Fall 1a Sachverhalt
Autorin: Dana-Sophia Valentiner
Schwierigkeitsgrad: Erstsemester/Anfänger:innen
Zur Arbeit mit dem Sachverhalt
BearbeitenDer Sachverhalt einer Klausur (oder Hausarbeit) liefert wichtige Hinweise für die Bearbeitung. Er enthält tatsächliche Informationen (über die relevanten Personen, zeitlichen Abläufe, zentralen Fragen) und Argumente, die durch die Bearbeiter:innen ausgewertet und für die Gliederung und Ausarbeitung herangezogen werden können. Der Sachverhalt liefert regelmäßig auch Anhaltspunkte zu rechtlichen Problemschwerpunkten, zu definierenden zentralen Begriffen und zu klärenden Fragen. Deshalb ist es wichtig, den Sachverhalt gründlich zu lesen und die darin unterbreiteten Angebote für die Argumentation zu nutzen. Informationen aus dem Sachverhalt bilden auch den Ausgangspunkt der Lösungsskizze für die Korrektor:innen. Wer sorgfältig mit dem Sachverhalt arbeitet, übersieht seltener Schwerpunkte oder Fragen, auf die „der Sachverhalt angelegt“ ist.
Um dies auszuprobieren und einzuüben, schlagen wir folgende Arbeit mit dem Sachverhalt vor:
1) Sachverhalt aufmerksam lesen, Fragestellung oder den Arbeitsauftrag suchen
2) Spontane Gedanken beim Lesen stichpunktartig festhalten
3) Sachverhalt erneut lesen und auswerten (dieses Mal mit der konkreten Frage-/Aufgabenstellung vor Augen)
4) Überlegen, wo tatsächliche und rechtliche Schwerpunkte liegen und dies markieren
5) Einschlägige Rechtsnormen finden, lesen und notieren
6) Aufgeworfene Fragen und Schwerpunkte gliedern und eine Lösungsskizze entwickeln
7) Erst dann: Bearbeitung ausformulieren
Tipps zum Sachverhalt
Bearbeiten- Jede Information im Sachverhalt ist darauf zu prüfen, ob sie für das Gutachten bedeutsam ist.
- Besonders Zeitangaben haben oft eine Bedeutung (z.B. für die Frist in der Zulässigkeit)!
- Nutzt den Sachverhalt auch während der Bearbeitung!
- Nach Erstellung der Lösungsskizze überprüfen: Werden alle Argumente im Sachverhalt in der Lösungsskizze verarbeitet?
- Nach Anfertigung der Lösung überprüfen: Werden alle Sachverhaltsinformationen in der Lösung aufgegriffen? (Probiert hier einmal aus, die verwendeten Informationen im Sachverhalt abzuhaken, wenn ihr sie in der Lösung verwenden konntet)
Sachverhalt - aufbereitet
BearbeitenUm das vorgeschlagene Vorgehen zu veranschaulichen, wird im Folgenden der Sachverhalt zu Fall 1 mit farblichen Markierungen dargestellt. So könntet ihr (z.B. mit Textmarkern und bunten Stiften) den Sachverhalt auch in der Klausur bearbeiten.
Hinweis |
Im nachstehenden Sachverhalt sind zentrale Informationen nach folgendem Farbschema markiert worden:
Personen Zeitangaben Prozessuales Geschehen Problemschwerpunkte Tatsachenebene Problemschwerpunkte rechtliche Bewertung |
Während seiner Semesterferien wird Jurastudent J von seiner alten Freund*innengruppe zu einem Konzert mitgenommen, „um mal auf andere Gedanken zu kommen“. Im Club angekommen, muss der bekennende Trap-Fan J entsetzt feststellen, dass es sich um das – mit 100 Personen mäßig besuchte – Konzert einer alternden Punk-Band handelt. Um seine Freund*innen nicht zu verärgern, beschließt J dennoch, eine Weile zu bleiben. Er hält sich aber lieber am Tresen der Bar fest, um nicht in den Pogo zu geraten. Nach einer ganzen Weile sehr lauter Songs mit viel Geschrei kündigt die Sängerin S den nächsten Song „Deutschland muss sterben“ mit den Worten an: „Gegen den Nationalismus steht immer noch dieser Song! Gegen die andauernde Verehrung von Kriegshetze und Nationalismus durch Denkmäler! Gegen den Kriegsklotz in Hamburg!“ . J ist angesichts des Textes und der mitgrölenden Menge entsetzt: |
Songtext genau lesen! |
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Kunst?
Meinungsfreiheit? |
J ist überzeugt, dass der Inhalt dieses Textes zur Vernichtung der Bundesrepublik und der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung aufruft und ist sich sicher, dass S und die Band sich damit strafbar machen. Nachdem er versucht hat, seiner Freundin F seine Empörung ins Ohr zu schreien, aber nur ein verwirrtes Schulterzucken als Antwort erhält, macht er sich auf den Weg zur Polizei und zeigt die Sängerin S an. Die zuständige Staatsanwaltschaft nimmt umgehend die Ermittlungen auf und erhebt schließlich Anklage beim Amtsgericht. Dieses stellt fest, dass das Lied nicht als jugendgefährdend indiziert ist und Aufzeichnungen davon frei erhältlich sind. Dennoch verurteilt das Gericht S wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole gemäß § 90a I Nr. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen. Das Gericht begründet die Verurteilung der S mit dem eindeutigen Wortlaut des Liedes. Dieser bringe unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich eine Besserung der Lage für die Staatsbürger*innen nur durch eine Vernichtung des Staatssystems der Bundesrepublik Deutschland erreichen lasse. Als rechtstaatlich verfasste Demokratie sei die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Bestand von der inneren Zustimmung ihrer Bürger*innen abhängig und auf ein Mindestmaß an Achtung angewiesen. Dies sei insbesondere notwendig, um die Grundrechtsausübung selbst wirksam gewährleisten zu können. Darin liege ein verfassungsrechtlich und strafrechtlich geschütztes Rechtsgut, das im vorliegenden Fall die Berufung auf die Kunstfreiheit versage. | Grenzen der Kunstfreiheit?
Jugendschutz
freiheitlich-demokratische Grundordnung |
Nachdem auch das letztinstanzliche Gericht die Verurteilung der S bestätigt und ihr diese Entscheidung am Montag, den 1.4.2019 zustellt, beschließt S Verfassungsbeschwerde zu erheben. Ihre Prozessvertreterin, die Anwältin A, arbeitet noch am selben Tag einen Schriftsatz aus, in welchem sie die Verletzung der Kunstfreiheit der S rügt. Den unterschriebenen Schriftsatz legt sie nachmittags ihrem Assistenten X auf den Schreibtisch, mit der Bitte, diesen sofort postalisch nach Karlsruhe zu schicken. Leider hat X vergessen, neue Briefmarken zu kaufen und schickt den Schriftsatz daher nicht sofort ab. Über dem Stress in den nächsten Tagen und den Vorbereitungen seiner ersten Demonstration zum Tag der Arbeit vergisst er auch den Schriftsatz auf seinem Schreibtisch. Am Freitag, den 2.5.2019 fällt ihm dieser wieder in die Hände. Er übermittelt den Schriftsatz sofort per Telefax an das Bundesverfassungsgericht, wo dieser noch am Vormittag eingeht. | Fristproblem! --> Zulässigkeit |
Fallfrage
BearbeitenHat die Verfassungsbeschwerde der S Aussicht auf Erfolg?
Hinweis:
Beschränken Sie sich in Ihrer Bearbeitung auf die Prüfung der Kunstfreiheit der S.
Von der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit des § 90 a StGB ist auszugehen.
§ 90a StGB: Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3)
- die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder
- [...]
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Fußnoten
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