Sozialklima von Gruppen: Die Erfassung des Sozialklimas
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Einführung |
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Methodische Probleme bei der empirischen Erfassung des Sozialklimas
BearbeitenDie bisherige Darstellung sollte zeigen, dass es sich aus forschungsinternen und externen Gründen lohnt, sich mit dem Konzept des Sozialklimas zu beschäftigen. Die vorhergegangenen Kapitel bezogen sich in keiner Weise auf die methodischen Probleme der Sozialklimaforschung. Dieses ist diesem Kapitel vorbehalten und soll ausführlich diskutiert werden, weil die Analyse der Literatur gezeigt hat, dass Mängel aus vielerlei Gründen vorliegen. Was nützt die Einsicht in die Notwendigkeit der Klimaforschung, wenn die empirische Umsetzung der Problemstellung nicht angemessen ist? MITCHELL z. B. hebt hervor, dass die Komplexität der Person-Situation-Problematik bessere statistische Analysen verlangt (1969, 695). Trotzdem müssen JAMES & JONES noch Mitte der siebziger Jahre feststellen, dass die Forschung manchmal Züge trägt, als ob die Wahl der Methode eher aus Bequemlichkeit als aus dem Wunsch, neue Konstrukte zu liefern, geleitet wird (1974, 1101).
Sicher ist die Wahl der Auswertungsstrategie durch Unsicherheiten beeinflußt, die auf dem Fehlen angemessener Software oder auf dem Verzicht der Prüfung von Anwendungsvoraussetzungen beruhen (LISCH, 1980). Der letzte Punkt ist kein Spezifikum für die Sozialklimaforschung - im Unterschied zum ersten. Einen Ausweg aus diesem schwerwiegenden Problem bieten die sogenannten Mehrebenenanalysen. Diesen Ausweg gilt es allerdings genau zu begründen.
Am Anfang dieses Kapitels stehen deshalb Analysen über Voraussetzungen der bisherigen Klimaforschung (4.1 und 4.2), um zu erklären, warum traditionelle Ansätze weitgehend versagt haben. In den Abschnitten 4.3 und 4.4 wird die Mehrebenenanalyse als adäquate Auswertungsstrategie für die Sozialklimaforschung erklärt.
Methodische Prämissen der Sozialklimaforschung
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Zur hierarchischen Strukturierung von Wirklichkeit: individuelle und kollektive Phänomene
BearbeitenEiner der am häufigsten verwendeten Begriffe in der theoretischen Beschreibung von Gruppenprozessen ist der Begriff 'sozial'. Das wird auch in dieser Arbeit augenfällig, und zwar immer dann, wenn vom 'Sozialklima in Schulklassen' und vom 'Sozialsystem Schulklasse' gesprochen wurde. Was aber bedeutet 'sozial'? In der traditionellen Soziologie wird der Begriff häufig mit den Termini 'kollektiv' 'gruppenhaft' oder 'zwischenmenschlich' assoziiert (LINDENBERG, 1977). Zudem scheint er ein Antipode zu den Begriffen individualistisch', 'idiosynkratisch' oder 'persönlich' zu sein.
Dieser Gegensatz wurde schon im Altertum Grundlage verschiedener Denkeinstellungen. PLATO sprach von einem den Individuen 'übergeordneten Organismus', der Kultur schlechthin überlebensfähig macht. Kein geringerer als ARISTOTELES war es, der das Individuum in den Mittelpunkt rückte und demnach Kultur nur als Ergebnis des Zusammenwirkens von Individuen betrachtete (BERGIOS, 1976). Diese beiden Denkrichtungen haben sich bis heute erhalten. OPP & HUMMEL (1973) unterscheiden beispielsweise innerhalb der Soziologie zwei Strategien zur Beschreibung von sozialen Phänomenen:
- den holistischen Ansatz, bei dem Soziologie als Makro-Soziologie verstanden und das System als autonome Entität erfaßt wird,
- sowie den Mikroansatz, bei dem das Individuum Einheit der Analyse ist.
Aber nicht nur innerhalb der Soziologie, sondern auch bei dem Vergleich der beiden Wissenschaftsrichtungen Psychologie und Soziologie wird der Dualismus deutlich. HUMMEL & OPP (1971) haben zur wissenschaftstheoretischen Begründung ihrer verhaltenstheoretisch orientierten Soziologie die These gewagt, daß kollektive Phänomene grundsätzlich auf individuelle Phänomene reduzierbar sind. Diese heftig diskutierte Reduktionismusthese' baut auf dem vermeintlichen Gegensatz von Soziologie und Psychologie auf: Als psychologisch werden alle Aussagen bezeichnet, deren Subjekte menschliche Organismen (Individuen, Personen) sind. Als soziologisch werden solche Aussagen definiert, deren Subjekte menschliche Kollektive (Gruppen, Aggregate, soziale Systeme) sind.
Die Autoren stellen drei Behauptungen auf, die die Reduktionismusthese kennzeichnen:
- a. Begriffe der Soziologie sind durch Begriffe der Psychologie definiert.
- b. Singuläre Ereignisse, die durch soziologische Aussagen beschrieben werden, können durch psychologische Hypothesen erklärt werden.
- c. Soziologische, gesetzesartige Aussagen sind in ihrer ursprünglichen oder in einer modifizierten Form aus psychologischen Aussagen logisch ableitbar (1971, 7).
Nachdem die Autoren einige kollektive, soziologische Begriffe auf psychologische Hypothesen reduzieren konnten, kamen sie zu folgendem Ergebnis, das in seiner Tragweite - wenn zutreffend - verheerende Folgen für die Soziologie als Wissenschaftsdisziplin haben müßte: "Das Ergebnis unserer Untersuchung war, daß wir keinen einzigen soziologischen Begriff gefunden haben, der nicht durch einen psychologischen Begriff definierbar ist, und daß wir keine einzige soziologische Hypothese gefunden haben, die nicht aus einer psychologischen ableitbar ist" (1971, 10).
Kollektivphänomene sind demnach anscheinend gänzlich durch Individualphänomene zu erklären. Ist also das Ganze doch nicht mehr als die Summe seiner Teile (vgl. TOPITSCH, 1967)?
Das Vorgehen von OPP & HUMMEL ist ein Spezialfall des methodologischen Individualismus (vgl. LENK, 1977). Diese Denkensart konnte sich trotz aller Bemühungen nicht durchsetzen, wurde sogar als 'soziologisch naiv' bezeichnet (LINDENBERG, 1977). Andererseits aber kann man leicht feststellen, daß Soziologen bei dem Versuch, soziale Mechanismen zu erklären, immer wieder auf individualistische Positionen zurückgreifen (vgl. LANGENHEDER, 1973a, 49ff). Ein Ergebnis der hier nicht näher diskutierten Reduktionismusdebatte ist, daß kollektive Phänomene zwar tatsächlich vorhanden sind, aber nur durch den Bezug zur individuellen Ebene erklärt werden können.
Wenn diese Annahme stimmt, dann fragt man sich, wer oder was eigentlich individuelle und kollektive Tatbestände verbindet. LINDENBERG (1977) spricht hierbei vom Transformationsproblem. Wie man transformiert, ist ein in erster Linie theoretisches Problem und die Datenanalyse zwischen zwei oder mehreren Ebenen eine notwendige Folge davon.
Im weiteren gilt es deshalb, auf dem Hintergrund dieser Problematik das Sozialklima als kollektives Phänomen näher zu beleuchten und das Transformationsproblem für dieses Konstrukt zu lösen.
Das Sozialklima von Schulklassen als kollektives Phänomen
BearbeitenIn der bisherigen Forschung wird das Sozialklima als kollektives Phänomen betrachtet. Auch diese Arbeit steht in dieser Tradition. Offen blieb bisher allerdings die Frage, warum das Sozialklima z.B. als 'gemeinsame Erlebensweise' definiert wird. Der dahinterstehende Mechanismus ist ungeklärt. Man kann allerdings durch das HEMPEL-OPPENHEIM-Schema (H-O-Schema) - trotz aller Kritik seitens der Sozialwissenschaften am deterministischen Gesetzesbegriff - ein hypothetischdeduktives Erklärungsmodell skizzieren, welches Aufschluß über die im vorherigen Abschnitt problematisierte Beziehung von individuellen und kollektiven Phänomenen geben kann. Das allgemeine H-O-Schema, übertragen auf das vorliegende Problem. sieht wie folgt aus (LINDENBERG, 1977):
Die erklärten individuellen Effekte innerhalb eines Kollektivs werden ebenso wie die Randbedingungen und die Transformationsregel zum Explanans des 'Kollektiven Effekts'. Die Transformationsregel definiert die Art der Beziehungen zwischen den Bedingungen. Jeder kollektive Effekt ist eine Bedingungskonstellation individueller Effekte. Aus diesem Grunde können kollektive Effekte Individuen nicht zugeschrieben werden. So lassen sich kollektive Phänomene, so z.B. das Sozialklima, nicht an individuelle Effekte knüpfen, wie es etwa OPP & HUMMEL mit Hilfe ihrer 'Koordinationsregeln' wohl versuchen würden, da damit die Bedingungskonstellation noch unaufgeklärt wäre. Für das kollektive Phänomen 'Sozialklima' ist eine Transformationsregel relevant, wie sie LINDENBERG (1977) vorgestellt hat: Wenn die Bedingungen (1,2,...n) zutreffen, dann folgt logisch der kollektive Effekt (s. Abb. 4.2).
Nach diesem Muster scheinen die Definitionen zum Sozialklima formuliert worden zu sein. Folge dieser theoretischen Vorgehensweise ist eine bestimmte Form der Aggregierung der Individualdaten in der Datenanalyse. Im folgenden werden Formen von Aggregatbildungen beschrieben und schließlich die in der Sozialklimaforschung vorherrschende Aggregierungsform kritisiert.
Formen der Aggregierung
BearbeitenAggregierung bedeutet das Zusammenfassen von einzelnen Partikeln zu einem Ganzen. Man mag es auch mit Vereinigung, Versammlung, Zusammenfügung oder linearer Transformation bezeichnen. Desaggregierung ist der entsprechend umgekehrt verlaufende Prozeß (FEIGE & WATTS, 1972). Man kann aus verschiedenen Gründen aggregieren: Einmal kann eine Aggregierung schlicht dem Ziel dienen, Komplexität i.S. LUHMANNs zu reduzieren. Zum anderen muß man aggregieren, weil ein evtl. vorhandenes, theoretisches Konstrukt nur dadurch empirisch sinnvoll erfaßt werden kann.
In der wissenschaftlichen Literatur wird das Aggregieren häufig mit qualitativ verschiedenen Ebenen (z.B. Individuum-Gruppe) in Zusammenhang gebracht. Dies ist richtig, aber engsichtig, denn es gibt verschiedene Formen der Aggregierung, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen:
- a) Die wichtigste Form der Aggregierung ist die 'theoretische' Aggregierung (ROBERTS, HULIN & ROUSSEAU, 1978). Diese liegt immer dann vor, wenn menschliches Verhalten in Organisationen nur durch organisationsspezifische Kriterien erklärt werden kann. Dies kann nur über ein hypothetisches Konstrukt geschehen, welches ausschließlich über die Aggregierung von Individualdaten nachgebildet werden kann. Diese Form der Aggregierung liegt in der Sozialklimaforschung vor.
- b) Eine weitere Form der Aggregierung besteht darin, Klumpenstichproben (z.B. Klassen oder Schulen) aus einer Population von Organisationseinheiten zu ziehen. Dabei werden - größtenteils unbeabsichtigt - Individualdaten aggregiert, obwohl diese Aggregierung theoretisch nicht gerechtfertigt werden kann (s. v. SALDERN, 1982).
- c) Die dritte Form der Aggregierung wird meist ebenso unreflektiert vollzogen: das Zusammenfassen von Variablen, die zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben wurden. Beispielsweise werden bei einer Querschnittuntersuchung, bei der der erste und letzte Meßzeitpunkt aus praktischen Erwägungen sieben Tage auseinander liegen, die Daten so verrechnet, als seien die Erhebungen alle zum gleichen Zeitpunkt verlaufen. Ein Einfluß der Zeit wird stillschweigend als nicht vorhanden angenommen.
- d) Eine letzte, sehr einfache Form der Aggregierung, ist die Bildung von Skalensummenwerten z.B. bei Fragebogen. Diese Vorgehensweise ist nur dann zulässig, wenn die Ladungen der einzelnen Items auf dem Faktor gleich sind. Dies läßt sich mit Faktorenanalysen überprüfen. Deshalb ist diese Form der Aggregierung weniger problematisch.
Aggregierung - so läßt sich zusammenfassen - gehört in vielfältiger Form zum alltäglichen Handwerk des empirisch orientierten Forschers (s. ergänzend BLALOCK, 1971) und muß als gewichtige Fehlerquelle angesehen werden.
Zu klären ist noch, wann so aggregiert werden darf, wie es in der Sozialklimaforschung bisher geschehen ist. Nach CONRAD & SYDOW (1981, 17) sind folgende Bedingungen zu beachten:
- Die individuellen Werte beschreiben die wahrgenommene Situation,
- die situativen Bedingungen werden von den Mitgliedern einer Gruppe ähnlich beschrieben,
- die Aggregierung betont die wahrnehmungsmäßige Ähnlichkeit der individuellen Wahrnehmungen.
Ob und wie diese Bedingungen in der Sozialklimaforschung Berücksichtigung fanden wird im nächsten Abschnitt diskutiert werden.
Zur Wahl der Analyseebene
BearbeitenIn der Literatur werden immer wieder zwei Begriffe durcheinandergebracht: die Beobachtungsebene und die Analyseebene. Die Beobachtungsebene ist die Ebene, auf der die Daten erhoben werden. Die Analyseebene ist die Ebene, auf der die Daten verarbeitet werden und auf der die Interpretationen beruhen. Wenn man das Sozialklima von Schulklassen erfassen will, so geschieht dies z.B. über die individuelle Befragung des einzelnen Schülers (Beobachtungsebene). Nach Aggregierung auf Klassenebene folgen weitere Analysen und schließlich die Interpretation der Daten (Analyseebene).
Die begründete Wahl der theoretisch angemessenen Analyseebene scheint immer noch Stiefkind der empirischen Forschung zu sein (vgl. POYNOR, 1974). BRIDGE, JUDD & MOOCK kommen nach Durchsicht der Literatur zu der ernüchternden Feststellung, daß allzu viele Forscher die Wahl der Analyseebene nicht ihrer Fragestellung anpassen (1979, 286). Es gibt prinzipiell nur eine Entscheidung, die richtige Analyseebene zu wählen: die logischinhaltliche Begründung (s. BARCIKOWSKI, 1981, 269; WAKENHUT, 1978, 72). Man vergleiche dazu die Diskussion in dem Artikel von BIDWELL & KASARDA (1975; ALEXANDER & GRIFFIN, 1976; HANNAN. FREEMAN & MEYER, 1976)
Es gibt aber auch andere Arten der Begründung:
Wenig überzeugend wirkt die Rechtfertigung, die RENTOUL & FRASER (beide Protagonisten einer Veröffentlichungsinflation) geben: "Wegen der kleinen Stichprobe wurde die individuelle Ebene statt des Mittelwerts als Analysewert für die statistische Analyse herangezogen" (1979a). Die Wahl zwischen Individualwert und Mittelwert darf immer nur theoretisch abgeleitet sein und nicht Resultat rein forschungsökonomischer Überlegungen. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie wenig sensibel die Untersuchungsansätze zum Sozialklima sind. Bei MOOS bleibt gar die Analyseebene unklar (MOOS, 1974a, 144; 1979b, 24), was aber schon gar nicht mehr verwundert, weil oft auch andere für einen empirischen Bericht wesentliche Angaben weggelassen werden, z.8. die Problematik um die Stichprobenziehung: Bei der Analyseebene Klasse zieht man Klumpenstichproben und keine repräsentativen Stichproben von Schülern (vgl. WOTTAWA, 1981; v. SALDERN, 1982), wie oft angenommen wird. Diese Tatsache müßte sich auf die Auswertung niederschlagen.
Bei aller Kritik soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß das Problem um die Wahl der Analyseebene z.T. erkannt wurde, ohne allerdings befriedigende Lösungen anzubieten (TRICKETT & HILKINSON, 1979; WALBERG, 1972; WALBERG & HAERTEL, 1980).
Anzustreben ist eine adäquate Theorie-Praxis-Passung. In unserem Falle ließen sich z.B. folgende Begründungen für die Wahl der Analyseebene 'Klasse' geben: Man kann erstens davon ausgehen, daß Schüler in Klassen nicht nur Individuen sind, da die ablaufenden sozialpsychologischen Prozesse in der Gruppe eine eigene Qualität haben, die mehr darstellt als die Summe der Individuen in dieser Gruppe. Dementsprechend ist das Schülerverhalten auch immer durch das soziale Umfeld 'Schulklasse' determiniert. Eine zweite mögliche Begründung für die Analyseebene 'Klasse' kann in einem Design liegen, in dem bestimmte Lehrer bestimmten Treatments zugewiesen werden. Die individuelle Analyseebene muß dann gewählt werden, wenn nicht-kontext-bezogene Variablen bei Individuen erhoben werden sollen.
Diese werden aber in der Praxis kaum anzutreffen sein. GEBERT & v.ROSENSTIEL (1981) weisen mit allem Nachdruck darauf hin, daß die sozialen Bedingungen maßgebliche Einflußfaktoren auf das Individualverhalten sind (siehe dazu Abb. 4.3).
Offen bleibt dabei, wie man Individualverhalten erklären kann, denn die entscheidende Frage ist nicht, welche Analyseebene grundsätzlich gewählt werden sollte, sondern welche Analyseebene für welche Variable gewählt wird.
B. D. ANDERSON (1972) stellt für die Sozialklimaforschung vier mögliche Gleichungen auf:
- 1. Individualverhalten = f (individuelle Umweltwahrnehmung + individuelle Hintergrundvariable)
- 2. Individualverhalten = f (durchschnittliche Umweltwahrnehmung + individuelle Hintergrundvariable)
- 3. Individualverhalten = f (durchschnittliche Umweltwahrnehmung + aggregierte Hintergrundvariable)
- 4. Gruppenverhalten = f (durchschnittliche Umweltwahrnehmung + aggregierte Hintergrundvariable)
Diese Gleichungen lassen sich beliebig erweitern. Deutlich wird an ihnen, daß rechts des Gleichheitszeichens Effekte verschiedener Ebenen miteinander verknüpft werden können. Es geht also im folgenden nicht mehr um die Auswahl einer Analyseebene, sondern um den simultanen Einbezug mehrerer Ebenen.
Welche Ebenen gibt es? HUMMEL (1972) unterscheidet die Analyseebenen in 'Gegenstände' n-ter Ordnung: Gegenstand erster Ordnung ist die Person, zweiter Ordnung, z.B. die Clique, dritter Ordnung die Klasse, vierter Ordnung die Schule etc..
Dieser Ansatz ist damit offen für eine differenziertere Sichtweise, wie z.B. bei WELZ (1974), der folgende 'soziologische Objektbereiche' unterscheidet:
- Individuen
- Cliquen
- Gruppen
- Organisationen
- Lokale Gemeinschaften
- Gesamtgesellschaften
Diese hierarchische Gliederung sozialer Realität sollte nach DIEDERICH (1975) schon längst in die Methodologie der Unterrichtsforschung eingegangen sein, was aus Mangel an Theorie und Forschung bisher nur sporadisch geschah.
Wenn man sich für eine bestimmte Ebene entscheidet, so sollte man sich darüber im klaren sein, daß der Einfluß der Variablen mit der Entfernung der Untersuchungseinheit, der sie entstammen, zur individuellen Ebene hin abnimmt. Sehr anschaulich ist dies bei den Schulvergleichsuntersuchungen geworden: Die Variable 'Schulsystem' konnte nur bedingt Schülerverhalten erklären, im Gegensatz zu hierarchisch tiefer liegenden Variablen.
Offen bleibt das Problem, wie das Sozialklima statistisch abgebildet werden kann.
Das Problem der Indexbildung
BearbeitenAllen genannten Definitionsansätzen zum Sozialklima (s. Kap. 2. 1. 3) ist ein Merkmal gemeinsam: Sozialklima ist ein Gruppenphänomen, das etwas über den Konsens der Wahrnehmung aussagt (SINCLAIR, 1977). Nun ist für die empirische Forschung eine Frage von zentraler Bedeutung: Wie kommt man zu einem Gruppenwert, der das Sozialklima adäquat wiedergibt? Sozialklima wird überwiegend durch die gesammelten Urteile der Mitglieder einer Gruppe (z.B. Schüler einer Klasse) erfaßt. Welche Möglichkeiten gibt es nun, von den Individualwerten zu einem Gruppenwert zu gelangen? Folgende Wege bieten sich an (vgl. BLAU, 1979; LOHNES, 1972):
- a) der Gruppenwert als kleinster gemeinsamer Nenner der Individualwerte,
- b) der prozentuale Anteil von Zustimmung/Ablehnung als Index,
- c) der Gruppenwert als Summe oder Mittelwert der Individualwerte.
Im folgenden werden diese Möglichkeiten diskutiert:
Zu a) Sozialklima als kleinster gemeinsamer Nenner
Wenn man davon ausgeht, daß jedes Mitglied einer Gruppe zu einem Aspekt des Sozialklimas ein Urteil abgibt, so wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verschieden hohen Ausprägungen kommen. Manche Gruppenmitglieder werden positivere, manche negativere Stellungnahmen abgeben: So wird z. B. 'Kohäsion' als weniger stark ausgeprägt oder als stark ausgeprägt wahrgenommen werden. Nun werden alle Mitglieder einer Gruppe die Kohäsion mindestens so stark empfinden wie das Mitglied der Gruppe, welches die Kohäsion am schwächsten wahrnimmt. Der schwächste Individualwert wird bei dieser Art der Indexbildung als Gruppenwert herangezogen. Man mißt damit die Kohäsion einer Klasse an ihrem schwächsten Punkt wie eine Kette, die so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Unter diesem Aspekt ist diese Vorgehensweise sicherlich vertretbar.
In Abb. 4.4 wird deutlich, daß der niedrige Wert des Schülers mit der Nummer 4 bei diesem Konzept der Indexwert ist. Dabei gingen die hohen Werte der Schüler 1-3 verloren. Im Extremfall würden also Außenseiterwerte Beschreibungsmerkmale der Gruppe werden. Aus diesem Grunde konnte sich dieser Index nicht durchsetzen.
Zu b) Prozentualer Anteil
FEND (1977) diskutiert eine Art der Indexbildung, die bisher sehr selten herangezogen wurde: Ein vom Forscher festgesetzter prozentualer Anteil von Schülern in einer Klasse, die einer Klimadimension zustimmen, wird als 'Konsens' und damit als Klimaindex angesehen.
In unserem kleinen Beispiel in Abb. 4.5 haben sich zwölf von 18 Schülern(= 66,6%) positiv zur Kohäsion in ihrer Klasse geäußert. Damit wird eine z.B. auf 60% festgelegte Grenze für das Eintreten eines Konsens weit überschritten und gefolgert, daß in dieser Klasse Kohäsion positiv wahrgenommen wird
Der Nachteil dieses Vorgehens besteht darin, daß die nicht unter den Konsens fallenden Restschüler unberücksichtigt bleiben.
Zu c) Sozialklima als Summe oder Mittelwert der Individualwerte
Eine andere Möglichkeit, der Summenwert, ist allerdings unbefriedigend, da die Anzahl der Mitglieder einer Gruppe den Wert entscheidend bestimmt. Dieser Nachteil kann vermieden werden, wenn die Summe an der Anzahl der Gruppenmitglieder relativiert wird, woraus bekanntermaßen der Mittelwert resultiert. In diesen Index werden im Gegensatz zu a) alle Individualwerte einer Gruppe einbezogen. Allerdings verschwinden durch die Mittelwertbildung die Varianzen der Klasse, wie Abb. 4.6 verdeutlicht.
Die Diskussion um Summe und Mittelwert ist - unabhängig von der Problemstellung in der Sozialklimaforschung - eine alte Frage im Rahmen des Emergenzproblems, was im folgenden kurz umrissen wird.
NAGEL (1967) machte sich Gedanken über die Aussage 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile'. Die Vielfalt seiner Überlegungen läßt sich hier kaum wiedergeben, aber ein wesentlicher Punkt sei herausgegriffen.
Die Aussage 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile' ist teils richtig, teils falsch. NAGEL gibt dazu ein Beispiel: Setzt man vier gleiche Quadrate zu einem großen Quadrat zusammen, so stimmt die Aussage nicht, denn in diesem Falle ist das Ganze notwendig die Summe seiner Teile. Betrachtet man nun die musikalische Note als Teil einer Melodie, so wird niemand auf den Gedanken kommen, eine Melodie nur als Summe von Noten zu betrachten. Auch in der Gestaltpsychologie ist dieser Gedankengang zentral. Damit ist das Emergenzproblem umrissen. Unter diesem Aspekt ist die alleinige Verarbeitung des Mittelwertes in der Erforschung des Sozialklimas ungeeignet.
DREESMANN (1980a) zieht zu der Indexbildung durch den Mittelwert noch ein weiteres Kriterium hinzu: Der Mittelwert wird durch solche Items gebildet, die eine geringe Streuung haben. Dies ist wie folgt begründet: Wenn man den - so DREESMANNs Definition - 'gemeinsamen Erlebensanteil' der Schüler einer Klasse ermitteln will, so darf man bei der Fragebogenkonstruktion nur solche Items verwenden, die von den Schülern relativ gleichartig beantwortet wurden.
Diese Argumentation scheint einzuleuchten, hat aber erhebliche Nachteile. Wenn man sich nämlich fragt, ob das Sozialklima überhaupt ein gerechtfertigtes Konzept gegenüber der individuell wahrgenommenen Umwelt ist, so kann man diese Frage mit DREESMANNs Vorgehen nicht beantworten: Das Ergebnis wird immer den Sozialklimaansatz bestätigen. Ein weiterer Nachteil liegt darin, daß man evtl. sehr reliable Skalen oder sehr trennscharfe Items aufgibt, weil sie eine zu große Streuung haben. Wenn der Sozialklimaansatz theoretisch gerechtfertigt ist, muß er sich in den Ergebnissen auch dann niederschlagen, wenn die Methode offener - und damit konservativer - ist als die DREESMANNs.
Unter Vernachlässigung von Gegenargumenten (NISCHEL, 1979; THELEN & WITHALL, 1949) hat sich die Mittelwertbildung in der Forschung zum Sozialklima eindeutig durchgesetzt. Mit dieser wohl rein statistisch begründeten Indexbildung wurde aber auch eine Entscheidung über die Qualität des Konstruktes Sozialklima getroffen: Durch diese Indexbildung wird das Sozialklima zu einem sog. 'analytischen Merkmal' (vgl. für die Soziologie: BLALOCK & WILKEN, 1979).
Was ist ein analytisches Merkmal? Wir schließen uns der Definition von LAZARSFELD & MENZEL (1961) an. Sie unterscheiden drei Arten von Variablen, die für Mengen und Individuen definiert sind (vgl. TREIBER, 1980b, 167):
- - die 'analytischen Variablen' , die man durch "Anwendung einer mathematischen Operation auf Variablen, welche für Individuen definiert sind", erhält,
- - die 'strukturellen Variablen' , die man durch "Anwendung einer mathematischen Operation auf elementare Informationen erhält, die die Beziehungen jedes Individuums mit bestimmten anderen oder allen anderen Individuen betreffen" (z.B. Klassifikation von Klassen aufgrund des Anteils von 'Isolierten' im soziometrischen Sinne),
- - die 'globalen Variablen' , die aus Informationen konstruiert werden, die sich nicht auf Individuen beziehen (z.B. wenn die Bequemlichkeit von Stühlen für Schüler an der Stuhlhöhe gemessen wird; zit. nach BOUDON, 1976, 466).
Für die Forschung läßt sich zusammenfassend festhalten: Die definitorischen Ansätze verlangen eine Bildung eines Sozialklimaindex aus den individuellen Wahrnehmungen der einzelnen Schüler einer Klasse. Als Analyseebene wird die Klasse bevorzugt. Der Mittelwert wird als Index gewählt. Nach Erhebung der Daten stellt sich nun die Frage, wie sie weiter verarbeitet werden. Da in der Sozialklimaforschung vorwiegend korrelationsstatistische Verfahren verwendet wurden, wird im nächsten Abschnitt die Frage nach der Schätzung des Populationskorrelationskoeffizienten gestellt werden. Vor allem mit der Indexwahl wird eine Reihe problematischer Sachverhalte übersehen oder in Kauf genommen, die Gegenstand der weiteren Darstellung sein werden.
Zusammenfassung
BearbeitenNachdem sich sowohl in der theoretisch orientierten als auch in der empirischen Literatur gezeigt hat, dass die Sozialklimaforschung ihre Berechtigung hat, muß eine Analyse der bisherigen Forschungsmethoden erfolgen. Ein Problem ist die Bildung einer Kollektivaussage aus Individualaussagen (Transformationsproblem).
Praktisch wurde die Transformation durch Aggregierung von Individualwerten durchgeführt. Es gibt verschiedene Formen der Aggregierung, weshalb die Auswahl einer bestimmten Prozedur klar begründet werden muß.
Mit der Aggregierung ergibt sich die Frage, zu welcher Ebene aggregiert werden soll. Diese Wahl der Analyseebene muß theoretisch hergeleitet werden und darf nicht undiskutiert bleiben.
Aggregierung bedeutet immer, daß ein Aggregierungsindex gefunden und begründet werden muß. Es bieten sich einige Alternativen an, von denen sich der Mittelwert als sinnvolle Größe eindeutig durchgesetzt hat. Die derzeit vorliegenden Begründungen dafür bleiben allerdings unbefriedigend.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass Aspekte der spezifischen Methodik der Sozialklimaforschung ungeprüft übernommen wurden oder mit z.T. naiven Begründungen unterlegt worden sind. Dies kann schwerwiegende Folgen haben, wie z.B. die Fehlinterpretation von Forschungsergebnissen. Mit diesem Problem beschäftigt sich der nächste Abschnitt.