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.02.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 53
- ↑ BVerfG, Urt. v. 22.02.2011, Az.: 1 BvR 699/06, Rn. 52
- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.5.2020, Az.: 1 BvR 2835/17, Rn. 88.
- ↑ Für einen Überblick über die vertretenen Theorien und vorgebrachten Argumente m.w.N., s.: Hölscheidt, Jura 2017, 148, 150 f.
- ↑ Eine ausführliche Darstellung der Argumentation des BVerfG und des Kontexts des BND-Urteils findet sich bei: Uerpmann-Witzack, Jura 2020, 953.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.5.2020, Az.: 1 BvR 2835/17, Rn. 94-96.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.5.2020, Az.: 1 BvR 2835/17, Rn. 101.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.5.2020, Az.: 1 BvR 2835/17, Rn. 96.
- ↑ BVerfG, Urt. v. 19.5.2020, Az.: 1 BvR 2835/17, Rn. 89.
- ↑ Uerpmann-Witzack, Jura 2020, 953, 956.
- ↑ Eingehend und instruktiv dazu: Uerpmann-Witzack, Jura 2020, 953, 956 f.
- ↑ VG Berlin, Beschl. v. 10.7.2019, Az.: 34 L 245.19; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 6.11.2019, Az.: OVG 10 S 43.19.