Autorin: Sué González Hauck

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Notwendiges Vorwissen: Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts, Deutschengrundrechte, Versammlungsfreiheit - Art. 8 GG

Behandelte Themen: Verfassungsbeschwerde, Deutschengrundrechte und EU-Ausländer:innen, Versammlungsbegriff

Zugrundeliegender Sachverhalt: OpenRewi/ Grundrechte-Fallbuch/ Fall 6

Schwierigkeitsgrad: Anfänger:innen, Bearbeitungszeit: zwei Stunden


Die Verfassungsbeschwerde der B hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.

A. Zulässigkeit

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Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn sie alle Sachentscheidungsvoraussetzungen des Art. 93 I Nr. 4a GG und der §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt.

I. Zuständigkeit des BVerfG

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Das BVerfG ist gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden zuständig.

II. Beschwerdefähigkeit

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B müsste beschwerdefähig sein. Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG ist jede Person, die Träger:in von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten sein kann, beschwerdefähig. B ist als natürliche Person grundsätzlich Trägerin von Grundrechten, sodass sie beschwerdefähig i.S.d. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG ist.

Klausurtaktik

Die Thematik der Deutschen-Grundrechte in Bezug auf EU-Ausländer:innen wird in der Kommentarliteratur zum Teil bereits bei der Beschwerdefähigkeit thematisiert. Da es sich hier um eine natürliche Person handelt und somit die grundsätzliche Grundrechtsträgerschaft nicht in Frage steht, empfehlen wir, auf die Thematik frühestens in der Beschwerdebefugnis einzugehen. Siehe insofern die Hinweise im Lehrbuch. Wo genau man diese Problematik einbaut, ist für die Bewertung letztlich nicht entscheidend.

III. Prozessfähigkeit

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B hat als volljährige natürliche Person auch die Fähigkeit inne, Prozesshandlungen selbst vorzunehmen und ist somit prozessfähig.

IV. Beschwerdegegenstand

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Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG jeder „Akt öffentlicher Gewalt“. Dies kann sowohl ein Handeln oder Unterlassen der Exekutive, der Judikative als auch der Legislative sein. Vorliegend wendet sich B gegen das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main, mithin gegen einen Akt der Judikative. Ein Akt öffentlicher Gewalt und somit ein tauglicher Beschwerdegegenstand ist gegeben.

Klausurtaktik

Richtiger Beschwerdegegenstand ist hier ausschließlich das Urteil und nicht mehr der Bußgeldbescheid, der zu dem Urteil des Amtsgerichts Anlass gegeben hat. Grund dafür ist schlicht, dass die Beschwerdeführerin sich nur gegen dieses letztinstanzliche Urteil wendet. Kommen mehrere Beschwerdegegenstände in Betracht, stellt es das Bundesverfassungsgericht der Beschwerdeführerin frei, gegen welchen Akt der öffentlichen Gewalt sie sich konkret wenden möchte. Enthält die Verfassungsbeschwerde dazu keine eindeutigen Angaben, geht das Bundesverfassungsgericht von einem mehrgliedrigen Beschwerdegegenstand aus. Siehe hierzu auch die Ausführungen zum Beschwerdegegenstand im Lehrbuch-Kapitel zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde.

V. Beschwerdebefugnis

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B müsste beschwerdebefugt sein. Gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG muss sie hierfür behaupten, durch die öffentliche Gewalt in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Die bloße Behauptung genügt hierfür jedoch nicht. Vielmehr muss jedenfalls die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen. Um Popularklagen auszuschließen müsste B überdies behaupten, selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen zu sein.

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung

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Der Vortrag der B muss die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben, d.h. eine solche darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. In Betracht kommt vorliegend eine Verletzung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG oder mindestens eines entsprechenden Schutzniveaus aus der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG. B beruft sich auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG. Dieses steht nach seinem Wortlaut nur Deutschen zu. Allerdings ist B als spanische Staatsbürgerin EU-Bürgerin, sodass Art. 18 AEUV eine europarechtskonforme Auslegung des Grundgesetzes verlangt, die im Ergebnis EU-Ausländer:innen den gleichen Grundrechtsschutz wie deutschen Staatsbürger:innen gewährt. Ob dieses Ergebnis durch eine Ausweitung des persönlichen Schutzbereiches auf EU-Ausländer:innen oder über Art. 2 I GG erzielt wird, ist für die generelle Möglichkeit der Grundrechtsverletzung nicht von Belang.

Klausurtaktik

Denkbar wäre es, bereits hier den persönlichen und den sachlichen Schutzbereich des Art. 8 I GG ausführlich zu prüfen. Um die Zulässigkeitsprüfung nicht zu überfrachten, ist es klausurtaktisch jedoch sinnvoll, diese beiden Schwerpunkte der Klausur erst in der Begründetheit zu behandeln.

2. Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Beschwer

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B ist als Adressatin des Urteils selbst betroffen und trägt somit eine eigene Beschwer vor. Indem es die B zu einer Geldbuße verurteilte, griff das Amtsgericht Frankfurt am Main auch derart in den Rechtskreis der B ein, dass es keines weiteren vermittelnden Vollziehungsakts bedarf. B macht mithin eine unmittelbare Beschwer geltend. Durch die Verurteilung ist B auch noch betroffen, sodass die Beschwer gegenwärtig ist.

Klausurtaktik

Gutachtenstil muss nicht immer bedeuten, dass dieser ausführlich mit einleitender Subsumtionsfrage („B müsste eine eigene Beschwer vortragen."), Obersatz ("Eine eigene Beschwer liegt vor, wenn die Beschwerdeführerin geltend macht, in eigenen Rechten verletzt zu sein.“), Untersatz („B macht geltend, in eigenen Rechten verletzt zu sein.“) und Ergebnis („B trägt somit eine eigene Beschwer vor.“) ausformuliert wird. Es kann auch ein verkürzter Gutachtenstil verwendet werden, der wie hier in einem ersten (Halb)Satz als Begründung bereits Obersatz und Untersatz miteinander verknüpft und in einem zweiten (Halb)Satz das Ergebnis präsentiert. Formulierungen wie oben mit den Wörtern „indem“ oder „sodass“ sind typisch für diesen verkürzten Gutachtenstil.


VI. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität

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Nachdem die B einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das amtsgerichtliche Urteil gestellt hat und dieser abgelehnt wurde, stehen ihr keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung. Der Rechtsweg ist erschöpft, sodass § 90 II 1 BVerfGG einer Verfassungsbeschwerde nicht entgegensteht. Der B stehen auch keine weiteren Möglichkeiten zur Verfügung, das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main zumutbar anderweitig anzugreifen, sodass der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt ist.

VII. Frist und Form der Beschwerde

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B wahrt mit ihrem Antrag die erforderliche Form gemäß §§ 23 I, 92 BVerfGG und die Monatsfrist ab Zustellung der Entscheidung gemäß § 93 I BVerfGG.

VIII. Ergebnis zur Zulässigkeit

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Die Verfassungsbeschwerde der B ist zulässig.

B. Begründetheit

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Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main die B in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG verletzt. Dabei ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist, mithin das Urteil nicht allgemein auf Rechtsfehler, sondern nur auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts überprüft. Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts liegt insbesondere vor, wenn das Amtsgericht Frankfurt am Main die Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit verkannt hat, wenn durch das Urteil mithin ein Eingriff in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit erfolgt ist, der nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

I. Schutzbereich

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Der Schutzbereich müsste eröffnet sein. Das umfasst den persönlichen und den sachlichen Schutzbereich.

1. Persönlicher Schutzbereich

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Der persönliche Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG ist seinem Wortlaut nach nur für Deutsche i.S.d. Art. 116 I GG eröffnet. B ist als spanische Staatsbürgerin nicht Deutsche in diesem Sinne. Der persönliche Schutzbereich des Art. 8 I GG umfasst sie daher seinem Wortlaut nach nicht. Das in Art. 18 AEUV enthaltene Diskriminierungsverbot verlangt jedoch, dass EU-Bürger:innen aus anderen Mitgliedstaaten nicht schlechter gestellt werden als deutsche Staatsbürger:innen. Mittels unionsrechtskonformer Auslegung des Grundgesetzes ist ein äquivalenter Grundrechtsschutz für EU-Bürger:innen herzustellen. Sollte eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sein, ist wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts die Einschränkung auf Deutsche unangewendet zu lassen.

Umstritten ist, ob ein unionsrechtskonformes Ergebnis über eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Deutschen-Grundrechte oder mittels eines gleichwertigen Schutzes über Art. 2 I GG zu erreichen ist.[1]

Gegen eine direkte Anwendung der Deutschen-Grundrechte und mithin auch des Art. 8 I GG auf EU-Bürger:innen spricht zunächst der Wortlaut, der von „Deutschen“ spricht, was wiederum in Art. 116 I GG definiert ist. Jedoch sieht Art. 23 I 2, 3 GG ausdrücklich vor, dass durch das europäische Primärrecht – in den Grenzen des Art. 79 III GG – auch das Grundgesetz geändert werden kann. Damit stellt das Grundgesetz selbst klar, was der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ohnehin erfordert, nämlich dass eine mitgliedstaatliche Norm gleich welchen Rangs in dem Umfang unangewendet bleiben muss, in dem sie dem Unionsrecht widerspricht. Für die Deutschengrundrechte bedeutet das, dass der Ausschluss von Nicht-Deutschen aus dem persönlichen Schutzbereich für EU-Bürger:innen keine Wirkung entfalten kann. Im Ergebnis ist Art. 8 I GG also so zu lesen, als stünde dort „Deutsche und EU-Bürger:innen“. Dieses Ergebnis ist trotz des Überschreitens der Wortlautgrenze methodisch auch deshalb vorzugswürdig, weil es die Systematik der Grundrechte intakt lässt und nicht erfordert, dass die Besonderheiten des sachlichen Schutzbereichs und der Schranken des Art. 8 GG in Art. 2 I GG „hineingelesen“ werden müssen.

Klausurtaktik

Ein anderes Ergebnis ist hier sehr gut vertretbar. Dann wäre im Folgenden nicht der sachliche Schutzbereich des Art. 8 I GG sondern des Art. 2 I GG in seiner Ausprägung als versammlungsbezogene Handlungsfreiheit zu prüfen.

Der persönliche Schutzbereich ist somit eröffnet.

2. Sachlicher Schutzbereich

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Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet, wenn es sich bei der CSD-Parade um eine Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG handelt und wenn das konkrete sanktionierte Verhalten der B in Form der Lautsprecherdurchsagen zu den von Art. 8 I GG im Rahmen einer Versammlung geschützten Verhaltensweisen zählt.

a) Versammlungsbegriff
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B müsste Teilnehmerin einer Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG gewesen sein. Eine Versammlung ist das Zusammenkommen mehrerer Personen zu einem gemeinsamen Zweck.

Umstritten ist, welche Anforderungen genau der gemeinsame Zweck erfüllen muss, damit die Versammlung in den Schutzbereich des Art. 8 I GG fällt.

Nach einer Ansicht dient Art. 8 GG dazu, einzelne Bürger:innen vor staatlicher Isolation zu schützen. Demnach genügt jeder Zweck. Auch eine Versammlung, die allein Geselligkeitszwecken dient, ist damit durch Art. 8 I GG geschützt.

Eine andere Ansicht betont den Zusammenhang zwischen der Meinungsfreiheit des Art. 5 I GG und der Versammlungsfreiheit des Art. 8 I GG. Danach ist eine Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG nur dann gegeben, wenn der Zweck der Versammlung in der gemeinsamen Meinungsbildung und -äußerung besteht. Das BVerfG betont zusätzlich, dass es dabei um öffentliche Belange gehen müsse, eine Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG also dann vorliege, wenn der Zweck in der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung bestünde.[2]

Der Streit muss nicht entschieden werden, wenn der engste Versammlungsbegriff erfüllt ist, es sich bei der CSD-Parade also um eine Zusammenkunft handelt, die dem Zweck der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung dient.

Vorliegend deutet zwar das äußere Erscheinungsbild der CSD-Parade durch die ausgelassene Partystimmung, die Techno-Musik und den Konsum alkoholischer Getränke darauf hin, dass der Zweck der Versammlung überwiegend in bloßer Geselligkeit bestehen könnte. Ähnlich wie bei der in der Rechtsprechung nicht als Versammlung anerkannten „Loveparade“ und ähnlichen Veranstaltungen[3] könnte der Eindruck entstehen, dass es hier lediglich darum gehe, das Lebensgefühl einer Subkultur zur Schau zu stellen. Allerdings hat vorliegend bereits das offene Zurschaustellen der Zugehörigkeit zur LGBTQI+ Community den Charakter einer öffentlichen Meinungskundgabe, denn allein damit soll der Diskriminierung sexueller Minderheiten durch die Mehrheitsgesellschaft entgegengewirkt werden. Unterstrichen wird der Umstand, dass die CSD-Parade auf die öffentliche Meinungsbildung und -kundgabe gerichtet ist, dadurch, dass die Teilnehmenden neben Regenbogenflaggen auch Transparente mit politischen Botschaften mit sich tragen.

Insgesamt fällt die CSD-Parade also selbst unter den engsten Versammlungsbegriff, sodass der Streit nicht entschieden werden muss. B war Teilnehmerin einer Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG.

b) Lautsprecherdurchsage als Teil der Versammlungsfreiheit
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Die durch das Amtsgericht Frankfurt am Main als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen müssten auch von der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 I GG umfasst sein. Innerhalb einer Versammlung fällt grundsätzlich auch die Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel in den Schutzbereich des Art. 8 I GG. Dazu müssten die Durchsagen ein versammlungsbezogenes Anliegen kundgetan haben. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen. Wer an einer Versammlung teilnimmt, ist daher grundsätzlich auch berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an der Versammlung teilnehmen und dass insbesondere Polizist:innen sich außerhalb der Versammlung bewegen.[4] Selbst wenn die Aussagen keinen spezifischen Zusammenhang mit dem Versammlungsthema aufgewiesen hätten, wären sie daher von dem Schutzbereich des Art. 8 I GG umfasst gewesen. Vorliegend kommt hinzu, dass die Lautsprecherdurchsagen der B im Zusammenhang mit Aussagen auf dem von ihr mitgeführten Transparent und mit dem Motto der Versammlung, das explizit an das Jubiläum der Geschehnisse rund um das Stonewall Inn 1969 anknüpfte, zu sehen sind. B ging es erkennbar darum, darauf hinzuweisen, dass die CSD-Parade in der Tradition des Aufbegehrens gegen Polizeiwillkür stand. In diesem Zusammenhang äußerte sie das Anliegen, dass Polizeibeamt:innen nicht an der Parade teilnehmen sollen. Die Lautsprecherdurchsagen wiesen daher einen Bezug zu dem Versammlungsthema auf und waren somit erst recht als von der Versammlungsfreiheit geschützt anzusehen.

Der sachliche Schutzbereich des Art. 8 I GG ist eröffnet.

3. Zwischenergebnis zum Schutzbereich

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Der Schutzbereich ist eröffnet.

II. Eingriff

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Ferner müsste ein Eingriff in den Schutzbereich gegeben sein. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff ist ein Grundrechtseingriff ein rechtsförmiger Vorgang, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt.[5] Nach dem modernen Eingriffsbegriff genügt auch eine mittelbar-faktische Beeinträchtigung des Grundrechts.[6] Das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main belegt ein in den Schutzbereich des Art. 8 I GG fallendes Verhalten mit einem Bußgeld. Damit wirkt es in rechtsförmiger Weise unmittelbar, final und imperativ auf den Rechtskreis der B ein und erschwert so die Ausübung des Grundrechts erheblich. Das Urteil stellt somit sowohl nach dem klassischen als auch nach dem modernen Eingriffsbegriff einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I GG dar.


III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

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Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

1. Einschränkbarkeit der Versammlungsfreiheit

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Die Versammlungsfreiheit ist nicht unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen unter freiem Himmel sind zur Wahrung kollidierender Interessen Dritter Eingriffe in das Grundrecht gemäß Art. 8 II GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig. Die CSD-Parade ist eine Versammlung unter freiem Himmel, sodass der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG einschlägig ist.

2. Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage

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Es handelt sich bei der zur Anwendung gelangten Bußgeldvorschrift des § 29 II, I Nr. 3 VersG um ein Gesetz i.S.d. Art. 8 II GG. Es bestehen keine Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des § 29 II, I Nr. 3 VersG.

3. Verfassungsmäßigkeit der Anwendung im Einzelfall

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Fraglich ist jedoch, ob § 29 II, I Nr. 3 VersG vorliegend verfassungskonform angewendet wurde. Die Auslegung und Anwendung dieser Bußgeldvorschrift ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Allerdings haben die staatlichen Organe und damit auch die Strafgerichte die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der Bedeutung von Art. 8 I GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz anderer Rechtsgüter notwendig ist.[7]

Klausurtaktik

Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz und prüft daher nicht, ob das einfache Recht korrekt angewendet wurde. Der Aufbau der Rechtfertigungsprüfung bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist nicht immer ganz einfach, da der eigentliche Eingriff, das Urteil, nicht vollständig auf seine Rechtmäßigkeit überprüft wird. Stattdessen ist abstrakt zu prüfen, ob entweder das Urteil auf einer verfassungswidrigen Grundlage beruht oder ein an sich verfassungsgemäßes Gesetz in grundrechtswidriger Weise ausgelegt wurde. Bei der Frage, ob bei der Auslegung des Gesetzes die Bedeutung der Grundrechte verkannt wurden, ist nicht nur zu prüfen, ob das Grundrecht, auf das sich die Beschwerdeführer:in beruft, ausreichend berücksichtigt wurde. Vielmehr kann auch der Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang die dem Urteil zugrunde liegende Gesetzesauslegung rechtfertigen.

a. Auslegung der Bußgeldvorschrift im Lichte des Art. 8 I GG
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Zu prüfen ist zunächst, ob das Amtsgericht vorliegend bei der Auslegung der Rechtsgrundlage die Bedeutung des Art. 8 I GG ausreichend beachtet hat. Das ist dann der Fall, wenn es von einer zu engen Auslegung des Schutzbereichs ausgegangen ist.

Das Amtsgericht ging davon aus, dass die Verwendung von Lautsprechern dann nicht mehr von Art. 8 I GG geschützt sei, wenn diese allein oder hauptsächlich anderen Zwecken als der Meinungskundgabe zu versammlungsbezogenen Themen diene. Dabei verkannte das Amtsgericht, erstens, dass der Schutzgehalt des Art. 8 I GG jedenfalls grundsätzlich auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt. Zweitens übersah das Amtsgericht, dass die Lautersprecherdurchsagen der B einen konkreten Bezug zu der Botschaft ihres Transparents und damit insgesamt zu dem mit der Versammlung verfolgten Zweck der öffentlichen Meinungskundgabe aufwiesen.

Das Amtsgericht hat daher vorliegend die Bedeutung des Art. 8 I GG bei der Auslegung des § 29 II, I Nr. 3 VersG nicht ausreichend beachtet.

b. Auslegung im Lichte möglicher kollidierender Grundrechte
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Weiterhin ist zu prüfen, ob es im konkreten Fall notwendig war, ein Bußgeld zu verhängen, um andere Rechtsgüter zu schützen. Wenn andere zu schützende Rechtsgüter mit Verfassungsrang beeinträchtigt sind, so ist ein Ausgleich zwischen diesen Rechtsgütern auf der einen Seite und der Versammlungsfreiheit der B auf der anderen Seite zu schaffen. Es wäre somit denkbar, dass die Auslegung des § 29 II, I Nr. 3 VersG durch das Amtsgericht, die zu der Verhängung des Bußgeldes führte, zum Schutz anderer Rechtsgüter gerechtfertigt ist.

Als zu schützende Rechtsgüter kommen die Versammlungsfreiheit anderer Versammlungsteilnehmer:innen und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) möglicherweise angesprochener Polizeibeamt:innen in Betracht.

Die Lautsprecherdurchsagen der B waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Der bloße Aufruf „Zivile Bullen raus aus der Parade - und zwar sofort!“ mag bei lebensnaher Betrachtung kurzfristige Irritationen von Versammlungsteilnehmer:innen hervorrufen, war aber ersichtlich nicht zur Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Versammlung geeignet. Die Versammlungsfreiheit anderer Versammlungsteilnehmer:innen war somit nicht beeinträchtigt.

Auch wurden Zivilpolizist:innen nicht konkret und in denunzierender Weise benannt, sodass auch keine Beeinträchtigung in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gegeben ist.

Insgesamt lag keine Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter vor, die die Verurteilung der B zu einem Bußgeld rechtfertigten könnte.

c. Ergebnis zur Anwendung der Rechtsgrundlage im Einzelfall
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§ 29 II, I Nr. 3 VersG wurde nicht verfassungskonform angewendet.

4. Ergebnis zur Rechtfertigung

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Der Eingriff war nicht gerechtfertigt. B ist in ihrem Grundrecht aus Art. 8 I GG verletzt.

IV. Ergebnis zur Begründetheit

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Die Verfassungsbeschwerde der B ist begründet.

C. Gesamtergebnis

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Die Verfassungsbeschwerde der B ist zulässig und begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg.

Weiterführende Studienliteratur

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Der Fall ist zum Teil angelehnt an BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014, Az. : 1 BvR 2135/09

Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte

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Die Schwerpunkte des Falles lagen darin, den persönlichen und sachlichen Schutzbereich genau herauszuarbeiten. Im Rahmen des persönlichen Schutzbereichs lag die Schwierigkeit darin, das Zusammenspiel zwischen Verfassungs- und Europarecht richtig darzustellen und das europarechtlich gebotene Ergebnis methodisch vertretbar zu begründen. Bei dem sachlichen Schutzbereich war zu unterscheiden zwischen der Bestimmung des Schutzbereichs anhand des Versammlungsbegriffs einerseits und der Reichweite der im Zusammenhang mit der Versammlung geschützten Verhaltensweisen andererseits.

Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Rechtfertigungsprüfung. Hier war es wichtig, anhand des richtigen Prüfungsmaßstabs bei der Urteilsverfassungsbeschwerde zu erkennen, dass zu prüfen war, ob das Amtsgericht die Bußgeldvorschriften des Versammlungsgesetzes verfassungskonform angewendet hat. Notwendig war es dabei, mit den zuvor in der Prüfung des Schutzbereiches gewonnenen Erkenntnissen die Begründung des Amtsgerichts als nicht mit Art. 8 I GG konform zu verwerfen. Die zusätzlichen Ausführungen zur möglichen Beeinträchtigung anderer Grundrechte und der damit einhergehenden möglichen Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 8 I GG im Wege der praktischen Konkordanz sind auf Anfänger:innen-Niveau nicht unbedingt zu erwarten, jedoch bei ihrem Vorliegen positiv zu berücksichtigen.


Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Twitter oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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Zusatzmaterial / Weiterentwickelte Fälle

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Fußnoten

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  1. Eine ausführliche Darstellung der zu der Anwendung von Deutschengrundrechten auf EU-Ausländer:innen vertretenen Auffassungen mit entsprechenden Literaturhinweisen findet sich in dem Lehrbuchkapitel zur Grundrechtsberechtigung.
  2. BVerfG, Beschl. v. 7. 3. 2011, Az.: 1 BvR 388/05, Rn. 32.
  3. BVerfG, Beschl. v. 12. 7. 2001, Az.: 1 BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01, Rn. 13.
  4. BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014, Az. : 1 BvR 2135/09, Rn. 11.
  5. BVerfG Beschl. v. 26.6.2002, Az.: 1 BvR 670/91, Rn. 68 = BVerfGE 279 - Osho.
  6. BVerfG Beschl. v. 26.6.2002, Az.: 1 BvR 670/91, Rn. 70 ff. = BVerfGE 279 - Osho.
  7. BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014, Az. : 1 BvR 2135/09, Rn. 13.