Damit die Grundrechte in der Praxis Wirkung entfalten, müssen sie im Konfliktfall durchsetzbar sein. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass der Staat hierfür vorhersehbare und überprüfbare Verfahren zur Verfügung stellen muss. Grundrechtlich wird dies durch die sogenannten Verfahrensgrundrechte abgesichert.

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Mehrere Bereiche judizieller Gewährleistungen sind zu unterscheiden: Den Zugang zu einem effektiven Verfahren sichern die Rechtsweggarantie (Art. 19 IV 1 GG) und der allgemeine Justizgewährungsanspruch.[1] Für eine angemessene Durchführung des Gerichtsverfahrens sorgen die Verfahrensrechte vor Gericht. Hierbei ist weiter zu differenzieren: In allen Gerichtszweigen gilt das Recht auf den:die gesetzliche:n Richter:in (Art. 101 I 2 GG) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG). Im Strafrecht gibt es aufgrund der hohen Eingriffsintensität zusätzliche Vorgaben; verboten sind eine Strafe ohne Gesetz (nulla poena sine lege, Art. 103 II GG) und eine mehrmalige Bestrafung wegen derselben Tat (ne bis in idem, Art. 103 III GG).

Der folgende Abschnitt vermittelt die Grundzüge und dogmatischen Besonderheiten dieser zentralen Bereiche. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Gewährleistungen mit Verfahrenscharakter. Diese werden an anderen Stellen des Lehrbuchs vertieft behandelt (Petitionsrecht aus Art. 17 GG, Art. 14 III S. 4 GG) oder wegen ihrer geringen Klausurrelevanz ausgeklammert (Fair-trial Grundsatz aus Art. 6 I EMRK, Gebot prozessualer Waffengleichheit aus Art. 3 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 34 S. 3 GG).

Praktische Relevanz

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Die Verfahrensgrundrechte sind ein zentraler Baustein eines rechtsstaatlichen Justizsystems. Ihre Bedeutung zeigt sich vor allem in der Praxis. Viele Verfassungsbeschwerden rügen eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten. Dies überrascht nicht, sichern diese doch den Minimalstandard an Rechtsschutz. Judizielle Gewährleistungen kommen vor allem dann zum Zuge, wenn kein oder kein effektives Rechtsschutzverfahren zur Verfügung steht oder Vorgaben innerhalb des Verfahrens unterlaufen wurden. Dies ist bespielsweise im Bereich staatlicher Überwachung oder in Rechtsgebieten der Fall, die von Besonderheiten wie beschleunigten Verfahren – das Migrationsrecht – oder weiten behördlichen Beurteilungs- und Ermessensspielräumen – das Umweltrecht – geprägt sind. Wie wichtig schnelle Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Grundrechtseinschränkungen sind, zeigte nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie: Die Zahl der Eilverfahren vor dem BVerfG stieg auf ein Rekordniveau.

Daneben sind Verfahrensgrundrechte auch in rechtspolitischer Hinsicht bedeutsam: Sie geben die Rahmenbedingungen für rechtsstaatliche Verfahren und die Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems insgesamt vor. Reformen des Prozessrechts oder der Justiz – ganz aktuell im Zuge der Digitalisierung oder europäische Impulse für mehr kollektiven Rechtsschutz – müssen sich an ihnen messen lassen. Auch aktuell geplante Reformen des Strafverfahrens und der Strafprozessordnung – zum Beispiel die Wiederaufnahme trotz eines rechtskräftigen Freispruchs – berühren Verfahrensgrundrechte.

Klausurtaktik

Trotz ihrer enormen praktischen Relevanz spielen die Grundrechte in Justiz und Verfahren in der juristischen Ausbildung eine eher untergeordnete Rolle. Dies hängt damit zusammen, dass das Prozessrecht kein Schwerpunkt im ersten Staatexamen ist. Dies ändert sich allerdings im zweiten Staatexamen und spätestens in der Rechtspraxis, weshalb eine frühere Auseinandersetzung mit den dogmatisch komplexen Verfahrensrechten ratsam ist.

Systematik: Ansprüche auf und im Verfahren

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Systematisch haben die Rechte innerhalb des Gerichtsverfahrens (Art. 101 I 1 GG; Art. 103 I GG) und im Strafverfahren (Art. 103 II, III GG) als speziellere Regelungen Vorrang vor der Rechtsweggarantie (Art. 19 IV 1 GG); der allgemeine Justizgewährungsanspruch hat eine Auffangfunktion. Ohne Folgen für die Prüfung in der Klausur ist dabei, dass Art. 101 I 1 GG und Art. 103 I GG nur grundrechtsgleiche Rechte sind.

Die Abgrenzung der einzelnen Gewährleistungen ist nicht ganz einfach. Insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör und die Rechtsweggarantie überschneiden sich inhaltlich. Eine Leitfrage kann Orientierung geben: Geht es um Ansprüche auf Verfahren, also um das „Ob“ des gerichtlichen Rechtsschutzes (dann: Art. 19 IV 1 GG) oder um Ansprüche im Verfahren, also das „Wie“ des gerichtlichen Rechtsschutzes (dann: Art. 101 I 1, 103 GG)?[2]

In ihrer Einschränkbarkeit gleichen sich die judiziellen Gewährleistungen aber: Sie enthalten alle keinen geschriebenen Gesetzesvorbehalt. Ob sie durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar sind, wird für die einzelnen Rechte wiederum unterschiedlich beantwortet.

Prüfungsaufbau: Zwei Varianten

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Die Verfahrensgrundrechte sind keine reinen Abwehrrechte gegen den Staat, sondern haben eine leistungsrechtliche Dimension. Sie sichern einen Anspruch auf positives Tun des Staates, konkret auf effektiven, wirksamen und gleichen Rechtsschutz (Art. 19 IV 1 GG), auf den:die gesetzliche:n Richter:in (Art. 101 I 1 GG) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG).

Wer diese dogmatische Besonderheit im Prüfungsaufbau deutlich machen möchte, kann einen zweistufigen Anspruchsaufbau wählen.[3] Dieser Prüfungsaufbau weicht von dem dreistufigen, abwehrrechtlichen Aufbau mit Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung ab. In einem ersten Schritt sind die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen. In einem zweiten Schritt sind die Anspruchsinhalte darzulegen und zu erörtern, ob diese versagt wurden. Sofern die Versagung dem Schutze kollidierender Güter von Verfassungsrang dient und/oder unverhältnismäßig ist, liegt eine Verletzung des Grundrechts bzw. des grundrechtsgleichen Rechts vor.

Ebenso möglich ist die dreistufige, abwehrrechtliche Prüfung.[4] Inhaltlich sind jeweils dieselben Punkte zu behandeln, nur unter anderen Überschriften. Wer den abwehrrechtlichen Aufbau bevorzugt, muss die Anspruchsvoraussetzungen und die Anspruchsinhalte im Rahmen des Schutzbereichs erörtern. Anders als bei den materiellen Grundrechten liegt der Prüfungsschwerpunkt dann auf dem Schutzbereich. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt vor, wenn kein Rechtsweg zur Verfügung stand (Art. 19 IV 1 GG), der:die gesetzliche Richter:in entzogen (Art. 101 I 1 GG) oder das rechtliche Gehör beeinträchtigt wurde (Art. 103 II GG). Im Rahmen der Rechtfertigung ist festzuzustellen, dass die Verfahrensrechte schrankenlos gewährleistete Grundrechte sind. Es gilt deshalb zu prüfen, ob die Beschränkung im Interesse kollidierenden Verfassungsrechts oder durch die Grundrechte Dritter möglich ist, ob solche Interessen vorliegen und die Beschränkung verhältnismäßig ist.

Die folgenden Abschnitte in diesem Kapitel illustrieren beide möglichen Aufbauvarianten (zum Anspruchsaufbau siehe die Rechtsweggarantie aus Art. 19 IV 1 GG, zum abwehrrechtlichen Aufbau siehe die Verfahrensgrundrechte vor Gericht).

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Bluesky oder X oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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Abschnitt 1 - Allgemeine Grundrechtslehren

Abschnitt 2 - Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts

Abschnitt 3 - Grundrechtsschutz und Dritte

Abschnitt 4 - Verfahren, Konkurrenzen, Prüfungsschemata

Abschnitt 5 - Grundrechte im Mehrebenensystem

Abschnitt 6 - Einzelgrundrechte des Grundgesetzes

Fußnoten

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  1. Anschaulich mit graphischer Übersicht Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Kap. 18 Rn. 913.
  2. BVerfG, Beschl. v. 30.04.2003, Az: 1 PBvU 1/02, Rn. 40 = BVerfGE 107, 395 (409) – Rechtsschutz gegen den Richter I; Uhle, in: Merten/Papier, HGR V, 2013, § 129 Rn. 2 ff.
  3. So bei Classen, Staatsrecht II, 2018, § 16; Manssen, Staatsrecht II, 18. Aufl. 2021, § 31. Ebenso und mit Erkärung des Aufbaus Petersen, Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht II, 2019, § 6 Rn. 4.
  4. So bei Michael/Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Schema 29-31, S. 504 ff; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Kap. 18.