Sozialklima von Gruppen: Das Sozialklima als Gruppenphänomen
I.:
Einführung |
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Zum Gegenstand der Erörterungen
BearbeitenWenn man die Ausführungen über die theoretische Grundlegung einzig auf das vorhergegangene Kapitel beschränken würde, dann wäre ein wesentlicher Teil des Sozialklimakonzeptes ausser acht gelassen. Im Kapitel "Definitionsansätze und Theorien" wurde gezeigt, dass wichtige theoretische Ansätze die subjektive Wahrnehmung des Einzelnen als wesentliche Verhaltensdeterminante sehen. Das hier interessierende Sozialklima ist allerdings Gruppen zugeordnet, nicht einzelnen Individuen, denen man nur die individuell subjektive Wahrnehmung der Umwelt zuschreiben darf. Das Konzept des individuellen 'psychological climate' (JAMES & JONES, 1974; JAMES & SELLS, 1981) ist damit zu eng geworden.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die individuell subjektive Wahrnehmung einzelner Personen in der Gruppe und die daraus abgeleitete Rechtfertigung für die Verwendung des Konstruktes Sozialklima. Damit wird ein originär sozialpsychologisches Terrain betreten. Es geht in diesem Kapitel nicht darum, die Sozialpsychologie der Gruppe zu referieren (dazu sei auf Standardwerke verwiesen, wie z. B. SECORD & BACKMAN, 1976), sondern Ziel ist es, die Gruppenspezifika des Sozialklimakonzeptes darzustellen. Neben der Gruppe wird deshalb die Gruppensituation sowie die Schulklasse als soziales System Gegenstand der Erörterungen sein.
Die Gruppe
BearbeitenDas starke Interesse, insbesondere der Sozialpsychologie, an der 'Gruppe' ist darauf zurückzuführen, dass menschliches Verhalten nicht ohne den Bezug zur Umwelt erklärt werden kann, wozu auch die handelnden Mitmenschen zählen, die damit als Teil der Umwelt wesentlich für das jeweilige individuelle Verhalten mit verantwortlich sind.
Wenn MIETZEL (1973) oder SEIFFKE-KRENKE (1981) fragen, ob die Schulklasse überhaupt eine Gruppe sei, dann muss man dies als rhetorische Frage verstehen, denn es gibt kaum eine Gruppe im menschlichen Dasein, die so lange existent ist, wie die Schulklasse. Sie wird von vielen Autoren gerne durch ihre formellen Verhaltensabläufe und ihren Zwangscharakter beschrieben (die Gruppe als 'Zwangsaggregat', ULICH, 1974).
Was ist eine Gruppe? Diese Frage wird als erste zu klären sein, um die logische Verbindung der individuellen Wahrnehmung mit dem gruppenspezifischen Sozialklima zu erkennen.
Definition von 'Gruppe'
BearbeitenEs liegt in der Natur der Sache, dass die Sozialpsychologie sich fast ausschließlich mit Strukturen und Prozessen befasst, die in irgendeiner Weise das Sozialphänomen Gruppe beschreiben. Deshalb ist es nichts Außergewöhnliches, wenn man bei der Suche nach einer angemessenen Definition von Gruppe in dieser Wissenschaftsdisziplin auf eine Vielzahl verschiedener Ansätze stößt. Die Definitionen von Gruppe beinhalten im wesentlichen folgende Aussagen:
- die Gruppe ist eine Anzahl von mehr als zwei Personen,
- die Mitglieder einer Gruppe definieren sich selbst als solche (Wir-Gefühl),
- zwischen den Personen bestehen mittel- oder unmittelbare Interaktionen,
- diese Interaktionen sind vorwiegend normativ reguliert,
- zwischen den Personen liegt eine Rollendifferenzierung vor,
- die Personen erleben in wesentlichen Punkten Gemeinsames,
- die Gruppe ist durch Struktur und Dynamik gekennzeichnet.
(ARGYLE, 1972; BATTEGAY, 1974; BAUS & JACOBY, 1976; BERGIUS, 1976; CROTT, 1979; HOMANS, 1960; JAHNKE, 1982;
LINDGREN, 1973; MÜLLER & THOMAS, 1974; SADER, 1976).
Die Nebeneinanderstellung von Beschreibungsmerkmalen resultiert aus der Unmöglichkeit, Gruppe eindeutig zu definieren. Dies wird in der Literatur immer wieder deutlich. Auch darf man nicht davon ausgehen, dass die Beschreibungsmerkmale miteinander verknüpft sind, sie gelten je nach Auffassung des Autors alternativ oder z.T. additiv.
Will man nun eine Gruppe sehr restriktiv beschreiben, muss man alle Beschreibungsmodi akzeptierend mit einbeziehen. Trotz der damit verbundenen definitorischen Restriktion bleibt genügend Spielraum für Nuancen. Der damit zusammenhängende Vorteil dieses Vorgehens besteht in der Klarheit der Beschreibungsmöglichkeiten einer Gruppe. Versucht man die Beschreibungsmodi bis zu einer vernünftigen Grenze zu reduzieren, so verbleiben letztlich folgende Kristallisationspunkte:
- die gemeinsame Erlebensweise,
- die normative Regulation,
- die Struktur und
- die Dynamik.
Diese vier Beschreibungsmerkmale lassen sich in zwei Aspekte gruppieren: Die gemeinsame Erlebensweise stellt neben der Struktur und der Norm den statischen Aspekt von Gruppe dar. Die Dynamik ist die prozessorientierte Komponente (s. DUNCAN, 1972). Im folgenden werden Struktur und Norm einer Gruppe näher beleuchtet.
Struktur einer Gruppe
BearbeitenSADER resümiert, dass unter Struktur manchmal fast alles verstanden wird, was überhaupt mit Gruppen zu tun hat (1976, S.49). Diese Kritik zeigt, wie unscharf der Begriff oft verwendet wird. Wenn man einer sozialen Einheit unterstellt, sie habe eine Struktur, so will man damit im Grunde genommen folgendes ausdrücken:
- 1) in der sozialen Einheit liegen Beziehungen zwischen den Mitgliedern vor,
- 2) die Gesamtheit dieser Beziehungen lässt sich quasi kondensiert beschreiben,
- 3) die Mitglieder der sozialen Einheit werden vollständig durch die soziale Einheit definiert (vgl. FEGER, 1979).
Die Struktur dient als Konstrukt dazu, Beziehungen zwischen mehr als zwei Personen unter Berücksichtigung spezifischer Interaktionsaspekte zu beschreiben.
Man wird sich aber fragen müssen, ob es überhaupt eine soziale Einheit ohne Struktur gibt. Erscheint es dann aber sinnvoll, den Begriff Struktur zu verwenden? Die Antwort fällt bivalent aus, denn dass eine soziale Gruppe 'eine' Struktur hat, erscheint trivial. Sicherlich ergeben sich bei genaueren Analysen viele Arten von Strukturen.
PETILLON (1982, S.189) zählt eine Reihe von Bereichen auf, denen man mit dem Strukturbegriff inhaltlich näher kommen kann: Macht, Entscheidung, Erwartung, Kommunikation, Sympathie. Die Verwendung des Strukturbegriffes erscheint dann sinnvoll, wenn sich Gruppen oder Gruppentypen (wie Schulklassen) eindeutig daran unterscheiden lassen. Die Struktur kann ähnlich schwer ermittelt werden wie das Sozialklima, da sie auch nur indirekt über die Individuen erfassbar ist. Struktur in Gruppen wird oft über soziometrische Techniken gemessen, wobei meistens von vielen Zweierbeziehungen (wie beim ST 3-7 von PETILLON, 1980b) auf die Gesamtstruktur geschlossen wird.
Ein naher Verwandter: die soziale Norm
BearbeitenNeben der Struktur einer Gruppe sind es vor allem die sozialen Normen, die als zweites Beschreibungsmerkmal von Gruppen berücksichtigt werden müssen. Soziales Verhalten kann nicht direkt aus den Normen der Gruppen abgeleitet werden, da Zusatzbedingungen mit herangezogen werden müssen. Die unmittelbare Verhaltensrelevanz fehlt also, trotzdem sind soziale Normen für die vor allem langfristige Prozesssteuerung in Gruppen verantwortlich (vgl. BATTEGAY, 1974; EICHNER, 1977).
Es bietet sich an, Muss-, Soll- und Kann-Normen zu unterscheiden, die im Schulleben z.T. schriftlich fixiert sind. Andere sind latent vorhanden, aber nicht so einfach zu ermitteln, wie das bei schriftlichen Normen der Fall ist. Ein weiteres Merkmal von Normen ist, dass ihre Übertretung Sanktionen nach sich zieht.
Die soziale Norm und das Klima sind von ihrer Konzeption her nahe Verwandte. Der eher soziologische Begriff Norm und der eher psychologische Begriff Sozialklima stehen sich untereinander näher als beide zur 'Struktur'. Dies hat mehrere Ursachen:
- 1. Der methodische Zugang zur sozialen Norm und zum Sozialklima weist starke Parallelen auf
- (s. z. B. ERBRING & YOUNG, 1979).
- 2. Beide Konzepte werden oftmals über den Mittelwert von Individualdaten der Gruppenmitglieder operationalisiert
- (so für die Norm: TIEDEMANN, 1980, S.17).
Die Definition von 'Norm' fällt außerordentlich schwer, weil Normen bezüglich ihres Inhaltes ähnlich vage und vieldeutig sind, wie es schon beim Begriff Sozialklima gezeigt wurde. So bleibt nur ein abstrakter Definitionsversuch möglich:
Soziale Normen sind Bezugspunkte für Urteile und Verhaltensvorschriften. Sie sollen eine bessere Orientierung geben und die Sicherheit im Handeln fördern (BERGIUS, 1976, S.110ff). Ein gewisses Mass an ]bereinstimmung in der Gruppe ist unerlässlich (SECORD & BACKMAN, 1976, S.371; SEIFFKE-KRENKE, 1981, S.337).
Soziale Normen sind in erster Linie Gruppennormen. Normengesteuertes Verhalten ist eine Folge einer Handlung, die durch eine bestimmte Situation verlangt wird (s.a. BRANDSTÄDTER, 1977; LAUTMANN, 1971). Durch die soziale Norm wird auch eine soziale Grenze der subjektiven Sichtweise einer objektiven Situation gegeben (WAKENHUT, 1978, S.40). Es bleiben zwar noch subjektive Auslegungen einer Situation möglich, in Bereichen allerdings, wo soziale Normen implementiert sind - also in Gruppen - ist diese Möglichkeit eingeschränkt. Dies untermauert die Berechtigung der Sozialklimaforschung.
Die operationale Definition von sozialen Normen ist ein schwieriges Unterfangen, auf das der Sozialwissenschaftler aber eingehen muss. Im folgenden werden in Anlehnung an EICHNER (1977) verschiedene Modelle vorgestellt, die man als operationale Definitionen von Normen ansehen kann. Die operationale Definition von Gruppennormen unterliegt der gleichen Schwierigkeit wie die operationale Definition des Sozialklimas: Beide Gruppenkonzepte lassen sich nur über Individualwerte erfassen (soweit es nicht schriftliche Muss-Normen sind). EICHNER (1977) stellt dazu drei Modelle vor, die soziale Norm fassbar machen sollen: Relationale Reaktionsmodelle, absolute sowie Metaperzeptionsmodelle.
A. Relationale Reaktionsmodelle
Das Grundmodell der relationalen Reaktionsmodelle geht davon aus, dass die n-Mitglieder einer Gruppe G zu einem Zeitpunkt t untereinander in bestimmten Relationen stehen. Diese Relationen sind psychische oder physische Reaktionen, die aus dem Verhalten V resultieren. Man kann ein relationales Reaktionsmodell als eine N x N - Matrix darstellen, in der die Elemente a(kn) stellvertretend für die Reaktionen stehen. Damit liegt dieser Normbegriff dem Strukturbegriff nahe (Normenstruktur).
Offen ist jetzt nur noch die Frage, wie EICHNER die Reaktion inhaltlich definiert. Er unterscheidet vom Grundmodell ausgehend fünf Spezialfälle, bei denen die Reaktionen zwischen zwei Mitgliedern einer Gruppe verschieden definiert sind.
a) Spezialfall Angemessenheit
Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) das Verhalten V des Mitgliedes m(j) als angemessen empfindet, dann erhält das Matrixelement a(ij) den Wert 1. Wird das Verhalten als nicht angemessen empfunden, dann den Wert 0.
Dieses Modell orientiert sich stark an den Konzeptionen von PARSONS, HOMANS und MERTON. Bei diesem Modell sind die Hilfsverben 'sollten', 'müßten' etc. in entsprechender Verknüpfung anzuwenden.
b) Spezialfall Erwartung
Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) das Verhalten V des Mitgliedes m(j) erwartet, dann erhält das Matrixelement a(ij) den Wert 1, andernfalls 0 (vgl. BASKIN & ARONOFF, 1980; SECORD & BACKMAN, 1976).
c) Spezialfall Erwartungsperzeption
Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) eine Verhaltenserwartung seitens des Mitgliedes m(j) wahrnimmt, dann erhält das Matrixelement a(ij) den Wert 1, andernfalls 0. Nach diesem Modell sind Normen umso verhaltensrelevanter, je stärker eine 'gesendete' Erwartung auch vom anderen wahrgenommen wird.
d) Spezialfall Sanktion
Wenn das Mitglied m(i) das Mitglied m(j) nach dessen gezeigtem Verhalten belohnt (oder bestraft), dann erhält das Matrixelement den Wert 1, andernfalls 0. Bei diesem Modell muss m(i) die Sanktion nicht unbedingt durchführen, sondern es genügt auch schon, eine Disposition im Sinne von 'würde bestrafen (belohnen)'.
e) Spezialfall Verhaltensperzeption
Wenn das Mitglied m(i) zum Zeitpunkt t(m) das Verhalten von m(j) als verhaltenskonform wahrnimmt, dann erhält das Element der Matrix den Wert 1, andernfalls 0.
B. Absolutes Modell
Beim absoluten Modell geht es nicht mehr um die Beziehungen zwischen den Einzelmitgliedern einer Gruppe untereinander, sondern um die Relation zwischen einem Mitglied und der Gesamtgruppe. Jedem Mitglied wird ein absoluter Wert zugeschrieben, der sein Verhältnis zur Gruppe beschreibt. Die Werte werden daher nicht als N x N - Matrix festgeschrieben, sondern als N x 1 - Vektor. Dabei können die gleichen Kriterien angelegt werden, wie bei den Relationsmodellen. Am Beispiel des Angemessenheitsmodells soll dies gezeigt werden:
Wenn das Mitglied m(i) das Verhalten V der Gesamtgruppe G zum Zeitpunkt t(m) als angemessen empfindet, dann erhält das Vektorenelement a(i) den Wert 1, andernfalls Null. Die operationale Definition im Sinne des Modells ist an dem Verhältnis der Einsen zu den Nullen im Vektor charakterisiert.
C. Metaperzeptionsmodell
Bei dem Relations- und Absolutmodell wird eine Beziehung zwischen zwei Mitgliedern empirisch direkt erfasst. Nun besteht aber noch die Möglichkeit, die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Mitgliedern über ein drittes Mitglied einer Gruppe zu erfassen. Wiederum soll am Beispiel des Angemessenheitsmodells diese Konzeption verdeutlicht werden:
Wenn Mitglied m(k) aus der Gruppe G wahrnimmt, dass Mitglied m(i) das Verhalten V des Mitgliedes m(j) zum Zeitpunkt t(m) als angemessen empfindet, dann bekommt das Matrixelement a(ij) den Wert 1, andernfalls 0.
Alle bisher vorgestellten Modelle lassen sich durch den Vorsatz "wenn Mitglied m(k) wahrnimmt, dass ..." zu einem Metaperzeptionsmodell umwandeln. Auch können alle Modelle von Matrix-, über Vektor- zu Skalarmodellen reduziert werden. Ein Beispiel für ein Angemessenheitsskalarmodell ist: Wenn die Gruppe G das Verhalten V der Gruppe G als angemessen empfindet, dann bekommt der Skalar den Wert Eins, andernfalls den Wert Null.
Die einzelnen Modelle sind dieser Konzeption entsprechend also sowohl inhaltlich verschieden definiert als auch in ihrer Differenziertheit unterschiedlich. Für welches Modell man sich nun entscheidet, ist nur nach theoretischen Überlegungen zu entscheiden. Problematisch ist sicherlich die Anwendung von Matrixmodellen in größeren Gruppen, da hier eine sehr starke Differenzierungsfähigkeit von den Einzelmitgliedern gefordert wird, die in der Praxis schlechterdings nicht vorausgesetzt werden kann.
Die Gruppensituation
BearbeitenEine Gruppensituation liegt dann vor, wenn die Individuen die Gruppennormen kennen und diese auch zur Interpretation der Gruppensituation heranziehen (PERINBANAYAGAM, 1981, 332). Interaktionen und Situationsdefinitionen sind nicht das, was ein Subjekt zu erkennen glaubt, sondern sind die synthetisierten Aktivitäten und Handlungen der Gruppenmitglieder.
Der Begriff Gruppensituation wird angemessen von WITTE definiert: Eine Gruppensituation ist "eine Situation, in der man als Einzelperson veranlasst wird, das eigene Urteil (Reaktion) in Beziehung zu anderen Urteilen zu setzen" (1979, S.125). Menschliches Verhalten in Gruppen ist also weitgehend von diesen beeinflusst. Objekte erhalten ihre Bedeutung durch die Interaktion mit Mitmenschen. Kollektives Handeln verläuft durch Angleichung indviduellen Handelns.
Diese Grundaussagen erinnern an den symbolischen Interaktionismus (vgl. Kap 2.2.1.3) und machen erneut deutlich, dass individuelles Handeln nicht kontextunabhängig sein kann. Es wird weiterhin hervorgehoben, dass individuelles Handeln sich von gruppenbezogenem Handeln durch die verschiedenen Reflexionsgrade unterscheidet. Die Kenntnis und das Akzeptieren von Regeln und Normen erhöht die Bereitschaft, eigenes Handeln weniger zu reflektieren und sich z. B. rituellen Situationen eher zu unterwerfen (WELLENDORF, 1977). Reflexionsarmes Handeln bzw. Rituale werden so erst möglich. Die Reflexion einer Situation durch den Einzelnen muss mit dem Grade ihrer Neuheit steigen (STEBBINS, 1981). Der Sinn einer Gruppenbildung wäre u.a. dann verfehlt, wenn die Mehrzahl der Gruppensituationen ein hohes Reflexionsausmaß verlangen würden. In diesem Zusammenhang könnte man die These vertreten, dass in Situationen mit hohem Reflexionsgrad das Handeln personenspezifischer ausfällt als in stärker ritualisierten Handlungsabläufen. Wollte man also Person-Situation-Prozesse untersuchen, so wäre das Ausmass der von der Person durchgeführten Reflexionen zu berücksichtigen (vgl. THOMAS & ZNANIECKI, 1981, S.9). Dies erinnert an eine Variable in ROTTERs Modell (Kap. 2.2.2.1 ?): den Grad der Neuheit einer Situation.
DUNCAN (1972) stellt zwei unabhängige, bipolare Dimensionen vor, die zum einen die Komplexität, zum anderen die Dynamik der subjektiv erlebten Lernumwelt verdeutlichen. Die eine Dimension (einfach - komplex) beschreibt die Ausdifferenzierung der Umweltwahrnehmung, die andere (statisch - dynamisch) den Grad des wahrgenommenen Wandels. DUNCAN nimmt an, dass die individuell wahrgenommene Unsicherheit in einer Situation mit dem Grad der Komplexität und Dynamik der Umwelt zunimmt. Diese Annahme wird in Abbildung 3.1 verdeutlicht. Dabei zeigt sich, dass der Komplexität ein stärkeres Gewicht zukommt als der Dynamik.
WITTE (1979) hat eine genauere Analyse der Gruppensituation vorgelegt, die er unter prozesshaftem Charakter zu analysieren suchte. Seine Abfolge von normativen Dimensionen sieht wie folgt aus:
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Gruppenatmosphäre (GA)
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Verteilung der Werte der Gruppenmitglieder
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Schwierigkeit, einen Orientierungspunkt anzuwenden (SdA)
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Gebundenheit an frühere Beschlüsse (GFB)
Uniformitätsdruck (Verhalten)
Diese Abfolge hätte WITTE eigentlich auch als Kreis darstellen können. (Der letzte Punkt wurde von mir hinzugefügt.) Dieser Prozess ist bei neu zusammengesetzten Gruppen oder neu eingegliederten Einzelpersonen wohl noch sehr offen. Die Beschreibung der Einzelkomponenten ist hier von weniger grossem Interesse; es sei auf die Originalliteratur verwiesen. Zentral für unser Vorhaben ist natürlich die von WITTE in diesen Prozess einbezogene Gruppenatmosphäre, die er als "das durchschnittliche Ausmass der gegenseitigen emotionalwertschätzenden und persönlichen Akzeptierung in einer Kleingruppe" definiert, wobei "jede Person jede andere auf einer Skala einschätzt, die das emotional-wertschätzende Verhalten erfasst, das man von der Person erwartet" (1979, S.137). Damit ist hier Gruppenatmosphäre der Kohäsion in einer Gruppe sehr ähnlich definiert. WITTE fordert aber selbst, bei detaillierteren Forschungen andere Bereiche, wie z. B. Cliquenbildung, mit einzubeziehen.
MOLLENHAUER hat bereits 1972 in einem Modell zu zeigen versucht, wie es in der Interaktion von 'Ego' und 'Alter' zur Situationsdefinition kommt (s. Abbildung 3.2). In der oberen Hälfte des Modells sind die individuellen Bedingungen von 'Ego' für eine Situationsdefinition aufgezeigt. Diese Bedingungen sind auch für 'Alter' formal, aber nicht inhaltlich gültig. Die untere Hälfte der Abbildung strukturiert die Merkmale der Situation, die gemeinhin als objektiv bezeichnet werden. Diese sind für 'Ego' wie für 'Alter' formal und inhaltlich identisch, was u.a. auch für die Schüler einer Klasse zutrifft. Wie an der unteren Hälfte der Abbildung unschwer zu erkennen ist, strukturiert und definiert Mollenhauer die objektive Situation nicht durch Merkmale, wie sie z. B. durch Vertreter einer 'environmental psychology' verwendet wurden, sondern nahezu ausschließlich durch soziale Phänomene. 'Echt' objektive Merkmale werden nur dann berücksichtigt, wenn diese 'Objekte der Kommunikation' werden, ansonsten bleiben sie unberücksichtigt.
Der Bezug des Sozialklimas von Schulklassen zur Institution Schulklasse lässt sich demnach wie folgt umreissen (vgl. Evan, 1968):
- Schüler einer Klasse haben genauso Wahrnehmungen über die Klasse wie Nichtmitglieder.
- Schüler und Nichtmitglieder einer Klasse nehmen die Umwelt verschieden wahr. Dies liegt an den verschiedenen Bezugsrahmen und an den verschiedenen Evaluationskriterien beider Gruppen.
- Die Wahrnehmung der Umwelt - ob sie nun mit der tatsächlichen Umwelt übereinstimmt oder nicht - hat Einfluss auf das Verhalten.
- Schüler mit verschiedenen Rollen und verschiedenem Status in ihrer Klasse nehmen die Umwelt verschieden wahr.
- Schüler, die Untergruppen in der Klasse angehören, nehmen die Umwelt deswegen unterschiedlich wahr.
Damit ist die Relevanz der Gruppensituation und deren Wahrnehmung für die Erklärung menschlichen Verhaltens verdeutlicht. Gruppensituationen sind allerdings vielfältig strukturiert, und man muss, um sichere Aussagen treffen zu können, diese Differenziertheit greifbar machen. Ein vielversprechender Weg liegt in der Beschreibung der Gruppe als System. Dieser Begriff wird im nächsten Abschnitt auf seine Tauglichkeit hin diskutiert.