Gehirn und Sprache: Grenzbildung


Wer lange in Berlin gelebt hat, erinnert sich mit Grauen an die Grenze, die 28 Jahre lang als Mauer durch die Stadt gezogen war. Das war schon ein besonderer Ort, schwer bewacht, gefährlich, voller Absurditäten, aber an keinem anderen Ort wurde so deutlich erkennbar, dass die Politik von menschenverachtendem Wahnsinn beherrscht wurde.

Grenzbildung am 13.8.1961

Für das wissenschaftliche Verständnis von Leben, für die Biologie, muß der Begriff „Grenze“ zu den Grundbedingungen jeden Lebens gerechnet werden. Nach allem, was wir über die Entstehung des Lebens wissen, kann es sich bei den ersten Lebewesen nur um einzelne Zellen, sogenannte Ur-Zellen, gehandelt haben. Diese Zellen mögen von den Zelltypen der heutigen Organismen sehr verschieden gewesen sein, aber in jedem Fall muß das Innere der Urzelle durch eine Grenze von der Außenwelt abgeschirmt gewesen sein. Nur durch eine Trennung von „Außen“ und „Innen“ hatte das Leben eine Chance, einen Ordnungszustand gegen die ungeordneten Umwelteinflüsse zu erhalten und zu erweitern. Als Oase der Ordnung in einer ungeordneten Welt muß jedes Lebewesen sich gegen äußere Einflüsse abschirmen, um zu überleben.

Gleichzeitig mußte schon die erste biologische Grenze dazu fähig sein, nützliche Stoffe herein-, und schädliche Stoffe herauszulassen. Biologische Grenzen sind deshalb immer komplizierte Gebilde mit charakteristische Gesetzmäßigkeiten. Sie sind durch Wachstum in der Größe veränderlich und sie sind die Träger des Formenreichtums der Natur.

Ebenso finden wir auch in der unbelebten Materie Grenzen zwischen Wasser, Land und Luft. Im Kosmos sehen wir kugelförmig begrenzte Objekte (Mond und Sterne) und spiralförmige Galaxien, und sogar das schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße muß eine Grenze seiner gewaltigen Anziehungskraft haben, sonst wären wir schon darin verschwunden.

Für die Wissenschaftler sind Grenzen immer interessant, besteht doch die wissenschaftliche Tätigkeit zum großen Teil aus Grenzfindung, deren Benennung und Vermessung. Zum Beispiel werden für den Arzt viele Krankheiten als Überschreitung von Norm- bzw. Grenzwerten (Blutdruck, Zucker, Temperatur usw.), erkennbar, aber man kann auch ganz allgemein sagen, dass überall, wo etwas unterschieden oder entschieden wird, eine Grenze bestimmt wird. Das können auch Sprachgrenzen, Altersgrenzen oder Grenzen des guten Geschmacks sein, alles existiert für uns in Grenzen.

Das Wort „Grenze“ stammt vom polnischen Wort „Granica“ ab und ist erst seit dem Mittelalter als Ersatz für „Scheide“ im deutschen Sprachgebrauch. Die Grenzscheide vereint noch beide Begriffe, die Markscheide, das Scheidewasser und die Ehescheidung bewahren die alte Sprachform für Trennendes, Teilendes.

Ein Unterscheidungsvermögen und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, das sind elementare Voraussetzungen für jedes über die Sinnesorgane gesteuerte Leben, nicht nur beim Menschen, nicht nur bewußt, sondern schon auf den primitiven Stufen der unbewußten, animalischen Existenz. Essbares von Ungenießbarem, Artgenossen von Feinden, weiblich von männlich zu unterscheiden und seine Entscheidungen danach zu richten, die Erfassung von solchen Grenzen gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Nervensysteme im Tierreich.

Dass auch die bewußt-geistigen Tätigkeiten nicht ohne die Erkenntnis und die Erzeugung von Grenzen auskommt, beweist uns die Sprache selbst.

„Omnia determinatio negatio est.“ (deutsch: Jede Begriffsbestimmung ist eine Abgrenzung.) (Spinoza)

Mit Definitionen (lat:finis = Ende) bestimmen wir die Begriffe genau so, wie es schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte steht: „Und er trennte das Licht vom Dunkel und nannte das Licht Tag und das Dunkel Nacht“ (Moses 1). Wenn wir bescheiden sind, sehen wir unser ganzes Wissen als beschränkt an, aber wir erweitern unseren Horizont bei jeder Gelegenheit, denn „die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (L.Wittgenstein).

Der Begriff der „Gestalt“ (Math: Invariante), dessen Bedeutung für Sprache schon im Kapitel „Gehirn und Musik“ hervorgehoben wurde, „Gestalt“ ist ohne Grenze gar nicht vorstellbar. Man kann so weit gehen, zu sagen: Allein die Grenze macht eine Gestalt erst als etwas in sich Abgeschlossenes.

Mathematik und Physik sind nicht denkbar ohne Grenzen: mit jeder Zählung einer Größe und mit jeder Messung wird eine Grenze bestimmt.

Unser Nervensystem muß folglich, um alle diese Tätigkeiten auszuführen, die Informationen aus der Umwelt selbst als Grenzen in Form von Gestalten und Messungen aufnehmen, ordnen und speichern. Die Wahrnehmung und Speicherung von Grenzen kann als ein zentrales Prinzip des Erkenntnisvermögens gesehen werden und sie muß tief im Nervensystem verankert sein.

Um diese Fähigkeit des Nervensystems zu verstehen, können drei Begriffe hilfreich sein:

Konvergenz, Divergenz und laterale Hemmung.

Bearbeiten

Konvergenz und Divergenz sind Schaltungsprinzipien , die zwischen den einzelnen Ebenen der Informationsverarbeitung im ZNS zu finden sind und deren Ergebnis eine Kontrastbildung durch die sogenannte laterale Hemmung ist.

Davon wollen wir uns eine genaue Vorstellung machen:

Jeder Rezeptor der Sinnesorgane ist in einer Informationsleitung über mehrere Ebenen von Nervenzellen mit dem Thalamus verbunden, von dem aus eine Verbindung zum Großhirn besteht.

Zwischen den einzelnen neuronalen Ebenen, die zum Beispiel schon in der Netzhaut und der Hörschnecke angelegt sind, besteht keine Eins-zu-Eins-Verbindung sondern jede Zelle ist mit vielen Neuronen in der höheren Schicht (divergierend) verbunden, und empfängt andererseits von vielen Rezeptoren oder Neuronen der darunterliegenden Schicht (konvergierend) die Signale. In einem einfachen Schema kann das Schaltungsprinzip so anschaulich gemacht werden:

   


Die laterale Hemmung besteht darin, dass jede der den Rezeptoren nachgeschalteten Neuronen die Erregung ihrer Nachbarzellen verringert. Das Erregungsbild, das sich daraus ergibt, bildet die ursprünglichen Muster der Reizintensität differenzierter ab, weil Übergänge verstärkt dargestellt werden, Kontraste verstärkt werden, Einzelheiten hervorgehoben werden.


Das Konvergenz-Divergenz-Prinzip hat sich schon in der evolutionären Frühzeit der Lebewesen entwickelt. Man findet es bei den Säugetieren nicht nur in der Verarbeitung der primären Sinnesdaten z.B. in der Retina, in der Cochlea und den Hautsinnen, sondern auch in den Verbindungen zwischen Thalamus und Großhirn und in der Kleinhirnstruktur.

Dieses Prinzip stellt einen wichtigen Unterschied zu den Elektronnhirnen her, denn es verwandelt alle eintreffenden diffusen Umwelteindrücke sofort in abgegrenzte Gestalten, sorgt für eine automatische Strukturierung der Daten in ganzheitlich geschlossenen Gebilden. Computer können solche Veränderungen auch berechnen, wenn sie durch ein Programm dazu geführt werden, aber sie tun es nicht wie das Nervensystem bereits mit der neuronalen „hardware“, sondern nur durch genaue Anweisungen per „software“.

Zum Beispiel bietet heute jedes Programm zur Bearbeitung digitaler Photos die Möglichkeit zum „Schärfen“ der Bilder. Mit ausgeklügelten Algorithmen wird dort genau der Effekt erzielt, den die laterale Hemmung im Nervensystem mit allen einströmenden Reizen vollbringt.

Folgende Bilder machen solche Schärfung in verschiedenen Einstellungen sichtbar und bringen damit die Wirkung der Lateralen Hemmung zum Ausdruck. Die Grautöne verschwinden aus dem Bild, die Konturen werden hervorgehoben.

 
nicht geschärft

   




Unser Großhirn bekommt also von seinen Rezeptoren bereits strukturierte Informationen zugespielt, die von der „Wirklichkeit“ der Umweltsignale stark abweichen, aber nützlich für die lebensnotwendigen Reaktionen des Organismus sind. „Grautöne“ werden zu Gunsten deutlicher Konturen unterdrückt. Dieser „Verfälschung“ des Inputs durch laterale Hemmung verdanken wir die Möglichkeit, einzelne Tonhöhen aus einem Zusammenklang zu erkennen, einzelne Instrumente in einem Orchester herauszuhören, Gestalten in Bewegung zu identifizieren, Weinsorten durch einen Schluck zu bestimmen, und dergleichen mehr.

Normalerweise bemerken wir die Verstärkung der Kontraste gar nicht, die laterale Hemmung findet tief unterhalb des Bewußtseins statt. Es gibt aber optische Täuschungen, die erst durch das Prinzip der lateralen Inhibition erklärbar werden, z.B:

 
Graue Flecken
 
Optische Täuschung


Hermann-Gitter (nach Ludimar Hermann 1870, auch Hering-Gitter, nach Ewald Hering): Beim linken Gitternetz glaubt der Betrachter, im Schnittpunkt der weißen Zwischenräume graue Flecken zu sehen. Im rechten Gitternetz erscheinen an den Schnittpunkten der Linien helle Punkte.

Die Überbetonung der Kontraste rührt aus der Verschaltung der Rezeptoren im Auge her (laterale Hemmung).


Die Erkenntniss, dass wir von der Wirklichkeit nur den „Schleier der Maya“ in einer Verbindung von Gestalt und Wort aufnehmen können, war schon vor Jahrtausenden ein fester Bestandteil der indischen Philosophie. Platons Höhlengleichnis entsprach der gleichen Einsicht, und seit I.Kant müssen auch die modernen Philosophen davon ausgehen, dass wir das wirkliche Wirken der Realität niemals mit den Sinnen erfassen können, weil die ursprünglichen Eindrücke vor ihrer zentralen Interpretation bereits automatisch durch ein „a priori“ vorhandenes Ordnungssystem in eine Welt von begrenzten „Dingen“ in den Kategorien von Raum und Zeit verwandelt werden. Die Laterale Hemmung ist ein neurophysiologisches Korrelat des KANTschen „a priori“, sie ist die Voraussetzung von „Invarianten“, mit denen wir Zeichen und Sprache zur Kommunikation bilden.

Halten wir fest, dass Grenzbildung durch laterale Hemmung bereits in den unteren Ebenen des Nervensystems mit der Divergenz und Konvergenz seiner Leitungsarchitektur erzeugbar wird, um aus geringen Intensitätsdifferenzen der Umweltsignale zur Gestaltung von Objekten (Invarianten) zu kommen.

Wir wissen bereits, dass von der großen Informationsmenge, die in jeder Sekunde von den Rezeptoren der Sinnesorgane aufgenommen werden (circa zehn hoch sieben Bit), nur ein Bruchteil (ca. 5-20Bit) von der Kanalkapazität des Bewußtseins verarbeitet werden kann. Der größte Teil der Informationen muß auf dem Weg zur Gehirnrinde ständig wie von einem Filter aussortiert werden. Ein Teil dieser Datenreduktion wird bereits von der lateralen Hemmung geleistet, indem die diffusen Übergänge zu Gunsten der Konturen unterdrückt werden.

Die durch mehrere Stufen von Konvergenz und Divergenz strukturierten Inputsignale werden zunächst zum Mittelhirn und zum Thalamus geleitet. Dort werden die Informationen weiter analysiert. Im Mittelhirn werden bereits reflexartige Reaktionen des ganzen Körpers dadurch gesteuert, wie zum Beispiel die „automatische“ Blickwendung zu auffälligen Ereignissen (Knall, Blitz usw.).

Zur Sprache kommen die Nervensignale erst in der Gehirnrinde, aber nur durch das „Tor zum Bewußtsein“, den Thalamus. In diesem „Zwischenhirn“ muß erst eine radikale Auswahl darüber getroffen werden, welche kleine Datenmenge von ca. 5-20 Bit im Moment gerade bevorzugt wird, die Schranke zur Bewußtseinszentrale zu passieren.

Man kann sich diesen Vorgang in Analogie zur Situation der höchsten Regierungsmitglieder vorstellen, die von der gesellschaftlichen Realität nur über Statistiken von Staatssekretären informiert werden und deren menschliche Kontakte von Vorzimmerdamen und Sicherheitsbeamten bestimmt werden.

So undurchsichtig wie ein „Regierungsapparat“ ist auch das Gehirn jedes einzelnen Menschen. Mit den modernen Untersuchungsmethoden bekommt man interessante Einblicke in das lebendige Gehirn, und seit den ersten mikroskopischen Beschreibungen vor >100 Jahren steht das Gehirn weltweit im Brennpunkt der Wissenschaft, aber eine verständliche Theorie seiner Hierarchie existiert noch nicht in dem Umfang, dass die Auswahlvorgänge zwischen Thalamus und Cortex, das „assoziative“ Gedächtnis und die Sprachfunktion restlos geklärt sind.

Ein verbessertes, ganzheitliches Verständnis für komplexe Dinge erhält man auch mit einer historischen Rückschau darauf, wie die Dinge sich aus einfachen Anfängen entwickelt haben. Mit diesem Vorsatz beschreibt das nächste Kapitel die Evolution der Großhirnrinde, eines Organs, dessen Aufgabe von Anfang an die Herstellung einer Einheit aus Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedächtnis war, wie sie bereits von Aristoteles als Sensus communis beschrieben wurde.

Die Betonung der Funktion eines Sensus communis erscheint notwendig, weil die Hirnforschung bisher vorrangig an einer Aufteilung der Hirnrinde in Regionen mit unterschiedlicher Funktion gearbeitet hat. Diese Aufteilungen des Cortex in sensorische Projektionsgebiete, Assoziationsgebiete, motorische Areale, Sprachzentren usw. sind gesicherte Erkenntnisse und sollen nicht bezweifelt werden. Sie verdecken aber die Notwendigkeit, den Cortex auch als eine Ebene der Vereinheitlichung zu betrachten, in dem alle Gebiete, Areale und Zentren zu einer organischen Ganzheit verbunden sind. Es muß hervorgehoben werden, dass sowohl eine Unterteilung der Hirnrinde in Areale als auch eine Zusammenführung derselben zu einer Einheit jeweils wichtige Gesichtspunkte sind, um der Funktion des Cortex gerecht zu werden. Der folgende Abschnitt soll diese komplementäre Sichtweise ermöglichen.