Sozialklima von Gruppen: Wunsch und Wirklichkeit



Diejenigen Personen, die in Gruppen leben, sind nicht nur Verursacher des Sozialklimas, sondern sie haben auch bestimmte Vorstellungen darüber, wie das Sozial­klima in ihrer Gruppe beschaffen sein sollte.

Um aber die Meinungen von Personen über ihr Sozialklima beurteilen zu können muss erst einmal erklärt werden, was eine 'gute' Umwelt ist. Erst im Anschluß daran können die Meinungen von Personen einer Gruppe über ihr Sozialklima beurteilt werden.


Was ist eine 'gute' Umwelt?

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Der Weg der Erkenntnisgewinnung, den man gemeinhin als empirisch bezeichnet, sollte nach Ansicht vieler Auto­ren keine präskriptiven Aussagen enthalten. Diese For­derung gilt - so ein Prinzip des kritischen Rationalis­mus - allerdings nicht für den sog. 'Verwendungszusam­menhang', auch wenn Wissenschaftler sich gewöhnlich diesem letzten Schritt des Forschungsprozesses gänzlich entziehen. Das Fehlen präskriptiver Aussagen ist ge­fährlich, überläßt es doch dem Laien und Bürokraten unkontrolliert Interpretations- und Rechtfertigungsmög­lichkeiten. Der Erziehungswissenschaftler, der den Zugang zur Realität empirisch sucht, sollte sich also vor präskriptiven Aussagen zum Gegenstand seiner Arbeit nicht scheuen.

Auch jene Arbeiten, die sich im weitesten Sinne mit Umwelt beschäftigen, sollten Aussagen dazu enthalten, welche Umwelt günstig (gut, wertvoll) ist. Es gilt also im folgenden zu fragen, was eine gute Umwelt ist.

MASLOW (1981, 316f) stellt fest, dass eine gute Umwelt gute Persönlichkeiten gedeihen läßt. Diese Aussage ist wegen der doppelten Verwendung des Begriffes 'gut' tautologisch (MASLOW selbst ist damit auch nicht zufrieden); sie steht stellvertretend für die vielen Versuche, gute Umwelt allumfassend zu definieren. So ist letztendlich folgende Definition auch zu unpräzise: "It is the result of the promotion of satisfactory and productive experiences and that. reduces a sensitivity toward basic human needs" (HOWEI.L & GRAHLMANN, 1978, 7). Eine Definition scheitert, wenn der Anspruch zu hoch ist und wenn man versucht. - ohne klar definierte Verhaltens- oder Persönlichkeitsziele - die gute Umwelt zu definieren. Aber auch wenn man glaubt, dass man solche Ziele zur Genüge präzisieren könnte, wird der Wunsch nach einer Definition der guten Umwelt genauso­wenig realisierbar sein wie zuvor. Man sollte sich nämlich auch bewußt machen, dass eine bestimmte Umwelt für eine Person gut sein kann, während sie sich für eine andere Person negativ auswirkt (s. z.B. SCHMECK & LOCKHART, 1983). Umwelt ist demnach kein objektiver, sondern ein subjektiver-, bestenfalls intersubjektiver Begriff.

Ein weiteres Problem ist, dass es zu sich widersprechen­den Umweltcharakterisierungen kommen kann (einmal ab­gesehen davon, dass verschiedene Auffassungen dabei eine Rolle spielen). Wettbewerbsorientierung beispielsweise in einer Schulklasse führt allgemein zu einer höheren Gesamtleistung. Wettbewerbsorientierung selbst ist aber sicherlich dem sozialen Lernen abträglich. Wenn man also Leistungssteigerung befürwortet, so muß man (in diesem vereinfachten Beispiel) höhere Wettbewerbsorien­tierung in Kauf nehmen und damit evtl. gegen soziale Lernziele handeln. Gute Umwelt muß also zielabhängig definiert werden. Nun ist es sicherlich kein unpassen­der Ausweg, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, da diese zur Überraschung vieler Experten sehr gut definieren können, was eine gute Umwelt ist. In dem Bereich der Persönlichkeitseigenschaften liegen solche Untersuchungen längst vor (z.B. CROTT, PRÜFER & WOLFS­HÖRNDL, 1977; CROTT & ROßRUCKER, 1974 und KLAPPROTH, 1972). Im nächsten Abschnitt wird ein solcher Versuch für die Umweltforschung vorgestellt.


Reales und ideales Sozialklima

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In den bisherigen Erörterungen wurde von Untersuchungen berichtet, die die Erfassung des sozialen Klimas auf dessen tatsächliche Ausprägung ausrichteten. Nun ist besonders aus den Forschungen zur Arbeitszufriedenheit bekannt (NEUBERGER, 1974a,b), dass ein wesentlicher Prädiktor für Verhalten die Differenz zwischen wahrge­nommener Wirklichkeit und Wunsch sein kann.

Eine geringe Differenz wird oft als Zufriedenheit defi­niert. Es gibt sehr widersprüchliche Ansichten darüber, ob Zufriedenheit ein Klimaaspekt ist oder nicht. Letzt­endlich ist dies aber nur eine Definitionsfrage (s. GEBERT & ROSENSTIEL, 1981; JOHANNESSON, 1973; LAFOLETTE & SIMS, 1975; NEUBERGER, 1974a,b; SYDOW & CONRAD, 1982; WIENDECK, 1980).

Es gab schon recht Frühe Untersuchungen, die nicht unter der Flagge Sozialklima liefen, aber erste Hin­weise über die Differenz zwischen Wunsch und Wirklich­keit lieferten. So wünschten sich die Schüler in einer Untersuchung von MASENDORF & TSCHERNER (1973) weniger Strenge, mehr Unterstützung und ausgleichendes Gewäh­renlassen.


Abb. 5.3: Mittelwertsunterschiede zwischen Schüler­Ideal und -Real auf den Dimensionen des CES (n. FRASER & FISHER, 1983b)


Besonders die Gruppe um MOOS und FRASER erfaßte auch das Klima, so wie es aus der Sicht von Lehrern und Schülern sein sollte (Ideales Klima). Einfache deskrip­tive Vergleiche zeigen, dass das ideale Sozialklima sich bei Lehrern und Schülern vom realen positiv unter­scheidet. Ein Beispiel referieren FRASER & FISHER (1993b): Die Autoren verwendeten die 'Classroom Envi­ronment Scale' in 116 High-School-Klassen in Austra­lien. In Abb. 5.3 sind die Mittelwertsunterschiede zwischen den Fragenbogenformen 'Real' und 'Ideal' abge­bildet. Solche Verlaufskurven bieten dem Lehrer einen Anhaltspunkt für Diskussionen mit seinen Schülern.


Zentral scheint dabei die Frage zu sein, ob dieser Unterschied verhaltenswirksam ist, Insbesondere FRASER R FISHER (1993b? glauben, diese Frage positiv beantwor­ten zu können. Sie zeigten für die oben angesprochene Stichprobe von 116 Klassen, dass man durch die Wechsel­wirkung zwischen der realen und idealen Form der Skala' 'Differentiation' ihres Fragebogens ICEQ Leseleistung erklären kann. Diese Wechselwirkung ist durch eine sog. 'regression surface analysis' in Abb. 5.4 dargestellt. Dazu wird eine multiple Regression von Leseleistung (Residuen als abhängige Variable) auf reales und ideales Sozialklima (als unabhängige Variablen) berech­net und in die erhaltene Gleichung die Rohwerte der Schüler eingesetzt, so dass man schließlich eine dreidi­mensionale Graphik anfertigen kann. Aus Abb. 5.4 läßt sich entnehmen, dass die Leseleistung am geringsten ist, wenn die reale Umwelt schlecht und die ideale besonders hoch eingeschätzt wird (linke hintere Ecke der Abbil­dung).

Abb. 5.4: Die Interaktion zwischen realem und idealem Sozialklima als Erklärung von Leseleistung ( n. FRASER, 1983)


Weitgehend ungeklärt ist noch die Frage, inwieweit der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf Per­sönlichkeitsmerkmale zurückgeführt werden kann.

Ein weiterer sehr aufschlußreicher Punkt ist der Unter­schied zwischen der Schüler- und der Lehrerwahrnehmung. Dieser Unterschied ist zum einen ein guter Validitäts­hinweis, zum anderen eine fruchtbare diagnostische Hilfe.

Wahrnehmungsunterschiede zwischen Lehrern und Schülern

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Eine wesentliche Frage im Zusammenleben und -arbeiten zwischen Lehrern und Schülern ist, ob beide ihre Umwelt ähnlich wahrnehmen oder nicht. Einerseits ist dieser Vergleich für den Lehrer vor Ort eine wertvolle Hilfe, andererseits ist er aber auch für den Untersucher in­teressant unter der Fragestellung, ob Differenzen durchgängig bestimmbare Folgen haben.


Abb. 5.5: Wahrnehmungsdifferenzen von Lehrern und Schülern für 295 Secondary School Classes (n. MOOS, 1979b, 148)


Die bisher festgestellten Wahrnehmungsdifferenzen sind z.T. beträchtlich. MOOS (1979b, 148) hatte diese für Lehrer und Schüler von 295 Secondary-School-Klassen graphisch dargestellt (s. Abb. 5.5). Die Skalen sind aus dem CES. Dabei zeigt sich, dass Lehrer die Umwelt fast durchgängig positiver wahrnehmen als ihre Schüler. Deutschsprachige Untersuchungen liegen dazu noch nicht vor.


Relevanzproblem des Sozialklimas

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Neben der Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit kommt noch ein Problem hinzu, welches in empirischen Untersuchungen kaum diskutiert wurde: das Relevanzpro­blem. Es ist ja nicht nur die Frage, wie einzelne Umweltbereiche in ihrer Ausprägung beurteilt werden, sondern es ist auch wichtig, wie relevant einzelne Umweltbereiche für den Einzelnen sind.

Ein Kritikpunkt, den man der bisherigen Sozialklimafor­schung anlasten könnte, resultiert nämlich aus der Anwendung von geschlossenen Erhebungsverfahren wie dem Fragebogen. Offen ist dabei, ob die Skalen eines Frage­bogens für das einzelne Individuum persönlich (und damit subjektiv) überhaupt die relevanten Umweltberei­che ansprechen.

(Zur Rechtfertigung des Einsatzes von Fragebogen sei aber darauf hingewiesen, dass die meisten Fragebogen aus offenen Verfahren entstanden sind.)


Es gibt neben den Versuchen, die Relevanz einzelner Klimadimensionen direkt zu erfragen, noch eine andere Möglichkeit: Ausgangspunkt ist hierbei die Überlegung, dass eine Versuchsperson erst dann die in den Items angesprochenen Inhalte konsistent beantworten wird, wenn diese Inhalte für die Versuchsperson auch persön­lich relevant sind. Demnach ist jeder Fragebogen, der Reliabilitätsanalysen unterzogen wurde, dazu geeignet, Aussagen darüber zu machen, ob einzelne Umweltaspekte relevant sind.


Bei dieser Auffassung setzt man gewissermaßen den Schü­ler als Experten ein. Dies ist legitim. Man muß sich dabei allerdings im klaren sein, dass Klimafragebogen nur Umweltdimensionen abfragen können, die dem Schüler bewußt sind. Es gibt aber anscheinend auch Umweltdimen­sionen, die wirken, ohne dass dies sofort erkennbar ist. Dazu gehören sicherlich auch Umweltaspekte, die nach einer Reliabilitätsanalyse nicht mehr im Fragebogen' enthalten sind, weil sie keine Varianz aufweisen. Der Einsatz von Verfahren, die Varianz für die Skala ver­langen, ist trotzdem gerechtfertigt, da ja auch das Verhalten Varianz aufweist. Die Frage nach der Wirkung von invarianten Merkmalen (In jedem Klassenzimmer gibt es Stühle!) ist deshalb eher zweitrangig und dient nicht der Verhaltenserklärung.



Zusammenfassung

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In diesem Kapitel wurde eine Zusammenfassung bisher vorlie­gender Traditionen in der Sozialklimaforschung und publizierter Ergebnisse zu diesem Bereich versucht. Es waren besonders zwei amerikanische Forscher, R.H. MOOS und H.J. WALBERG, die die Sozialklimaforschung erneut aufleben ließen. Ihr Einfluß auf ältere deutsche Arbei­ten sowie auch auf diese Arbeit ist unbestreitbar. Die starke methodische Orientierung dieser beiden Traditio­nen ging allerdings mit einem großen theoretischen Defizit einher.

Der erste Teil der Ergebnisdarstellung bezog sich auf die bisher ermittelten Dimensionen des Sozialklimas. Trotz einiger Unterschiede zwischen verschiedenen Erhe­bungsverfahren zeigte es sich doch, dass für die spezi­fische Umwelt Schulklasse anscheinend ganz bestimmte Umweltdimensionen immer wieder ermittelt werden. Dabei sind diese Dimensionen keineswegs theoretisch abgesi­chert, es sei denn, man begründet, warum der Schüler als Experte herangezogen wird.

Im dritten Teil des Kapitels wurden Zusammenhänge zwischen Sozialklima und Individual- und Kontextvari­ablen dargestellt. Die dabei berücksichtigten Untersu­chungen gingen von verschiedenen Instrumenten aus, waren in Qualität und Ausführung sehr unterschiedlich und benutzten unterschiedliche Daten zur Weiterver­rechnung. Gerade dieser letzte Punkt (Verwendung des Individualwertes und/oder Mittelwertes) ist, wie im Kapitel „Methodische Probleme bei der empirischen Sozialklimaerfassung“ gezeigt wurde, problematisch und läßt sich mit den vorgestellten Ergebnissen nur schwer vereinba­ren.

Auf spezielle Fragen in der Sozialklimaforschung wurde abschließend eingegangen. Diese beziehen sich auf Un­terschiede zwischen realer und idealer Umwelt und auf Wahrnehmungsunterschiede zwischen Lehrern und ihren Schülern. Ein weiterer Bereich war die Frage nach der Bedeutung einzelner Umweltdimensionen für den Befrag­ten.