Klassengröße – gestern und heute/ Entwicklung der Klassengrößen nach Gruppen


Die Entwicklung der Klassengrößen nach Gruppen Bearbeiten

Hinter den dargestellten Bundes- und Landesdurchschnittswerten können sich unterschiedliche Verteilungen der Klassengröße verbergen. Im Extrem­fall kann der Durchschnittswert das Ergebnis des Zusammentreffens sehr kleiner und sehr großer Klassen sein. Um dies zu überprüfen, wurden für die einzelnen Schulformen auch nach Klassengrößen-Gruppen differenzierte Statistiken von Weiss (1985) zusammengestellt. Angaben zur Verteilung der Klassen auf Klassengrößen-Gruppen wurden bis 1972 vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht, für Volksschulen erstmals 1957, für die übrigen Schulgattungen seit 1965. Für die Zeit nach 1972 finden sich nur noch in den Schulstatistiken einiger Länder entsprechende Hinweise. Informationen darüber, wie sich die Schüler anteilmäßig auf die einzelnen Klassengrößen-Gruppen verteilen, liegen für das Bundesgebiet nur für ein Jahr (1969) und eine Schulgattung (Volksschulen) vor. Auch in den Länderstatistiken sind schülerbezogene Angaben nur vereinzelt anzutreffen. Dieser Zustand ist wahrlich kein Beispiel für transparente Politik, auch wenn es für ein Bun­desland (Bayern) immer wieder Übersichten gibt (Ortner, 1970, 1980).

Die Tabellen 3.8 bis 3.10 geben einen Überblick über die Verteilung der Klassen auf Klassengrößen-Gruppen für das alte Bundesgebiet. Anhand die­ser Tabellen lässt sich zunächst feststellen, dass bei den Volks- und Realschu­len die Klassen annähernd normalverteilt sind. Ein davon abweichendes Profil, das durch keine deutlich ausgeprägten Häufigkeitsunterschiede cha­rakterisiert ist, weisen die Gymnasien auf. Richtet man das Augenmerk nur auf die extremen Größenbereiche (<25, >40), dann zeigt sich folgendes Bild: Bei den Volksschulen (Tab. 3.7) entsprach der Anteil der Klassen mit weni­ger als 26 Schülern 1972 (11,1%) etwa demjenigen im Jahre 1957 (11,3%). Der Anteil der Klassen mit mehr als 40 Schülern war dagegen 1972 deutlich niedriger als 1957 (9,9% gegenüber 30,1%). Ähnlich verlief die Entwick­lung bei den Realschulen (vgl. Tab. 3.9). Bei den Gymnasien, die im Ver­gleich zu den anderen Schulgattungen einen wesentlich höheren Anteil von Klassen im unteren Größenbereich aufweisen, ist im Zeitraum 1965 bis 1972 ein Rückgang bei den Klassen unter 26 Schülern von 40,6% auf 32,9% zu verzeichnen. Leicht rückläufig war auch der - ohnehin relativ unbedeutende - Anteil der Klassen mit mehr als 40 Schülern (1965: 6,6%; 1972: 5,1%).


Tabelle 3.8
Klassen nach Klassengrößengruppen an öffentlichen Volksschulen (Bundesgebiet; obere Reihe absolute, untere prozentuale Werte)
Jahr
Klassen
davon mit einer Schülerzahl von...Schülern
    insgesamt
bis20
21-25
26-30
31-35
1957e
abs.
134.876
5.217b
9.982b
19.982b
28.995b
  v.H.
100
4,0
3,9
7,4
14,8
1961e
abs.
122.589
2.926a
7.703a
18.461a
27.831a
  v.H.
100
3,3
2,4
6,3
15,1
1965
abs.
159.389
4.110
13.504
30.250
40.032
  v.H.
100
1,9
2,6
8,5
19,0
1969
abs.
144.341
1.914
8.346
24.591
39.930
  v.H.
100
1,2
1,3
5,8
17,0
1972
abs.
197.607
3.852
18.232
47.529
64.692
  v.H.
100
1,6
0,2
1,9
9,2
Jahr
Klassen
davon mit einer Schülerzahl von...Schülern
    36-40
41-45
46-50
51-55
>55
1957e
abs.
9.725b
22.725b
11.642b
5.443bc
924bd
  v.H.
21,5
22,2
16,8
8,6
0,7
1961e
abs.
28.425a
20.489a
11.104a
4.070a
1.580a
  v.H.
22,7
23,2
16,7
9,1
1,3
1965
abs.
35.636
22.304
9.702
2.964
896
  v.H.
25,1
22,4
14,0
6,1
0,6
1969
abs.
38.300
21.411
7.673
1.711
465
  v.H.
27,7
26,5
14,8
5,3
0,3
1972
abs.
43.732
15.921
3.079
491
72
  v.H.
24,1
32,7
22,1
8,1


Tabelle 3.9
Klassen nach Klassengrößengruppen an öffentlichen Realschulen (Bundesgebiet)
Jahr
Klassen
davon mit einer Schülerzahl von...Schülern
    insgesamt
< 21
21-25
26-30
31-35
1965 
abs.
15.068
378
1.654
3.386
4.542
  v.H.
100
2,5
11,0
22,5
30,1
1969
abs.
23.438
479
2.097
5.199
7.561
  v.H.
100
2,0
8,9
2,2
32,3
1972
abs.
28.729
609
2.861
7.603
10.294
  v.H.
100
2,1
10,0
26,5
35,8
Jahr
Klassen
davon mit einer Schülerzahl von...Schülern
    insgesamt
36-40
41-45
46-50
> 51
1965 
abs.
15.068
3.460
1.329
279
40
  v.H.
100
23,0
8,8
1,9
0,3
1969
abs.
23.438
5.851
2.009
226
16
  v.H.
100
25,0
8,6
1,0
0,1
1972
abs.
28.729
6.016
2.288
58
  v.H.
100
20,9
4,5
0,2


Tabelle 3.10
Klassen nach Klassengrößengruppen an öffentlichen Gymnasien (Bundesgebiet)
Jahr
Klassen
davon mit einer Schülerzahl von...Schülern
    bis 20
21-25
26-30
31-35
36-40
41-45
> 45
1965 
abs.
6.586
5.553
5.712
5.776
4.259
1.685
312
  v.H.
22,0
18,6
19,1
19,3
14,3
5,6
1,0
1969
abs.
7.659
7.095
8.222
9.126
6.889
2.421
202
  v.H.
18,4
17,0
19,8
21,9
16,6
5,8
0,5
1972
abs.
7.551
7.911
9.671
11.468
8.060
2.236
131
  v.H.
16,1
16,8
20,6
24,4
17,1
4,8
0,3

Legende:

a) Ohne Baden-Württemberg, b) ohne Mittelschulzugklassen, c) in Nordrhein-Westfalen 51 und mehr Schulen, d) ohne Nordrhein-Westfalen, e) ohne Berlin

Quelle: Stat. Bundesamt, Bevölkerung und Kultur, Reihe 10, I Allgemeinb. Schulen und eigene Berechnungen


Es bleibt festzuhalten, dass sich die Klassengrößen in der Bundesrepublik kontinuierlich verringert haben. Erst in jüngster Zeit ist ein erneuter Anstieg zu verzeichnen.

Die Frage ist, wie sich diese Trends interpretieren lassen. Im folgenden sollen dazu einige Möglichkeiten diskutiert werden:


a) Die Schülerzahlen. Die Zahlen über die Entwicklung der Klassengrö­ßen kann man den entsprechenden der Schülerentwicklung gegenüberstel­len. Vergleicht man bspw. die Kurvenverläufe in Abb. 3.2 und 3.3, dann wird deutlich, dass generell die Klassengrößen auch zu einem Zeitpunkt sanken, als die Schülerzahlen noch im Aufsteigen begriffen waren. Bis Mitte der siebziger Jahre kann man vermuten, daß bildungspolitisch der Schüler­zahlenentwicklung eine mehr als kompensierende Personalentwicklung ge­genüberstand. Und dies trotz der negativen Selbstanalyse der damaligen Bundesregierung.In den Zielvorstellungen der Bundesregierung heißt es: "Senkung der Klassenfrequenz und Erhöhung der Zahl der Unterrichtsstun­den" (Bildungsbericht '70, S. 43). Weiter heißt es: "Trotz aller Anstrengun­gen ist es wegen der steigenden Schülerzahlen nicht gelungen, die Klassen­frequenzen im allgemeinbildenden Schulwesen auf die seit 1963 von der Kultusministerkonferenz (KMK) schrittweise angestrebten sogenannten Mit­telwerte zu senken. Dabei stellen die Mittelwerte der KMK keineswegs Ide­alvorstellungen dar" (Bildungsbericht '70, S. 20ff).

Durch die in den letzten Jahren wieder steigenden Schülerzahlen werden auch die Klassen wieder größer werden, wenn nicht mehr Personal einge­stellt wird oder andere Parameter geändert werden (Wochenstundenzahl etc.). Damit stellt sich die Frage nach bildungspolitischen Trends.


b) Bildungspolitische Trends. Es gibt gerade für die Erziehungsgeschichte einige Modelle der Phaseneinteilung nach bildungspolitischen Gesichts­punkten. Diese Modelle widersprechen sich zum Teil. Kanz stellt mehrere solcher Modelle vor, die hier kurz beschrieben werden sollen. Das erste Mo­dell von RUPP gliedert sich zweifach: Die Zeit von 1949 bis 1966/67 und die Zeit danach, zumindest bis 1978. Dieses Modell sieht sich eher von poli­tisch-ökonomischen Zusammenhängen her strukturiert. Das zweite Modell von Harnden gliedert die deutsche Geschichte von 1945 bis 1970 schlicht in Fünferschritten. Das dritte Modell von Kulmann unterscheidet die zwei Phasen der "Non-Reform", einmal von 1949 bis 1960 und von 1960 bis 1966. Die dritte Phase (Phase der Reform) ist der Zeitabschnitt ab 1967. Dieses Modell geht von einem festgefügten Verständnis von Reform aus. Das vierte Modell gliedert die Zeit von 1945 bis 1959 als eine an Weimar angeknüpfte Bildungspolitik, die Zeit von 1960 bis 1963 als Empirisierung und Ideologisierung bzw. demokratisierende Bildungsreform und die Zeit von 1974 bis 1979 als die Zeit der Reformen. Dieses Modell akzentuiert zweifelsohne mehr die Eigenart und die Eigenberechtigung der Phasen. Das fünfte und letzte Modell schließlich stammt von Klafki und gliedert sich in vier Phasen: Die erste Phase reicht von 1949 bis 1959/60, welches die Orien­tierung an Weimar markiert, die zweite Phase (Übergangsphase) geht von 1960 bis 1965, die dritte Phase (intensiver Reformaufschwung) geht von 1965 bis 1973; 1974 schließlich beginnt die Stagnations- bzw. Restaurati­onsphase. Dieses letzte Modell differenziert das dritte Modell, indem es dies zeitlich fortführt, andererseits aber die Erfahrungen der verschiedenen Pha­sen ausführlicher bedenkt. KLAFKIS Stagnationsphase markiert genau den Zeitpunkt in der Schülerzahlenentwicklung, zu dem die Zahlen wieder san­ken. Klafkis Modell könnte auch für den Bereich Klassengröße gelten. Wie oben bereits betont, verlaufen die Schülerzahlen- und Klassengrößenkurven ab Mitte der siebziger Jahre parallel. Hätten die Politiker die Einstellung der Lehrer so fortgeführt wie vorher, dann hätten die durchschnittlichen Klas­sengrößen noch stärker abnehmen müssen. Absolut - so läßt sich festhalten - hat sich eine Verbesserung ergeben, relativ dagegen nicht.


c) Das Lehrerdefizit. BUCHINGER (1975, S.654) konnte herausarbeiten, dass die zeitliche Entwicklung der Klassengrößen von 1955 bis 1970 dem prozentualen Lehrerdefizit nahezu parallel läuft: je höher das Lehrerdefizit war, desto größer war auch die Klassengröße. Diese Beziehung ist keines­wegs tautologisch, weil man auch durch andere organisatorische Maßnah­men zur Unabhängigkeit beider Variablen beitragen könnte.