Die Untersuchung einer Funktion auf Stetigkeit an einer Stelle zielt auf die Frage, ob eine "kleine" Änderung des Argumentwertes auch nur eine "kleine" Änderung des Funktionswertes zur Folge hat. In der Differentialrechnung wird diese Fragestellung verfeinert; man fragt, in welchem Verhältnis die "Kleinheit" der Änderung des Funktionswertes zur "Kleinheit" der Änderung des Argumentwertes steht. Hierzu nachfolgendes Beispiel.
Beispiel
Sei und und . Dann ist und .
Ändert man nun um ein "kleines" Stück , so ist . Man erhält die Funktionswerteänderung .
Ändert man dagegen um das gleiche "kleine" Stück , so ist , und jetzt ergibt sich die Funktionswerteänderung .
Gleich große Änderung des Argumentwertes ruft in der Regel eine unterschiedlich große Änderung des Funktionswertes hervor.
Man spricht hier von der "Änderungsgeschwindigkeit" , und diese genauer zu untersuchen, ist Gegenstand der Differentialrechnung.
Der Differentialrechnung liegt eine Anzahl physikalischer Probleme zugrunde, die alle eines gemeinsam haben: Es geht dabei stets um den Momentanwert einer zeitlich oder örtlich veränderlichen physikalischen Größe, also um Fragen wie
Was versteht man unter der Momentangeschwindigkeit eines nicht gleichförmig bewegten Körpers?
Was ist seine Momentanbeschleunigung?
Was ist die momentane Stärke eines Flüssigkeits-oder eines elektrischen oder überhaupt eines Stromes?
Was versteht man unter der Dichte eines inhomogenen Körpers in einem seiner Punkte?
Dabei geht es nicht nur um exakte Definitionen sondern auch um Methoden zur Berechnung solcher Größen. Dabei wird sich herausstellen, dass die hier genannten und viele weitere solche Größen zwar definiert und unter idealisierten Bedingungen berechnet, aber nicht gemessen werden können.
Die stets gleichartige Problematik lässt sich sehr anschaulich an der Steigung einer Kurve in einem ihrer Punkte erörtern.
Die Steigung einer Geraden ist der Tangens des Winkels, den sie mit der positiven x-Achse einschließt. Er ist gleich dem Quotienten der Koordinatendifferenzen zweier ihrer Punkte:
.
Der Quotient Δy/Δx heißt Differenzenquotient.
Daraus folgt für die Steigung der Sekante eines Kurvenstücks:
.
Die Steigung der Sekante wird auch als die „mittlere Steigung der Kurve im Intervall Δx“ bezeichnet.
Die Tangente im Punkt einer Kurve ist die Gerade durch ,, welche dieselbe Steigung hat wie die Kurve in . Ihre Gleichung (Punkt-Richtungs-Gleichung) lautet demnach:
.
Der Index bei der Klammer besagt, dass der Grenzwert an der Stelle zu bilden ist, d. h. dass das Intervall sich auf den Wert zusammenziehen lässt.
Selbst wenn die betrachtete Kurve „zusammenhängend“ ist, das heißt nirgendwo einen Sprung macht, können in einem Punkt der rechtsseitige und der linksseitige Grenzwert von einander verschiedene Werte haben. Die Kurve hat dann in zwei Tangenten.
Der Grenzwert des Differenzenquotienten wird abkürzend als Differentialquotient bezeichnet:
.
Zu einer Zeit, als weder für den Kontinuumsbegriff noch für den Stetigkeitsbegriff exakte mathematische Definitionen zur Verfügung standen, wurden die so genannten Differentiale und als "verschwindend kleine" oder auch "unendlich kleine" Größen angesehen. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, dass man mit Differentialen algebraisch sauber operieren kann, wenn man sie nur geeignet definiert:
Das Differential ist identisch mit der Differenz . Je nachdem, ob die damit gemeinte Größe zusammen mit oder auftritt, wird die eine oder die andere Bezeichnung gewählt.
Das Differential ist der (positive oder negative) Anstieg der Kurventangente im Intervall (während der Anstieg der Kurve selbst ist).
Wie man erkennt, ist
und .
Für hinreichend kleine gilt die wichtige Näherung:
.
Bei einigen wenigen Kurven kann die Tangente in einem beliebigen Kurvenpunkt exakt konstruiert werden. (Beispiel: Tangentenkonstruktion bei einem Kreis.) In einem solchen Fall kann auch ihre Steigung (also der Differentialquotient) graphisch ermittelt werden. Im Allgemeinen jedoch ist man auf die analytische Darstellung der Kurve – ihre Funktionsgleichung – angewiesen, wenn man den Grenzwert bestimmen will.
Die Bedeutung des Differentialquotienten reicht aber weit über das Tangentenproblem hinaus. Er spielt in Teilgebieten der Mathematik, insbesondere aber in der Physik eine bedeutende Rolle. Die mathematische Durchdringung der Physik ist ohne den Differentialquotienten undenkbar. Wir übertragen daher jetzt die oben eingeführten Begriffe auf mathematische Funktionen.
Die eindeutige Zuordnung der Elemente y einer Menge Y von Zahlen zu den Elementen x einer Menge X von Zahlen heißt Funktion.
Anders ausgedrückt:
Durch eine Funktion wird jedem Element x der Menge X genau ein Element y der Menge Y zugeordnet. (Es ist derzeit üblich, eine solche Zuordnung als "Abbildung" zu bezeichnen, obwohl der Sinn einer solchen Ausdrucksweise erst in der Funktionentheorie verständlich wird.)
X heißt Definitionsbereich D, Y heißt Wertebereich W der Funktion.
Der einem Wert xi zugeordnete Wert yi heißt der zu xi gehörige Funktionswert yi = f(xi).
Die analytische Darstellung einer Funktion geschieht durch ihre Funktionsgleichung. Diese kann verschiedene Formen haben:
Explizite Form: y = f(x)
Implizite Form: F(x, y) = 0
Parameterdarstellung: x = φ(t), y = ψ(t)
Mittelbare Funktion: y = f(φ(x))
Beachte den Unterschied zwischen Funktion und Funktionsgleichung.
Wenn nichts anderes verabredet wird, gilt als Definitionsbereich D einer Funktion die Menge aller reellen Zahlen, deren Funktionswert ebenfalls reell ist.
Die Funktionsgleichung der Funktion sei . Ferner sei die Funktion an der Stelle und in der Umgebung von definiert. Damit ist gemeint, dass nicht ein singulärer, isolierter Definitionspunkt sein darf, in dessen Nachbarschaft die Funktion nicht definiert ist. Die "Umgebung" kann sehr wohl eine einseitige Umgebung sein, sodass ein Randpunkt des Definitionsbereichs ist. Die Intervallbreite der "Umgebung" darf beliebig klein, jedoch nicht null sein. – Die Bedingung, dass die Funktion in einer gewissen Umgebung von definiert sein muss, ist notwendig, damit der Funktionswert nicht nur an der Stelle , sondern auch an der Stelle angegeben werden kann.
Dann ist der an der Stelle gebildete Differenzenquotient der Funktion :
.
Wenn der Grenzwert
existiert, so sagt man, die Funktion sei an der Stelle differenzierbar, oder sie besitze dort eine Ableitung.
Übliche Bezeichnungen für den Differentialquotienten und für die Ableitung an der Stelle sind:
.
Satz (1)
Ist die Funktion an der Stelle differenzierbar, so ist sie dort auch stetig.
Beweis
Wenn die Funktion an der Stelle differenzierbar ist, so existiert dort der Grenzwert
und hat dort einen bestimmten (endlich großen) Wert . Dies setzt jedoch voraus, dass für gegen auch gegen strebt, also gilt
oder .
Anderenfalls würde der Differenzenquotient für gegen unbeschränkt wachsen. Die rechte Gleichung ist aber nichts anderes als das Kriterium der Stetigkeit der Funktion an der Stelle .
Satz (2)
Die Funktion sei an der Stelle differenzierbar und daher auch in einer gewissen Umgebung dieser Stelle definiert. Setzt man nun für alle , für die definiert ist,
und ,
so ist und an der Stelle stetig.
Dieser Satz ist unmittelbar einleuchtend. Er kann – samt seiner Umkehrung – in der folgenden Form ausgesprochen werden:
Satz (3)
Eine an der Stelle und in einer Umgebung von definierte Funktion ist dann und nur dann an dieser Stelle differenzierbar und hat dort die Ableitung , wenn die Differenz
sich nach der Formel
in zwei Teile zerlegen lässt, wovon der erste proportional zu ist und der zweite so beschaffen ist, dass er auch nach Division durch für gegen ebenfalls gegen geht.
Beweis
Die Formel in Satz (3) ist nichts anderes als die mit multiplizierte und dann umgestellte Formel in Satz (2).
Ist umgekehrt die Bedingung erfüllt, so ist nach Division durch
und .
Die Funktion besitzt also an der Stelle eine Ableitung und diese hat den Wert .
Dieser wichtige Satz heißt Zerlegungssatz, und die obige Formel heißt Zerlegungsformel.
Differenzierbarkeit einer Funktion in einem Intervall
Eine Funktion heißt im beiderseits offenen Intervall differenzierbar, wenn sie an jeder Stelle des Intervalls differenzierbar ist.
Ist eine Funktion im Intervall differenzierbar, so hat ihre Ableitung in jedem Punkt des Intervalls einen genau bestimmten Wert, der mit bezeichnet wird, wobei ist. Folglich ist die Ableitung in dem angegebenen Intervall selbst wieder eine Funktion von .
Diese Funktion wird die abgeleitete Funktion oder kurz Ableitung von genannt. Übliche Schreibweisen für die abgeleitete Funktion sind
Die konstante Funktion ( reell) Der Graph dieser Funktion ist eine horizontale Gerade. Ihre Steigung ist null. Daher ist auch .
Die Funktionen und ( reell) Die Graphen beider Funktionen sind parallele Geraden mit der Steigung . Folglich gilt für die Ableitungen beider Funktionen .
Die Ableitung der Summe und Differenz zweier Funktionen
Ein einfaches Beispiel einer mittelbaren Funktion ("Funktion einer Funktion") ist die Funktion
Setzen wir
und
so wird
eine mittelbare Funktion von x.
Der Differenzenquotient der so genannten inneren Funktion (hier: ) ist
der Differenzenquotient der so genannten äußeren Funktion (hier ) ist
Den Differentialquotienten kann man dann schreiben
Dabei muss allerdings vorausgesetzt werden, dass ungleich ist, d. h. die Kurve der Funktion darf an der Stelle keine horizontale Tangente haben. Eine detaillierte Untersuchung zeigt aber, dass diese Bedingung rein formaler Natur ist. Es gilt also ohne Einschränkung die so genannte Kettenregel:
oder
Diese Regel gilt auch für beliebig viele erkettete Funktionen.
gegeben. Da die einzelnen Summenglieder alle stetig und differenzierbar sind, dürfen wir gliedweise ableiten:
Alternativ können wir die Ableitung auch aus der Umkehrfunktion gewinnen, da
die Funktion für alle reellen Zahlen definiert, stetig und streng monoton ist. Ihr Wertebereich ist . Aus
Sei -mal differenzierbar im Intervall , und sei .
Dann gilt
mit
.
Ist sogar -mal differenzierbar, so kann man das Restglied (den Fehler) auch schreiben als
mit einem zwischen und . Das Restglied in dieser Darstellung nennt man auch das Lagrangesche Restglied.
Das Taylorpolynom gibt die Möglichkeit, eine mehrfach differenzierbare Funktion in der Umgebung eines Entwicklungspunktes durch ein Polynom zu approximieren und deren Approximationfehler qualitativ/quantitativ abzuschätzen.