Gehirn und Sprache: Die Evolution des Großhirns
Das menschliche Gehirn ist keine Neuentwicklung der Natur. Es hat sich wie alle anderen Organe aus einfachen Formen entwickelt. Um das Gehirn von seiner einfachen Seite zu sehen, ist ein Blick auf seine Entwicklungsgeschichte nützlich. Die Entwicklung der Wirbeltiere verlief über ca. 1 Milliarde Jahre, aber jedes menschliche Embryo geht in den ersten Wochen durch alle Stadien dieser Evolution.
Das Nervensystem entwickelt sich aus einer sehr einfachen Struktur, dem äußeren Keimblatt (Ektoderm). Daß ein Organ der Informationsverarbeitung aus der äußeren Grenzschicht entsteht, ist leicht verständlich, weil hier die Reize aus der Umwelt auftreffen. Erst im Lauf der Evolution wurden die empfindlichen Nervenverbände in die Tiefe des Neuralrohrs verlegt, weil sie dort besser geschützt sind. Die Verbindungen zur Außenwelt blieben über die nun spezialisierten Sinnesorgane bestehen.
Mit der Entstehung spezialisierter Sinnesorgane ist die Bildung einer Nervenzentrale verbunden, die den ganzen Körper einheitlich nach den Sinneseindrücken steuern kann. Weil sich schon früh in der Geschichte der Wirbeltiere Augen, Ohren und chemische Sinne (Geschmack, Geruch) ausbilden, ist das Gehirn aller Wirbeltiere in gleicher Art zur zentralen Integration dieser Sinne konstruiert. Es besteht zunächst aus drei Abschnitten:
1.: Im Übergang vom Hals zum Kopf liegt das Stammhirn, welches die Atmung und die Herztätigkeit zentral steuert. Außerdem verfügt es über Rezeptoren für die Mundöffnung, die für die Nahrungsaufnahme wichtig sind (Geschmack).
2.: Das Mittelhirn verbindet die optischen und akustischen Sinnesorgane mit der Körpermuskulatur durch Reflexbögen, die automatische Bewegungen steuern.
3.: Der Rezeptor des Endhirns ist das Geruchsorgan, das sich erst bei den landlebenden Tieren entwickeln kann. Weil der Geruchsinn ein allgemeines Warn- und Reizsystem hoher Empfindlichkeit ist, aber wenig über die räumliche Situation bzw. den Ort der Reizquelle aussagt, ist für das Riechhirn eine Verbindung mit den optischen und akustischen Zentren des Mittelhirns notwendig, mit der alle Sinnesqualitäten auf einer gemeinsamen Ebene vereinigt werden.
Diese gemeinsame Ebene entsteht schon bei den Reptilien aus einer Erweiterung des Endhirns als Telencephalon oder rudimentärer Cortex. Bereits bei Fröschen und Salamandern ist diese Hirnstruktur für die Integration der verschiedenartigen Reize angelegt. Für die Umschaltung der Seh,-Tast- und Hörwelt vom Mittelhirn auf das Endhirn entwickelt sich ein Teil des Vorderhirns, das Zwischenhirn. Aus ihm entsteht der Thalamus, der aus mehreren Kerngruppen die spezifischen Signale des Mittelhirns zu spezifischen Regionen des Cortex sendet. Man bezeichnet diese Anordnung als ein Projektionssystem, die Anatomen nennen den Thalamus das „Tor zum Bewusstsein“.
Mit dem Wegfall des Schuppenkleides der Fische bzw. der Hornschuppen der Reptilien wird bei den Säugetieren die ganze Haut zu einem empfindlichen Sinnesorgan, das ebenso über Projektionsbahnen im Cortex mit den übrigen Sinnesqualitäten in ganzheitliche Verbindung kommt.
Eine Nervenzentrale, in der alle Qualitäten von Signalen zusammengeführt werden, wäre nicht sinnvoll, wenn in ihr keine Befehle für das Verhalten des Organismus gebildet und an die ausführenden Organe geleitet werden könnten. Weil das Geruchsorgan von Anfang an einen steuernden Zugriff auf komplexe Verhaltensweisen hat, kann das zum Integrationszentrum aller Sinne erweiterte Riechhirn auf diese Steuerungsbahnen zurückgreifen, um aus der Zusammenfassung aller Empfindungen ganzheitliche Verhaltensschritte zu entwickeln.
Dieses Integrationsleistung des Neocortex, die alle Sinne zu einem Ganzen verbindet und sinnvolle Verhaltensmuster daraus herstellt, ermöglicht bereits Ratten, Katzen usw. ein intelligentes Verhalten, das wir bei Insekten oder einfachen Organismen so nicht kennen. Dabei zeigt sich, dass schon Vögel und Mäuse ihr integratives Zentrum, die Hirnrinde, nicht nur als Kommandozentrale, sondern auch als besonders leistungsfähigen Informationsspeicher (Gedächtnis) nutzen können.
Beispiel: Eine Fliege lernt es nie, den Zusammenstoß mit einer Fensterscheibe zu vermeiden, während ein Vogel nach einigen Erfahrungen einen vorsichtigen Umgang mit der durchsichtigen Wand lernt.
Nur Tiere, die über einen Cortex verfügen, können dressiert werden, das heißt, sie entwickeln ein Gedächtnis für sprachliche Anweisungen, die sogar über die angeborenen Verhaltensmustern dominieren können. Deutlich ist diese Lernfähigkeit bei den Delphinen, die als Säugetiere mit mächtigem Cortex ausgestattet und gut dressierbar sind, während die relativ großhirnlosen Haie zur Dressur bekanntlich wenig geeignet sind. Indische Elefanten, die als Arbeitstiere eingesetzt werden, verstehen ungefähr einhundert menschliche Befehle.
Lebewesen, die kein Großhirn haben (z. B. Insekten), wirken wie seelenlose Automaten auf uns. Mit der Entwicklung des Cortex kommt zunehmend eine spielerische Phase bei den Jungtieren zum Vorschein, die als Lernphase der Hirnrinde zu verstehen ist und uns den Eindruck vermittelt, dass diese Tiere (z. B. Hunde, Katzen usw.) ähnliche geistige Zustände wie die Menschen empfinden.
Eine mächtige Entwicklung der Großhirnrinde wurde bei den Affen durch die Sonderstellung der Hände ausgelöst. Als bei den Säugetieren noch alle vier Extremitäten ausschließlich zur Fortbewegung dienten, genügten einfache Reflexmuster auf Rückenmarksebene dazu, den harmonischen Laufrhythmus zu steuern. Bei den Primaten geschieht ein Wandel der Fortbewegung, vom Vierfüßler zum Klettertier. Damit kommt es zu einer Umkonstruktion der vorderen Extremitäten, die zu Greifinstrumenten werden. Das alte Bewegungsmuster der Vierfüßler ist damit überfordert, aber das corticale Zentrum kann sich durch massives Wachstum der Großhirnrinde den neuen Anforderungen der Handmotorik anpassen.
Zusätzlich ist bei den Säugern das Kleinhirn in Verbindung mit dem Gleichgewichtsorgan für die Ausführung komplizierter Bewegungsabläufe in das motorische System integriert. Aufrechtes Laufen auf zwei Beinen ist ohne diese Hirnstrukturen nicht möglich.
Die Zusammenarbeit zwischen Cortex und Kleinhirn lässt sich am Beispiel des Radfahrens so erklären: Die Entscheidung über Rechtskurve oder Bremsvorgang trifft der Cortex, während die Feinarbeit der Gewichtsverlagerung und viele automatische Bewegungsimpulse im Kleinhirn bearbeitet werden.
Bei den Affen hat sich die Stellung der Augen im Gesichtsfeld so geändert, dass immer ein räumliches Bild der Umwelt gesehen wird. Für die zentrale Auswertung der binokularen Bilder müssen neue Analysatoren in das System integriert werden, und auch dabei erweist sich die Großhirnrinde als anpassungsfähiges Integrationszentrum mit riesigem Speichervermögen für komplexe visuelle Information.
Mit dieser Ausstattung war der homo erektus für den aufrechten Gang in der Savanne gut gerüstet und konnte den Geruchssinn zugunsten der Fernsinne (Augen und Ohren) vernachlässigen. Der Cortex passte sich seinen neuen Anforderungen an, indem er seine Fläche durch Faltenbildung vergrößerte.
So weit ist das biologische Standardwissen detailliert erforscht und beweist, dass die Großhirnrinde von Anfang an für die Herstellung einer ganzheitlich vereinigten Projektion und Speicherung aller Umweltsignale und einer daraus basierenden Verhaltenssteuerung spezialisiert war und diese Aufgabe in der Evolution immer stärker ausdehnen konnte. Ein besonderer Speichermechanismus ist verantwortlich für die Lernprozesse dieser Integrationszentrale, die den Lebewesen neben der starren, genetischen Anpassung eine flexible Anpassung an beliebige neue Situationen ermöglichen.
Die ersten Menschen hatten mit diesem Gedächtnisorgan und einem verbesserten Kehlkopf die Grundlage für die Verfeinerung der äffischen Laut-, und Gebärdensprache. Die veränderte Daumenstellung erleichterte den Gebrauch von Werkzeugen und sorgte für weitere Ausdehnung der Hirnrindentätigkeit. Die Evolution des Cortex ist nachvollziehbar. Es fehlt nur noch eine wissenschaftlich geprüfte Erklärung für die erstaunliche Leistungsfähigkeit, die sich in dem grauen Teppich unter der Schädeldecke als Bewusstsein, Gedächtnis und Sprache manifestiert.
Die Evolution des Frontalhirns
BearbeitenWenn man die Großhirnrinde in sensible und motorische Bereiche eingeteilt hat, dann fällt noch der große frontale Teil auf, der weder zum sensorischen noch zum motorischen Cortex gerechnet wird, obwohl er etwa ein Viertel der ganzen Rinde ausmacht.
Die Ausbildung eines Frontalhirns geschieht erst sehr spät in der Evolution der Affen. Es hat bei den Menschenaffen schon eine Faltung, aber erst beim Menschen entwickelt das Frontalhirn sich zu einer Größe, die schon äußerlich an der (Denker)Stirn erkennbar ist.
Der mediobasale Anteil des Frontalhirns hat Verbindungen zum Hypothalamus, zum limbischen System und zum Hippocampus, also zu den emotionalen und vegetativen Zentren.
Der konvexe Teil des Frontalhirns hat zahlreiche Verbindungen zu allen motorischen und sensorischen Teilen des Großhirns, zur Formatio reticularis des Hirnstamms und besonders auch zu den Augenmuskeln, welche die Augen der Aufmerksamkeit folgen lassen.
Weil die elektrische Reizung und selbst die Entfernung des Frontalhirns bei Tieren keinen Einfluss auf die Wahrnehmung und Motorik hatten, waren die Hirnforscher sich lange nicht sicher, ob dieser Hirnteil überhaupt eine Funktion hat. Auffällig bei Schäden des Frontalhirns waren zuerst diffuse Änderungen des Verhaltens, das bei Versuchstieren und Menschen ungesteuert und planlos wirkte.
Der 2.Weltkrieg hinterließ in Russland viele Menschen mit Schussverletzungen im Gehirn. Der russische Neurologe Alexander Luria untersuchte mit ausgeklügelten Testmethoden die Folgen der umschriebenen Verletzungen, um die Ergebnisse in seinem Buch „Die höheren kortikalen Funktionen des Menschen und seine Störungen bei örtlichen Hirnverletzungen“(1970) zu beschreiben.
Fasst man die Ergebnisse dieser Studien zusammen, dann führen Schäden im Frontalhirn dazu, dass die Personen keine Aufgaben mehr bewältigen können, die in mehreren Schritten zu einem Ziel führen. Diese Menschen haben keine neurologischen Ausfälle, können sich normal bewegen und verstehen auch Sprache, aber sie können einfache Rhythmen nicht klopfend wiederholen, können keine Rechenaufgaben in mehreren Schritten bewältigen, können keine zusammenhängenden Geschichten erzählen, können keine einfachen Konstruktionen mit Klötzchen herstellen, keine zielgerichteten Aufgaben fehlerfrei ausführen.
Eine tiefgreifende Persönlichkeitsveränderung, der Zerfall von successiven Handlungen in sinnlose Automatismen und eine euphorische Kritiklosigkeit oder Gleichgültigkeit begleiten alle Schäden des Frontalhirns.
Die Untersuchungen von Luria lassen den Schluss zu, dass im Frontalhirn die Synthese der successiven Ordnung für zielgerichtete Handlungen gemeinsam mit einer Erfolgskontrolle der einzelnen Schritte stattfindet.
Wir sind bereits über die gliedernde Tätigkeit der Musik und der Sprache zu der Ansicht gekommen, dass ein wichtiger Teil der menschlichen Gedächtnisleistung in der Speicherung von invarianten Sequenzen wie z. B. Melodien, Gedichten usw. gesehen werden muss. Alle diese umfangreich artikulierenden Leistungen von Schauspielern, Musikern, Schachprofis usw. sind nach heutiger Sicht im Frontalhirn zu suchen, der frontale Cortex kann als der kreative Teil der Hirnrinde gesehen werden, auch wenn wir noch keine Ahnung davon haben, wie invariante Reihenfolgen dort erzeugt und gespeichert werden.
Hemisphärendominanz und Sprachzentren
BearbeitenSchon bei der Herstellung von Faustkeilen mit scharfen Klingen ergab sich eine Aufgabenteilung für die beiden Hände, indem eine Hand zum Festhalten und die zweite Hand für gestaltende Feinarbeiten bevorzugt wurden. Viele Tätigkeiten mit Werkzeugen fördern eine differenzierte Spezialisierung der Hände, und spätestens beim systematischen Training des Schreibens ist eine dominante Hand kaum noch zu vermeiden.
Dementsprechend unterscheiden sich die beiden Seiten der Hirnrinde im Lauf der Evolution und der individuellen Entwicklung zunehmend, und nur auf der Seite der schreibenden Hand wird zusammen mit den Buchstabenverbindungen auch die Artikulation der Sprache gründlich trainiert. Weil die Nervenbahn des rechten Armes im linken Cortex beginnt, liegen auch die Sprachzentren im linken Großhirn, das deshalb als die dominante Hemisphäre bezeichnet wird.
Bei Linkshändern sind die schreibenden und sprechenden Aktivitäten meist im rechten Großhirn lokalisiert, und auch nach Verletzungen oder Krankheiten der linken Sprachregionen findet ein neues Lernen der Sprache in der gesunden rechten Hälfte des Großhirns statt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer großen Plastizität der Hirnrinde, in der zerstörte Funktionen wieder durch neue Lernvorgänge in intakten Regionen ersetzt werden können.
Die große Oberfläche der Hirnrinde bietet neben den sensorischen Projektionszentren und dem motorischen (praezentralen) Rindenfeld noch sehr viel Platz für sogenannte Assoziationsfelder, in denen die Verbindungen zwischen optischen, akustischen, somatosensorischen und motorischen Ereignissen vielfältig verknüpft werden. Jedes sensorische Projektionsfeld kann noch in drei funktionelle Einheiten aufgeteilt werden, in ein primäres Projektionszentrum, um dessen Peripherie ein sekundäres und ein tertiäres Umfeld für spezielle Aufgaben bereit sind, zum Beispiel für das Erkennen von Gesichtern, die räumliche Orientierung und viele komplexe Wahrnehmungen und Tätigkeiten.
Zwischen diesen sinnesspezifischen Zonen befinden sich die integrierenden Verbindungen der optischen, akustischen und somatosensorischen Analysatoren in den „Assoziationsfeldern.“ Diese Felder sind stark an der Bildung von Gedächtnisspuren beteiligt, in denen mehrere Empfindungsqualitäten gemeinsam beteiligt sind.
Eine ähnliche Aufteilung existiert auch im motorischen Gebiet, in dem ein primäres Gebiet (Area4) die efferenten motorischen Signale an den Betz'schen Riesenzellen ausbildet, während um diese primäre Zone herum eine sekundäre und tertiäre Zone für spezielle Aufgaben zur Verfügung stehen. Zu diesen speziellen motorischen Aufgaben gehören zum Beispiel die Steuerung der Augenbewegungen im Zusammenhang mit Körperbewegungen und die artikulierenden Leistungen des Sprachapparates.
Das motorische Zentrum des ganzen Körpers liegt im Gyrus praezentralis bekanntlich in einer Anordnung vor, die als „Homunkulus“ kartographiert wurde, wie das rechte Bild zeigt.
Sehr deutlich ist zu erkennen, daß die Rindengebiete für die Hand und die Sprachwerkzeuge des Mundes überproportional groß gegenüber dem Rest der Körperprojektion sind. Offensichtlich entspricht die Ausdehnung dieser motorischen Rindengebiete den vielseitigen Anforderungen ihrer ausführenden Organe unter anderem beim Schreiben und Sprechen (und Essen!).
Es versteht sich leicht, daß ein Zentrum zur motorischen Artikulation der Sprechvorgänge in unmittelbarer Nähe zu dem motorischen Zentrum der Sprechwerkzeuge liegt.
Dieses Sprachzentrum liegt vor dem motorischen Gebiet der Mundregion und heißt nach seinem Entdecker (1861) Broca-Zentrum.
Bei seiner Zerstörung versteht der Betroffene die Sprache, aber er kann selbst nicht eine fließende Verbindung von Artikulationen bilden, spricht abgehackt im „Telegrammstil“. (motorische Broca-Aphasie).
Das zweite Rindengebiet, dessen Zerstörung zu einer Aphasie führt, wurde 1874 von Wernicke im linken Temporallappen in der Nähe des akustischen Projektionszentrums entdeckt. Bei Ausfällen in dieser Region ist vor allem das Sprachverständnis gestört. Die Patienten können noch alle Töne hören, aber sie können aus sprachlichen Artikulationen keinen Sinn bilden und deshalb auch nicht sinnvoll sprechen (sensorische oder Wernicke-Aphasie).
Im letzten Jahrhundert sind viele Untersuchungen zu der Ansicht gekommen, daß die Sprachfähigkeiten nicht auf diese beiden klassischen Zentren beschränkt sind. Die umfangreichsten Untersuchungen über die speziellen Störungen in speziellen Gebieten wurden ausführlich von A.R.Luria beschrieben.
Bei Schäden im praemotorischen Teil des linken Frontalhirns beobachtete er eine verbale Aspontanität, die er „kinetische Aphasie“ nannte und als Störung der kinetischen Organisation der Sprache deutete. Zusammen mit gehemmten Denkvorgängen erscheint bei diesen Patienten das Verständnis von Sinn gestört. Sie können Sätze nachsprechen, verstehen diese aber nicht und können selbst keine sinnvollen Zusammenhänge formulieren. Auch die Sprachmelodie fehlt bei diesen Schädigungen in der Regel völlig, ähnlich wie bei dem Telegrammstil der Broca-Aphasie.
Ein sensorisches Gegenstück zu dieser kinetischen Aphasie beschrieb Luria bei Schäden im mittleren Temporallappen, unterhalb des Wernicke-Zentrums. In diesem Assoziationsgebiet kommt es zu Verbindungen des akustischen Analysators mit dem occipitalen, optischen Cortex. Bei Ausfällen scheint die Synthese der optischen Vorstellungen oder das Erfassen dieser Beziehungen gestört, wodurch vor allem Kopfrechnen, Lesen und Schreiben gestört sind (Akalkulie, Alexie, Agraphie). Diese Störung wurde „akustisch-mnestische Aphasie“ genannt.
Bei entsprechenden Verletzungen in der nicht-dominanten Hirnhälfte wurde eine tiefgehende Störung der musikalischen Wahrnehmung beobachtet. Vorgegebene Tonfolgen und Klopfrhythmen können nicht erkannt und deshalb nicht wiederholt werden. Auch zu dieser „sensorischen Amusie“ gibt es ein motorisches Gegenstück im rechten frontalen Cortex, wo Verletzungen eine „motorische Amusie“ bewirken.
Eine strenge Systematik ist bei diesen Untersuchungen dadurch erschwert, daß jede verletzte Person einen einmaligen Verlauf dieser Störungen durchlebt.
So viel läßt sich aber sagen, daß die vollständige Verarbeitung von Sprache im Großhirn nicht auf die Areale von Broca und Wernicke beschränkt ist. Wenn man neben der Aphasie auch die Akalkulie, Agraphie, Alexie und Amusie zu den sprachlichen Defekten rechnet, dann sind auch die „Assoziationsgebiete“ der Hirnrinde für die ganzheitliche Entstehungsweise der Sprache heranzuziehen, und sogar die rechte bzw. nicht-dominante Hirnhälfte trägt ihren musikalischen Teil dazu bei.
Ergänzend muß noch bemerkt werden: Auch das Kleinhirn trägt mit seiner Steuerung der Feinmotorik wichtige Komponenten zum flüssigen Sprechen und Schreiben bei. Bei Schäden im Kleinhirn (Cerebelläre Ataxie) sind Sprache und Schriftbild oft „verwaschen“.