Autor:innen: Ammar Bustami/Verena Kahl

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Schwierigkeitsgrad: Examensniveau / Fortgeschrittenenhausarbeit; Bearbeitungszeit: 5 Stunden / 3 Wochen


DISCLAIMER: Zwar baut dieser Übungsfall auf dem „Klimabeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts vom 24.3.2021[1] auf, doch liegt der Fokus auf der Schutzpflichtdimension. Hierauf beziehen sich daher auch die meisten Argumente im Sachverhalt. In die Lösung wurden darüber hinaus auch die innovativen Ausführungen des BVerfG eingebaut.

Sachverhalt

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Im April 2020 verbringt Laya (L) aufgrund der Corona-Pandemie den Großteil ihrer Zeit in den vier Wänden der familiären Wohnung. Da die Infektionszahlen in der Pandemie stetig steigen, befindet sich die 16-jährige L im „Home Schooling“ und wird dort von ihrem alleinerziehenden Vater (V) betreut. L, die bereits seit zwei Jahren der Jugendbewegung „Fridays for Future“ angehört, bereitet ein Referat vor, das sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf den Menschen und seine Umwelt befasst. Im Rahmen ihrer Recherche stößt sie auf die Berichte des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC), einem wissenschaftlichen Gremium der Vereinten Nationen, welches mithilfe von Expert*innen weltweit in regelmäßigen Berichten den aktuellen Kenntnisstand der Klimaforschung zusammenträgt und bewertet.

Aus diesen Berichten ergibt sich, dass aufgrund des Klimawandels eine Zunahme extremer Wetterereignisse, wie Hitzewellen, starke Regenfälle, Überschwemmungen und Dürren, zu erwarten sind. Mit hoher Sicherheit seien klimawandelbedingte Risiken solcher potentiell lebensbedrohlicher Wetterphänomene mit einem Temperaturanstieg von über 1 °C hoch und würden mit einer zunehmenden Erderwärmung weiter steigen. Gleichzeitig würden unter anderem der Zerfall des Eisschildes, das Absterben des Amazonas-Regenwaldes und der Verlust des Permafrostes dazu führen, dass unwiederbringliche Kipppunkte erreicht würden. Als Kipppunkte werden solche Entwicklungen bezeichnet, die nicht mehr aufgehalten werden können, auch wenn die Ursachen für die Veränderungen beseitigt werden. Die genannten kurzfristigen und langfristigen Phänomene führten wiederum zu Ernteausfällen, mangelhafter Wasserversorgung und der Zerstörung ganzer Lebensräume. Ferner käme es bereits bei einem Temperaturanstieg von 1,5 °C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu einer Ausbreitung von Infektionskrankheiten und zunehmender menschlicher Morbidität und Mortalität. Dabei gehen verschiedene Berichte davon aus, dass in den nächsten 20-30 Jahren auch in Deutschland besagte Risiken extremer Wetterereignisse einschließlich den daraus resultierenden Ernteausfällen und einer verkürzten Lebenserwartung in Folge von Krankheiten und Hitzewellen zunehmen werden. Auf Grundlage der bestehenden Erkenntnisse empfehlen die Berichte des IPCC, den globalen Temperaturanstieg auf maximal 1,5 °C zu begrenzen, um die Folgen des Klimawandels auf ein noch zumutbares Maß zu reduzieren. Weiterhin ergibt sich aus verschiedenen Studien ein zur Erreichung dieses Ziels global noch bestehendes Restbudget an CO2-Emissionen, mithin die Anzahl an Emissionen, die noch emittiert werden können, bis eine Grenze der Erderwärmung von 1,5 °C erreicht ist.

Am Abendbrottisch erzählt L ihrem Vater von ihrer Recherche und fragt ihn, warum die Politik angesichts des katastrophalen Ausmaßes der Klimakrise nicht endlich tätig werde. In ihrem Gespräch weist V seine Tochter darauf hin, dass immerhin am 18. Dezember 2019 das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) in Kraft getreten sei. L findet heraus, dass das KSG zwar konkrete jährliche Beschränkungen der Emissionen vorsieht, sogenannte Jahresemissionsmengen. Wissenschaflter*innen halten die Regelungen des KSG jedoch zur Erreichung des 1,5°C Ziels für unzureichend. Denn die vorgesehenen Emissionsmengen würden dazu führen, dass Deutschland sein nationales CO2-Restbudget von etwa 4,2 Gigatonnen im Jahr 2020, errechnet nach dem globalen Pro-Kopf-Anteil am verbleibenden Gesamtbudget, bereits im Jahr 2025 aufgebraucht hätte. L ist daher der Meinung, dass das Gesetz völlig ungeeignet sei, um dem Klimawandel und dessen Folgen angemessen zu begegnen und es somit die Gesundheit und das Leben der jungen Generation auf's Spiel setze. Sie bespricht sich virtuell mit der auf Klimaschutzklagen spezialisierten Anwältin A. Nach diesem Gespräch fühlt sie sich in ihrem Anliegen bestärkt und ist nun fest entschlossen, gerichtlich gegen das KSG vorzugehen, sodass sie mit Unterstützung der A am 22. April 2020 formgerecht Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhebt. V unterstützt sie vollumfänglich bei diesem Vorgehen.

In ihrer Beschwerde rügt L die Verletzung ihrer Grundrechte durch das unzureichende Handeln des Gesetzgebers in Form der §§ 1, 3 I, 4 i.V.m. Anlage 2 des KSG. Zur Begründung macht L unter anderem geltend, dass sie als Vertreterin der jungen Generation besonders gravierend von den Auswirkungen der politischen Untätigkeit betroffen sein werde. Diesbezüglich bestünde dringender Handlungsbedarf, da es ansonsten angesichts der irreversiblen Folgen des Klimawandels für eine Kehrtwende zu spät sein werde. Aus diesem Grund komme es nicht darauf an, dass sie bereits jetzt mit absoluter Sicherheit und im Detail darlegen könnte, wann und in welchem Umfang sie von den Verletzungen betroffen sein werde. Gerade die unzureichenden Maßnahmen im KSG setzten dabei entscheidende Ursachen für die klimawandelbedingen Risiken. Schließlich sei Deutschland im Vergleich zur Bevölkerungszahl global für einen überdurchschnittlich hohen CO2-Ausstoß verantwortlich. Darüber hinaus wäre es unbeachtlich, dass auch andere Staaten mit ihren CO2-Emissionen zum Klimawandel beitrügen. Dies würde schließlich nichts an dem Beitrag deutscher Emissionen zur globalen Erderwärmung ändern. Ferner argumentiert L, dass die vom Gesetzgeber im KSG geregelten Emissionsmengen offensichtlich hinter dem grundrechtlich geschuldeten Mindestschutz zurückblieben, da sie in keinerlei realistischer Verbindung mit der Einhaltung der 1,5 °C-Grenze stünden. Wie die wissenschaftlichen Berechnungen zeigten, dürfte Deutschland bei Befolgung des KSG ab 2025 keine Emissionen mehr ausstoßen, da sein Restbudget dann erschöpft sei. Bereits daraus folge, dass die Entscheidungsgrundlagen angesichts der staatlichen Schutzpflichten nicht tragbar seien, zumal die vorgenannten Berechnungen für die BRD günstige Maßstäbe zugrunde legten.

Bundesregierung und Bundestag halten in ihrer Stellungnahme die Verfassungsbeschwerde der L dagegen bereits für unzulässig. L könnte sich schon allein deshalb nicht vor dem BVerfG auf eine Verletzung ihrer Grundrechte berufen, weil sie nicht geltend gemacht habe, inwiefern sie sich dabei von anderen Mitbürger*innen unterscheide. Eine spezifische Nähe der Beschwerdeführerin zu den gerügten Gefährdungen sei erforderlich, wohingegen die vom Klimawandel ausgehenden Gefahren die Allgemeinheit insgesamt beträfen. Weiterhin lägen die potentiellen Gefährdungen so weit in der Zukunft, dass L nicht mit Sicherheit darlegen könne, ob und wie genau sie konkret von den als unzureichend gerügten Maßnahmen betroffen sein werde. Schließlich bestehe auch nicht der erforderliche unmittelbare Zusammenhang zwischen den Maßnahmen im KSG und den Folgen für Leben und Gesundheit durch klimawandelbedingte Extremwetterereignisse. Im Gegenteil sei der nachhaltige Erfolg der deutschen Maßnahmen abhängig von einer internationalen Zusammenarbeit und dem Verhalten anderer Staaten.

Darüber hinaus berufen sich Bundestag und Bundesregierung insbesondere auf den weiten legislativen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum, welcher durch Gerichte nur eingeschränkt überprüfbar sei. Bei den Regelungen des KSG handele es sich um ein politisch ausgehandeltes Ergebnis am Ende von demokratischen Entscheidungsprozessen und unter Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Interessen. Weder unterliege dieses Ergebnis einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle noch ergäben sich aus Art. 2 II 1 GG Pflichten zu einem optimalen Grundrechtsschutz. Vielmehr sei der Staat nur zu einem Mindestschutz verpflichtet, welcher im Lichte der besonders komplexen Materie und den verschiedenen politisch wählbaren Lösungswegen nicht zu hoch angesetzt werden dürfe. Allein durch den Erlass des KSG sei der Gesetzgeber bereits tätig geworden, sodass eine offensichtliche Unzulänglichkeit jedenfalls ausgeschlossen sei. Schließlich lehnen Bundesregierung und Bundestag die Verbindlichkeit des nationalen Restbudgets ab, da es sich hierbei um eine politische und ethische Frage handele, die Gerechtigkeitserwägungen unterworfen sei und sich nur aus globalen Aushandlungsprozessen ergeben könne.

Fallfrage

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Hat die Verfassungsbeschwerde der L Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitungshinweis

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Gehen Sie im Rahmen Ihrer Bearbeitung von der Richtigkeit der im Sachverhalt wiedergegebenen wissenschaftlichen Aussagen aus. Legen Sie ferner Ihrer Bearbeitung zugrunde, dass eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C aus wissenschaftlicher Perspektive noch möglich ist.

Die Grundrechtsprüfung ist auf Art. 2 II 1 GG zu begrenzen.[2] Ebenso sind Normen des Unionsrechts oder der EMRK außer Acht zu lassen.

Grundlage des zu erstellenden Gutachtens sind nur die im Text benannten Normen des KSG (Stand: 18.12.2019). Daher ist insbesondere § 4 I 7 KSG nicht zu berücksichtigen. Auf Beweislastfragen sowie Fragen der Kausalität zwischen Handlungen einzelner Staaten und spezifischen Klimawandelfolgen ist nicht einzugehen.

Auszug aus dem Bundes-Klimaschutzgesetz a.F. (KSG)[3]

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§ 1 Zweck des Gesetzes

1Zweck dieses Gesetzes ist es, zum Schutz vor den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels die Erfüllung der nationalen Klimaschutzziele [...] zu gewährleisten. [...] 3Grundlage bildet die Verpflichtung nach dem Übereinkommen von Paris aufgrund der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, wonach der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist, um die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels so gering wie möglich zu halten, [...].

§ 3 Nationale Klimaschutzziele

(1) 1Die Treibhausgasemissionen werden im Vergleich zum Jahr 1990 schrittweise gemindert. 2Bis zum Zieljahr 2030 gilt eine Minderungsquote von mindestens 55 Prozent.

§ 4 Zulässige Jahresemissionsmengen

(1) 1Zur Erreichung der nationalen Klimaschutzziele nach § 3 Absatz 1 werden jährliche Minderungsziele durch die Vorgabe von Jahresemissionsmengen für die folgenden Sektoren festgelegt: [...]. 3Die Jahresemissionsmengen für den Zeitraum bis zum Jahr 2030 richten sich nach Anlage 2. [...]

Dieser Text wurde von der Initiative für eine offene Rechtswissenschaft OpenRewi erstellt. Wir setzen uns dafür ein, Open Educational Ressources für alle zugänglich zu machen. Folge uns bei Bluesky oder X oder trage dich auf unseren Newsletter ein.

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Inhaltsverzeichnis des Buches

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Zusatzmaterial / Weiterentwickelte Fälle

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Fußnoten

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  1. BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021, Az.: 1 BvR 2656/18 = NJW 2021, 1723 – Klimaschutz.
  2. Diese Begrenzung der Grundrechtsprüfung auf Art. 2 II 1 GG wird in Bezug auf die innovativen Ausführungen des BVerfG zur „intertemporalen Freiheitssicherung“ im Rahmen der Lösung durchbrochen. Eine dahingehende Prüfung war jedoch von Bearbeiter*innen nicht zu erwarten.
  3. Bundes-Klimaschutzgesetz vom 12.12.2019, BGBl. I 2019 S. 2513.