Gehirn und Sprache: Na und?


Was ist gewonnen mit einer gedanklichen Verbindung zwischen dem „ungeheuren Gewebe“ der Sprache, „in dem jeder Theil mit dem anderen, und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhang stehen“ (Humboldt), und der fraktalen Grenzstruktur, die wir als Ergebnis der einfachen Rechenvorschrift Z n+1 = Z n² + c am Computer betrachten können?

Vorurteile Bearbeiten

Bisher existiert noch kein wissenschaftliches Modell für jenes Phänomen, das wir subjektiv als „Sinn“ sehr gut kennen und zum sprachlichen Ausdruck bringen können. Wenn die Mandelbrot-Menge uns bei der Vorstellung hilft, wie dieses spezifisch menschliche „geistige“ Produkt aus geregelter Tätigkeit zu erklären ist, dann füllt sie nicht ein Vakuum, sondern muss sich gegen bestehende Vorurteile behaupten.

Über Jahrtausende herrschte im Kulturkreis der von Abraham und Moses gegründeten Religionen die Vorstellung, dass die Menschen die Sprache im Paradies von ihrem göttlichen Schöpfer erhielten und ihr Sinnverständnis durch den Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis geweckt wurde. Als Strafe für ihren babylonischen Hochmut verwirrte Gott die Menschen so, dass sie in verschiedenen Sprachen redeten und sich nicht mehr verständigen konnten.

Erst die Aufklärung brachte mit Herder, W. von Humboldt usw. die Idee von der natürlichen Evolution der Sprache und der geistigen Fähigkeiten in die Diskussion. Erst seit dieser Zeit gibt es eine akademische Sprachforschung. Die Linguistik ist im Vergleich zur Mathematik oder Musikwissenschaft eine junge Wissenschaft, noch in den Kinderschuhen.

„Ignorabimus“ (wir werden es nie wissen) war die Grundüberzeugung der Wissenschaftler bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn es um eine genaue Erklärung des Bewusstseins und der geistigen Vorgänge ging. Erst mit der Simulation geistiger Vorgänge in den ersten Computern konnte die Natur der geistigen Vorgänge in neuem Licht gesehen werden und deren naturalistische Erklärung ins Auge gefasst werden. Mit dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ versprach man sich auch ein neues Verständnis für die natürliche Intelligenz.

Durch die neue, technische Sichtweise kam ein neues Vorurteil in Mode, welches lautet: „Alle geistigen Vorgänge können auf digitale Rechenvorgänge zurückgeführt werden.“ Diese optimistische Meinung wird heute auch von der Neurophysiologie unterstützt, weil Nervenzellen tatsächlich ähnlich wie die Schaltelemente der Computer arbeiten, das heißt: Mit Nervenzellen lassen sich die logischen Grundfunktionen (und-oder) und Rechenoperationen ausführen.

Heute sind alle geistigen Produkte digitalisierbar, Text, Musik, Bilder, Videos, alles kann gespeichert, bearbeitet und im Internet sekundenschnell verschickt werden, und so sagt die gängige Meinung der technisch gebildeten Zeitgenossen heute oft, dass alle geistigen und auch sprachlichen Vorgänge auf digitaler Grundlage wie im Computer zu erklären sind.

Mit bescheidenen Errungenschaften, zum Beispiel den elektronischen Navigationshilfen im Auto und Robotern, die auf gesprochene Befehle reagieren, stützen Computerexperten ihre Hoffnung, eines Tages mit den Maschinen wie mit Menschen sprachlich zu kommunizieren. Elektronische Gesprächspartner oder Briefpartner sind bisher jedoch noch nicht möglich, keine Rechenmaschine versteht den Sinn der von ihr durchgeführten digitalen Operationen, kein Computer hat ein Wissen davon, was er tut, und kein Computer hat bisher den Turing-Test bestanden.

Sind neuronale Netze die Lösung? Bearbeiten

Einen Ausweg aus dem Problem, menschliches Denken und Sprechen elektronisch zu simulieren, sehen die Fachleute in dem Terminus neuronale Netze, mit dem Gedächtnismodelle entwickelt wurden, wie sie auch in der Gehirnrinde vermutet werden.

Doch auch bei neuronalen Netzen fehlt der Qualitätssprung, der das menschliche Erleben von Sinn und das zu Grunde liegende Weltwissen hervorruft.

Über diesen Mangel der neuronalen Netze sehen die Fachleute hinweg, indem sie den Begriff einer parallelen Datenverarbeitung von der gewöhnlichen, seriellen Datenverarbeitung abgrenzen und in der „massiven Parallelverarbeitung des Gehirns“ das Geheimnis der menschlichen Geistestätigkeit vermuten. Mit einer milliardenfachen parallelen Verarbeitung soll erklärbar werden, warum der Mensch in einem Augenblick so viele Sinnesdaten gleichzeitig verarbeiten kann, wie es von keinem Computer zu schaffen ist.

Hier sollte bedacht werden, dass im Prinzip kein Unterschied zwischen einem parallelen und einem seriellen Computer besteht, beides sind letzten Endes Rechenmaschinen. Unterschiede können nur in der größeren Verarbeitungsgeschwindigkeit der parallelen Computer liegen, aber der Qualitätssprung zum Sinnverständnis und dem Wissen um das eigene Handeln ist mit diesem Schlagwort nicht erklärbar.

Parallelen sind dadurch definiert, dass sie einander nie berühren. Bei der augenblicklichen, sinnlichen Erfassung einer komplexen Situation sind jedoch alle Sinnesdaten in Verbindung und ergeben einen zusammenhängenden Sinn, der aus paralleler Datenverarbeitung per definitionem gar nicht gewonnen werden kann. Die Einheit des bewussten Erlebens scheint ganz unvereinbar mit dem Bild eines Parallelcomputers zu sein.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Gestalt der neuronalen Netze, wie sie tatsächlich in der Hirnrinde existieren. Weder von der Neurophysiologie noch von der mathematisch-technischen Seite wurde die spezielle Art und Weise der Verästelung beachtet, die von den Nervenzellen im Großhirn ausgebildet wird.

Der Psychologe Donald Hebb, der die Idee der neuronalen Netze 1949 als Erster formulierte, konnte noch keine Angaben über die Feinstruktur der Verästelungen im Großhirn machen, weil die Architektur der Hirnrinde noch nicht restlos bekannt ist. Die Verbindungen der Nervenzellen sind im Cortex so komplex, dass ihre genaue Beschreibung bisher unmöglich ist.

 
Schema eines neuronalen Netzwerks

Die Informationstheoretiker entwickelten technischen Nachbildungen der neuronalen Netze in geradlinig-geometrischen Formen. Diese technisch-geradlinige Form der Darstellung wurde von bekannten Hirnforschern, z. B. dem Nobelpreisträger John C. Eccles, auch für ein gedankliches Modell der Gedächtnisorganisation übernommen. Warum diese technisch-gradlinige Darstellung von neuronalen Netzen der Großhirnarchitektur in die Irre führt, kann mit folgenden Gedanken begründet werden:

In den technischen Schaltplänen werden die leitenden Verbindungen der Elemente völlig unabhängig von ihrem tatsächlichem Verlauf aus praktischen Gründen als gerade Linien mit rechtwinkeligen Abzweigungen eingezeichnet. Man kann diese idealisierende Abweichung vom realistischen Verlauf bei elektrischen Leitungen ohne Probleme im Schaltbild vernachlässigen.

Es ist aber eine Frage von grundlegender Bedeutung, ob solche Abweichungen von der Realität bei den neuronalen Verbindungen im Gehirn genauso ignoriert werden können, wie in den technischen Geräten. Dieses Problem ergibt sich nicht nur im Blick auf die Hirnrinde sondern stellt sich in allen Teilen des Gehirns.

 
Purkinje- und Pyramidenzelle

Einer technisch-geradlinigen Modellierung der Neuronenverbände steht die Tatsache entgegen, dass die Nervenzellen für ihre vielseitigen Aufgaben im Nervensystem sehr unterschiedliche Formen der Verästelung ausbilden. Die Genetiker sprechen von omnipotenten Stammzellen, die je nach ihrem Einsatzort im Gehirn spezifische Formen ausbilden und sich danach mikroskopisch in ihren spezifischen Verästelungsformen gravierend unterscheiden, zum Beispiel als Purkinje-Zelle, Pyramidenzelle, Sternzelle, Golgi-Zelle, Mooszelle usw.

Die im Gehirn zu beobachtenden Verzweigungen der Nervenzellen unterliegen also weder dem Zufall noch folgen sie den geometrischen Mustern der technischen Nachbildung. Deshalb findet man im ganzen Nervensystem sehr charakteristische Formen der Verästelung, die jeweils einer spezifischen Funktion in einem speziellen Hirngebiet optimal angepasst sind.

Als Beispiel für die Bedeutung der spezifischen Verästelung kann auf das Kleinhirn verwiesen werden, dessen Zellarchitektur gut bekannt ist. Hier sind es die sogenannten Purkinje-Zellen, die mit ihrer spalierartigen Verzweigung einzigartig im ganzen Nervensystem sind und in der Kleinhirnrinde eine ganz spezielle Aufgabe der zeitlichen Bewegungssteuerung erfüllen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Verzweigungsarchitektur im Großhirn dem Zufall überlassen ist. Eher ist zu vermuten, dass die Verzweigungen der dort vorherrschenden Pyramidenzellen genau wie die Verästelungstypen der übrigen Nervenzellen durch Wachstumsvorschriften geregelt werden, die zur Differenzierung ihrer Verästelung und damit auch ihrer Funktion führen.

Aus dieser Sicht erscheint das verbreitete Konzept der künstlichen „neuronalen Netze“ mit paralleler Verarbeitung mangelhaft, seine Misserfolge sind erklärbar.

Ein mathematisches Modell für das Sinn-Ganze Bearbeiten

Als Alternative zu dem bekannten Modell (neuronale Netze im Parallelcomputer) hat der Mandelbrot-Algorithmus den Vorteil, dass seine fraktale Grenzstruktur sichtbar gemacht werden kann. Der unendliche Formenreichtum in ganzheitlichem Zusammenhang ermöglicht uns die Vorstellung, wie in unserem Kopf etwas Ähnliches, ein Sinn-Ganzes aus vielen kleinen Schritten aufgebaut werden kann.

Der sichtbare Zusammenhang verschiedener Strukturen mit bestimmten Zeichenfolgen (dem C-Wert) gestattet einen Vergleich mit der in Zeichenfolgen komprimierenden Fähigkeit der Sprache (und der Samen).

„Der Mensch berührt beim Sprechen, von welchen Beziehungen man ausgehen mag, immer nur einen abgesonderten Theil dieses Gewebes, thut dies aber instinktgemäß immer dergestalt, als wären ihm zugleich alle, mit welchen jener einzelne nothwendig in Übereinstimmung stehen muss, im gleichen Augenblick gegenwärtig.“ So beschrieb W. von Humboldt die Pars-pro-toto-Funktion der Sprache. Die Mandelbrot-Formel kann auch diese Funktion vor Augen führen, weil in jedem Teil ihrer Grenzstruktur eine kleine Kopie der Grundfigur gefunden werden kann, in jedem Teil das Ganze, wie die genetische Substanz in jeder Zelle eines Organismus.

Diese einmaligen Eigenschaften einer simplen Rechenvorschrift lassen die MM als nützliches Modell für Sinn und Sprachfunktion erscheinen.

Um nicht missverstanden zu werden: Wir behaupten damit nicht die völlige Übereinstimmung der Formel mit der Realität der Gehirnvorgänge, sondern möchten nur auf eine Ähnlichkeit der Eigenschaften hinweisen, die auf ähnliche Vorgänge ihrer Realisierung schließen lässt.

Mathematische Vorgänge können auf verschiedene Weise realisiert werden, in Nervensystemen oder elektronischen Schaltungen, und so kann das Modell uns hilfreich beim Verständnis unserer geistigen Vorgänge sein, aber auch als Anregung für zukünftige Computer dienen, die einmal den Turing-Test bestehen sollen.