Klassengröße – gestern und heute/ Die Zeit vor 1800
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Angaben zur Schulwirklichkeit
BearbeitenKurz einen Blick auf die Zeit der Anfänge: Schulen im Altertum waren Privatunternehmen, so dass die Schülerzahl jeder Anstalt vom Ruf des Lehrers und seiner Beliebtheit abhingen. Es besteht aber kein Zweifel darüber, dass auch schon zu dieser Zeit die Größe einer Gruppe (nicht Klasse) eine Rolle spielte. QUINTILIAN (I2; S. 15 f.) ist z. B. der Ansicht, dass ein guter Lehrer sich nicht mit einer größeren Zahl von Schülern belasten sollte, als es seine Kraft zuließe. Er leugnete nicht, dass gerade auch tüchtige Lehrer vor großen Gruppen Freude haben (QUINTILIAN I2, S. 9; zit. n. ROLOFF, 1913, S. 1287). Im Mittelalter ist die Vielgestaltigkeit des deutschen Schulwesens bedingt durch seine verschiedenen Ursprünge und durch die territorialen Sonderentwicklungen. Die ersten Schulen dienten der Ausbildung von Geistlichen in Dom-, Kloster-, Bischofs- und Stiftsschulen. Im Hochmittelalter entstanden in den Städten private, weltliche Lese-, Schreib- und Rechenschulen. Auf Drängen der Reformatoren (Melanchthon, Luther, Bugenhagen) wurde auch im 16. Jahrhundert in den evangelischen Ländern das gelehrte Schulwesen aufgebaut (PLICKAT, 1961, S. 802 f.). Im Mittelalter nahmen die Klosterschulen nur eine begrenzte Schülerzahl auf, wie es die Konvente für angemessen hielten. Einige Zahlen liegen zum Schulbesuch vor, so z. B. aus dem 15. Jahrhundert. Zu dieser Zeit gab es in Xanten im Jahre 1497 84 Schüler, im Jahre 1510 230 Schüler, in Deventer 2200 bei 8 Klassen (1500), in Emmerich 450 (1510) Schüler, in Schlettstadt 900 (1517) Schüler, in etwa zur selben Zeit in Franckenberg (Hessen) 180 Schüler (Angaben aus ROLOFF, 1913, S. 1288). Bei REICKE (1979, Original aus dem Jahre 1901) finden sich Hinweise, dass in Breslau bei Sankt Elisabeth einmal neun Baccalarii alle zusammen in einer Stube unterrichtet wurden. Nach getrennten Klassenräumen scheint es im Mittelalter noch kein Verlangen gegeben zu haben. Seine Gehilfen musste der Schulmeister selbst anstellen und besolden. Die Anzahl der Schüler bildete das wirtschaftliche Fundament des Schullehrers, der im Allgemeinen freie Wohnung und Kost (von der Kirche) hatte. Die Lerngruppen selbst konnten zum Teil auch sehr klein sein. So heißt es in den Statuten des Ave-Maria-Collegs in Paris: „Wieviele Knaben es sein sollen. Ich begrüße sechs arme Pariser Schulknaben, einen Kaplan und einen Lehrer für diese Jungen“ (aus SCHOELEN, 1965, S. 60). Auch aus dem Jahre 1420 ist bekannt, dass die Lateinschulen in Braunschweig nicht mehr als 10 Schüler pro Klassen haben sollten (KOLDEWEY, 1886, S. XLV).
Die Angaben zur Klassengröße für die Zeit vor 1800 sind nicht statistisch erfasst, so wie wir es für die heutige Zeit gewohnt sind. Fast anektodenhaft können aber Ausschnitte aus der Schulwirklichkeit gegeben werden.[1]
- Seit dem 17. Jahrhundert hatten die katholischen Gymnasien (insbes. die Jesuitenschulen) eine große Schülerzahl. Angaben zur Klassengröße liegen nur selten vor, im Jahre 1637 schwankten die Zahlen zwischen 62 und 101 Schülern pro Klasse (ROLOFF, 1913, S. 1288).
- In württembergischen Dörfern lagen in dieser Zeit die Zahlen zwischen ca. 12 bis 150 Schülern (ROLOFF, 1913, S. 1288).
- H. HEPPE schrieb 1858 seine Geschichte des Deutschen Volksschulwesens. Dieses immerhin fünfbändige Werk wurde im Olms-Verlag 1971 als Reprint-Ausgabe wiederaufgelegt (Heppe, 1971). Das Werk enthält weniger offizielle Statistiken und Verordnungen, sondern gibt an vielen Stellen Aspekte wieder, die in den näheren Bereich der Klassengröße fallen. So heißt es z. B. über eine Schule im Jahr 1694: „Bald kamen auch Bürgerskinder, von denen jedes wöchentlich einen Groschen Schulgeld brachte, so daß nun der Lehrer besser bezahlt werden und täglich fünf Unterrichtsstunden geben konnte. Schon im ersten Sommer stieg die Zahl der Kinder auf 60.“ (HEPPE, 1971, Band 1, S. 48 f.).
- HEPPE (1971, Band 5, S. 1 f.) informiert aus dem Herzogtum Sachsen-Meiningen über Berichte, die sämtliche Schullehrer im Jahre 1614 und 1621 schreiben mussten. In dem Bericht des Schulmeisters Johannes Marschall von Dermbach heißt es: „Es ist an diesem Orte beides, Docentibus und auch Discentibus, ein sehr beschwerlich und verdrießlich Schulleben, weil die Schulstube zu klein und niedrig ist, daß man leider die Schuljugend nicht alle, zumalen heberno tempore, da sich bei 70 oder 80 Knaben hier befinden, in einer Stube beieinander haben kann, und dann auch noch ein Schulmeister oder ein anderer ehrlicher Mann, der ein wenig procerioris staturae (hervorragender Leibesgröße) ist, denn die Knaben, mit niedergebeugtem Körper und Kopf müssen irepieren und hineinkriechen“ (S. 2). In einem anderen Bericht heißt es: „Es schicken aber die Eltern ihre Kinder erstlich wenig in die Schule, bis um Martini. Wenn dann der Winter dahergehet, kommen sie, das meiste klein Gesindlein, der Knaben manchmal 20, der Mädchen sechs bis acht; und wenn das dritte Quartal angehet, um Ostern, nehmen die Eltern, was sie gebrauchen können, und ein wenig warm wird, wieder heraus; aber die Kleinen laßen sie hineingehen bis um Johanni“ (HEPPE, 1971, Band 5, S. 6).
- Ein Schulgebäude aus dem Jahre 1649 wurde von Lange (1967) beschrieben: „Der eigentliche Schulraum ist quadratisch (48x48 Fuß, d. h. etwas 207 qm groß) und soll 128 Schülern dienen …“ (LANGE, 1967, S. 93).
- Über das Jahr 1652 berichtet HEPPE (1971, Band 4, S. 307) aus dem Herzogtum Mecklenburg-Schwerin über ein Visitationsprotokoll, das die Schule zu Wittenburg betrifft: „Die Schule sei an Frequenz sehr schwach und halten die Leute ihre Kinder nicht fleißig dazu; bei winterlicher Zeit wären etwa 50 Kinder, welche zur Schulen gehalten werden; an Sommertagen würden die Kinder von den Eltern zum Hüten mitgebraucht und kämen gar selten derselben über 30 in die Schule.“
- Ein Bauplan aus der Mitte des 17. Jahrhunderts gibt Aufschluss darüber, wie viele Schüler in einer Klasse (= Schule) unterrichtet werden sollten: 128 (ALT, 1960, S. 343).
Die Klassengröße wurde auch schon im 18. Jahrhundert diskutiert. So schreibt STUVE: „Wie viel Kinder mit Nutzen zusammen unterrichtet werden können, läßt sich wol nicht so gerade zu und im Allgemeinen festsetzen. Dreißig scheint mir die allerhöchste Zahl, die bei einer zweckmäßigen Methode einigermaßen und nur in gewissen Theilen des Unterrichts stattfinden kann. Je kleiner die Kinder sind, desto geringer muß ihre Anzahl seyn. Freilich ist es bei uns umgekehrt, aber was wäre auch wol bei dem Schulwesen nicht umgekehrt“ (1794, S. 212 f.). Diese Forderung liegt noch unter den derzeitigen Klassenmesszahlen, und das in einer Zeit, in der die Klassen – mit wenigen Ausnahmen – sehr groß waren:
- 1707 gründete Christoph Semler seine mathematische Handwerksschule in der Stadt Halle. Diese Schule existierte drei Jahre und wurde insgesamt nur von ca. 30 Schülern besucht (PETRAT, 1979, S. 231).
- Nach PETRAT (1979, S. 107) entspricht die Garnisonsschule in etwa den heutigen Organisationsformen der Gesamtschulen, abgesehen von der Tatsache, dass fast an die 200 Kinder beiderlei Geschlechts in einer Schulstube beisammen saßen.
- Für das Königreich Preußen informiert Heppe aus dem Jahr 1739: „Nach einem zuverlässigen Bericht hatte es der König dahin gebracht, 'daß täglich 1.300 arme Kinder durch 65 Studios theologiae im Christentum unterrichtet, 800 arme gespeist und in den Kirchen unterrichtet' worden waren.“ (HEPPE, 1971, Band 3, S. 19). Er beschrieb die Lage zu der damaligen Zeit wie folgt: „In sehr vielen Schulhäusern war nur eine einzige Stube vorhanden; in derselben wohnte der Schulmeister mit seiner Familie und mit seinen Hühnern; in derselben trieb er seine Schneiderei und Weberei u. dgl. und in derselben mußte er unter dem Lärm und Schmutz seiner Haushaltung 50 oder 60 Kinder unterrichten, die teilweise unter den Tischen und Bänken Platz zu nehmen genötigt waren. An manchen Orten waren Hirten und Nachtwächter im Besitze des Schulamtes“ (HEPPE, 1971, Band 3, S. 77). Über eine öffentliche „Erbauungsstunde der Realschüler“ berichtet ein Augenzeuge, der von HEPPE zitiert wird: „Aus einem kleinen Buche … verlas der Lehrer eine Frage, und oft 30 bis 40 mußten auf einmal eine auswendig gelernte Antwort hersagen. Es ist zum weinen, wie die erwürdigsten Dinge in dem Munde dieser Kinder gemißhandelt wurden. Ich will alles verwetten, was ich habe, waren unter diesen 40 Kindern 3, die die Frage und die Antwort, die sie hörten und herbeten mußten, verstanden haben“ (1971, Band 3, S. 92).
- HEPPE berichtet über eine Schule in Nachterstädt, an der man unmittelbar die Einwirkung der Basedowschen Pädagogik auf die Volksschule beobachten könne. In diese Schule gingen (1767) etwa 10 bis 12 Kinder (HEPPE, 1971, Band 1, S. 69).
- Derselbe Autor informiert auch über österreichische Schulen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. So gab es beispielsweise in Wien 14 Schulen, in denen jeweils „50 arme Kinder unentgeldlich unterrichtet und mit den nötigen Schulbüchern versehen“ wurden (HEPPE, 1971, Band 1, S. 111).
- Er beschreibt auch die Schattenseiten im Österreichischen Schulsystem (um 1780): „In Hartschendorf, eine Stunde von Reutidschein ist eine Schule, die eher einer Brechhütte ähnlich sieht, als einem Bildungshause der Jugend. Der Regen überschwemmt durch die Oeffnungen des Dachs das innere Wohngebäude; Stützen halten es noch aufrecht. Das Schulzimmer hat kaum einen Raum von 12 Klastern und doch soll es täglich mehr als 70 Kinder auf einmal fassen“ (HEPPE, 1971, Band 1, S. 122).
- PETRAT (1979, S. 38) gibt folgende Schilderung aus einer städtischen Elementarschule: „In einem Winkel der Schulstube saß die Frau Schulmeisterin, und lehrte die Kleinen das ABC, oder ließ sie, wie man sich damals ausdrückte, aufsagen. D.h.: Sie ließ von den 20 bis 30 ABC-Schützen, einen nach dem anderen zu sich kommen, …“. Aus der gleichen Zeit aus einem Bericht einer Landschule (ebenfalls abgedruckt in PETRAT, 1979, S. 44): „Den übrigen Raum nahmen die Schulkinder an einem Tisch und auf mehreren Bänken ein. Es waren ihrer über 50, von verschidnem Alter und Geschlecht, aber alle untereinander und dicht zusammengepfropft. Wir mußten stehen, weil zum Sizen kein Plaz war.“ Eine geradezu unglaubliche Situationsschilderung über Schulen der Württembergischen Region erschien 1772, worin es heißt, dass die Zahl der in einem Raum anwesenden Kinder mit 300 beziffert wurde (PETRAT, 1979, S. 82).
- HEPPE schrieb über die Finanzlage von Lehrern in der großherzoglich-hessischen Provinz Rheinhessen wie folgt: „Betrug die Zal der schulfähigen Kinder einer Religionsgenossenschaft über 150, so hatte der Lehrer derselben ein erträgliches Auskommen, während der Lehrer der anderen Confessionen mit einer Schule von 10 bis 20 Kindern und bei einer Einnahme von 40 fl. als Taglöhner sein Leben notdürftig fristen mußte“ (HEPPE, 1971, S. 109).
- Weiter heißt es: „Für den Unterricht der Soldatenkinder bestand schon seit längerer Zeit in Gotha eine besondere Garnisons-Schule … im Jahre 1721 wurde die Schule, als sich die Zahl der Knaben auf 61, die der Mädchen auf 62 erhöht hatte, in zwei Schulen abgeteilt. Gegen das Ende des 18. Jahrhunderts umfaßten diese beiden Schulen vier Klassen.“ (HEPPE, 1971, Band 2, S. 257).
- 1797 war ein anonymes Schreiben an den Geheimen Rath v. Hardenberg gerichtet. Darin heißt es: „Die Schulstuben, besonders in den großen Gemeinden, wo beinahe 100 Kinder zusammen kömmen, sind ohnehin zu klein und zu niedrig, da denn sich die Kinder aneinander pressen müssen und kaum mit ihrem Lehrer Athem schöpfen können“ (SCHMITT, 1979, S. A-187).
- Es wird auch berichtet von einer Inspektion der Grafschaft Tecklenburg, von der der damalige Inspektor SUETHLAGE im Jahre 1799 wie folgt berichtet: „Sie sehen es ein, daß die Schulhalter, die 70 bis 80 Kinder zu unterrichten haben, bei solchen kleinen Kindern, die sich selbst noch gar nicht zu helfen wißen, wenig oder gar nichts wirken können“ (HEPPE, 1971, Band 3, S. 115).
- HEPPE weiß auch von dem Fürstentum Paderborn zu berichten, dass Pfarrer FECHTELER eine eigene Schule eingerichtet hat, die „schon im ersten Jahre von 100 armen Kindern besucht wurde und kurz darauf 150 Schüler zälte“ (1971, Band 3, S. 206).
- Die Unterschiede hinsichtlich der Schülerbesuchszahlen im Sommer und Winter wurde von HEPPE auch für das Königreich Hannover bestätigt: „In Alten-Celle wurde das Verhältnis der Sommer- und Winterschulen von dem Schullehrer so angegeben, daß er im Sommer fünf, im Winter 88 Schulkinder habe. In Wienhausen hat der studierte Schullehrer im Winter 80 bis 90 im Sommer kaum 10 Kinder. Indessen pflegten doch die lernbegierigen Kinder im Sommer ihren Katechismus mit ins Feld zu nehmen …“ (HEPPE, 1971, Band 3, S. 222).
- In einer Beschreibung einer Volksschule im Pegnitz-Kreise steht (PETRAT, 1979, S. 143 f.): „Das Rechnen auf der Tafel mußte besonders bezahlt werden; unter 50 Schülern aber lernte es kaum Einer … Bey einer Anzahl von 65 bis 70 Kindern, die alle zu einer Zeit in einem Zimmer sich befanden, konnte keine andere Methode Statt Finden, als, daß während die größern schrieben, die kleinsten und kleinern vorgenommen wurden ... Sobald aber die Erde offen wurde, verschwanden die größern, und man sah alsdann kein Kind von 10 Jahren mehr den ganzen Sommer und Herbst über in den Schulen. Höchstens kamen 15 bis 20 der allerkleinsten.“
- Über die Einrichtung einer Armenschule im Jahr 1805 in den Herzogtümern Anhalt-Dessau-Köten bzw. Anhalt-Bernburg berichtet HEPPE (1971, Band 5, S. 71): „Die Schule wurde am 1. Juni 1818 mit 18 Kindern eröffnet; bald wurde sie von 150 besucht, welche Zal noch nicht überschritten werden soll. Schon 1819 wurde ein Hülfslehrer angestellt.“
- Für eine Armenschule im Herzogtum Anhalt-Köten galt, dass 600 Knaben und Mädchen in zehn Klassen unterrichtet worden sind (HEPPE, 1971, Band 5, S. 118).
Die Zahlenangaben über die zur gleichen Zeit unterrichteten Schüler bzw. Schülerinnen schwankten enorm von ca. 30 bis 300 Schülern. Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass die Quellen vor allen Dingen Schultypen beschreiben, die für die unteren „Volksklassen“ bestimmt waren. Ein weiteres Charakteristikum stellten die saisonalen Schwankungen dar: Im Sommer leere Klassen/Schulen, im Winter überfüllte.
Ergänzungen
Bearbeiten- ↑ Weitere vereinzelte Hinweise finden sich in Band 13 der Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte (1903).