Soziologische Klassiker/ Durkheim, Emile

Grundstruktur des Kapitels:


Biographie in Daten

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Durkheim Emile

 
Émile Durkheim
  • geboren am 15.04.1858 in Épinal (Lothringen/Frankreich)
  • gestorben am 15.11.1917 in Paris


Eltern:

Vater: Móise Durkheim, Rabbiner(Oberrabbiner von Vosges und Haute Marne)

Mutter: Mélanie Durkheim, Kaufmannstochter

Kinder:

Marie Durkheim

André Durkheim


Ausbildung:

  • Besuch des Collége d´Épinal in Épinal (studierte neben seinem normalen Schulbesuch Hebräisch, das Alte Testament und den Talmud)
  • 1874 Baccalauréat és lettres
  • 1875 Baccalauréat és sciences
  • 1875 - 1879 Fortsetzung der Schulausbildung am Lycée Louis-le-Grand in Paris; zwei vergebliche Versuche zur Zulassung an die École Normale Supérieure (1877/1878)
  • 1879 - 1882 Studium der Philosophie an der École Normale Supérieure in Paris; er hat nur wenige Freunde, darunter den späteren Sozialistenführer Jean Jaurès
  • 1882 Agrégation de Philosophie


Berufliche Daten:

  • 1882 - 1887 Professor am Lycée in Sens, Yonne; dann in Saint-Quentin, Aise; zuletzt in Troyes, Aube
  • 1885 - 1886 Unterbrechung seines Schuldienstes; sechsmonatiger Aufenthalt im Deutschen Reich, vor allem in Marburg an der Lahn, Berlin und Leipzig; dort studiert er die `Kathedersozialisten` Gustav Schmoller und Adolf Wagner; die Rechtslehren Rudolph von Iherings und Albert Posts; den Organizismus Albert Schäffeles und die Psychologie Wilhelm Wundts
  • 1887 - 1896 Rückkehr nach Frankreich an die Universität Bordeaux; Lehrbeauftragter und außerordentlicher Professor der Sozialwissenschaften
  • 1896 - 1902 ordentlicher Professor der Sozialwissenschaften; ein eigens für Durkheim eingerichteter Lehrstuhl, der erste dieser Art in Frankreich
  • 1902 Durkheim wird an die Sorbonne berufen; erst Lehrbeauftragter, dann ordentlicher Professor der Pädagogik und Soziologie


Weitere wichtige Ereignisse:

  • 1887 Heirat mit Louise Dreyfus (keine Verwandtschaft mit Hauptmann Dreyfus)
  • 1898 Gründer und bis 1917 Direktor der Zeitschrift`L´Année Sociologique`
  • April 1916 Tod seines Sohnes André


Historischer Kontext

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Familiäres Umfeld

Émile Durkheim entstammte einem strengen Rabbinerhaushalt. Sein Vater Moise war ein einflussreicher Rabbi von Vosges und Haute Marne, und es galt bereits früh als ausgemacht, dass Émile die Familientradition fortführen sollte. Er entschied sich zwar gegen seine vermeintliche Berufung, dennoch prägte seine strenge orthodox-puritanisch-jüdische Erziehung Zeit seines Lebens sein Pflichtbewusstsein.

Politisches Umfeld

Émile Durkheims Leben war von der damaligen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich bestimmt. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 war verloren, und diese sehr unruhige Zeit der Dritten Republik in Frankreich war geprägt durch zahlreiche politische Skandale und Affären.

Die Dreyfus-Affäre löste 1894-98 eine der größten innerpolitischen Krisen Frankreichs aus. Grund war der Prozess gegen den französischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der wie Durkheim jüdischer Abstammung war. Angeklagt wurde er aufgrund des Verrats militärischer Geheimnisse an das Deutsche Reich. Nach einem schnellen Prozess wurde er degradiert und zu einer lebenslänglichen Deportation verurteilt. Dies verstärkte antisemitische Stimmen in allen sozialen Kreisen Frankreichs und als sich dann auch noch die Beweise, die zu Dreyfus Verurteilung geführt hatten, als falsch erwiesen, löste dies eine Welle von Protesten und öffentlichen Debatten aus, die letztendlich zum Freispruch von Dreyfus führten. 1898 setzte sich auch Durkheim mit seinem Artikel „L´individualisme et les intellectuels“ für den jüdischen Offizier ein.

Der 1. Weltkrieg stellte einen tiefen Einschnitt in Durkheims Leben dar, der ihn nicht nur seine akademische Arbeit unterbrechen ließ, sondern auch von seiner Schule einen hohen Blutzoll forderte. Viele der jungen Talente fielen im Kampf; darunter auch 1916 sein Sohn André.

Theoriegeschichtlicher Kontext

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Auguste Comte

Durkheim war jener, der kundtat, dass Comte die Grundlagen der Soziologie errichtete und aus diesem Grunde zu dessen Ehre auch seine „Wissenschaft von der Moral“ mit dem Namen Soziologie belegte. Der Name wurde dann später akzeptiert, und diese neue Richtung wurde von Durkheim vertreten. Die Parallele zwischen Durkheims und Comtes Werk liegt darin, dass beide „durch das Verhältnis Individuum und Gesellschaft zentral bestimmt“ sind. Durkheims Trennung von mechanischer und organischer Solidarität basiert auf Comtes Überlegungen. Es finden sich zwar Ideen von Comte bei Durkheim, weitaus wichtiger waren bei Durkheims Arten der Solidarität allerdings Montesquieu und Rousseau.

Charles-Louis de Secondant Montesquieu

1892 beschäftigt sich Durkheim mit Montesquieus methodischen Grundlagen der Sozialwissenschaft und greift in seinem Werk „Regeln der soziologischen Methode“ von 1895 auf dessen Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten sozialen Lebens zurück. Allerdings beschränkt Durkheim den Gegenstand der Soziologie nicht auf politische Einrichtungen, sondern fasst darunter allgemein und viel weiter, alle sozialen Faktoren, Strömungen und kollektiven Vorstellungen.

Jean-Jaques Rousseau

Durkheim beschäftigt sich in seinem Werk „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ in Anlehnung an Rousseaus Gesellschaftsvertrag mit der Auffassung, was es ist, das den Zusammenhalt der Gesellschaft ausmacht.


Weitere Inspirationen für seine Arbeiten fand Durkheim auch bei Vertretern anderer Disziplinen wie die der Philosophie, im speziellen René Descartes und Immanuel Kant, die einen mehr oder minder großen Einfluss ausübten.


De la division du travail social: Étude sur lóganisation des sociétés supérieures. Alcan: Paris, 1893

dt.: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1977

Les régles de la méthode sociologique. Alcan : Paris, 1895

dt.: Die Regeln der soziologischen Methode. Luchterhand: Neuwied/Berlin, 1961

Le suicide: Étude de sociologie. Alcan : Paris, 1897

dt.: Der Selbstmord. Luchterhand : Neuwied/Berlin, 1973

Les formes élémentaires de la vie religieuse. Alcan : Paris, 1912

dt.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1981

L´Allemagne au-dessus de tout: la mentalité allemande et la guerre. Colin: Paris, 1915

dt.: Deutschland über alles: Die deutsche Gesinnung und der Krieg. Payot: Lausanne, 1915


Weitere veröffentlichte Werke

Erziehung, Moral und Gesellschaft: Vorlesungen an der Sorbonne 1902/1903. Suhrkamp

Physik der Sitten und des Rechts: Vorlesung zur Soziologie der Moral. Suhrkamp

Schriften zur Soziologie der Erkenntnis. Suhrkamp

Soziologie und Philosophie. Suhrkamp

Das Werk in Themen und Thesen

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Durkheims Werk ist in seiner Ausdrucksweise streng wissenschaftlich, manchmal sogar dogmatisch anmutend. Das Verhältnis von Autor und Werk ist komplex und kompliziert, was im Fall von Durkheim bedeutet, dass er hinter dem Werk „verschwindet“ oder anders ausgedrückt, dass das Werk seine Persönlichkeit darstellt. Die Frage „Wie ist Ordnung in der Gesellschaft möglich?“, ist in all seinen Schriften vorherrschend. In Bezug auf diese Fragestellung schrieb Durkheim seine Theorien in den verschiedenen Werken nieder.


Methodische Grundlagen der Soziologie

In „Die Regeln der soziologischen Methode“ zeigt Durkheim die Absicht, eine Theorie der Soziologie zu entwickeln. Er begreift die Soziologie in erster Linie nicht als System, sondern als Methode, die auf die einzelne andere Wissenschaften anzuwenden sei.

Weit verbreitet und sehr geläufig waren zurzeit Durkheims psychologische Theorien. Alles Geschehene wurde vom Individuum abgeleitet, von seinem Willen, seinen Bedürfnissen und Motiven. Allein das Individuum wurde für sein Handeln zur Verantwortung gezogen. Allerdings wirken Individuen mit ihrem Handeln auf ihre unmittelbare Umgebung ein, dessen Teil sie sind. Ebenso werden die vermeintlich individuellen Handlungen von allgemein gültigen Regeln bestimmt, die sich unabhängig vom Einzelnen darstellen. Durkheim erkannte diese Dichotomie und machte sie zur Grundlage für sein soziologisches Gedankengut. Einerseits existiert das Individuum, die Person, mit der sich die Psychologie beschäftigt; andererseits gibt es das Soziale, die soziale Tatsache. Nach diesem „fait social“ zu suchen und zu analysieren ist Durkheim zufolge, Aufgabe der Soziologie. Er beschreibt sie als äußerlich (dem Menschen nicht angeboren, sondern anerzogen), zwanghaft (üben auf den Willen eines jeden Druck aus), allgemein und nicht universal (weder der Natur der Menschheit noch der Natur der Menschen innewohnen) und unabhängig (gehen nicht im Verhalten von Einzelnen auf und erschöpfen sich auch nicht in der Praxis). Die soziale Tatsache steht demnach über dem Menschen, sie steuert dessen Handeln, aber sie selbst ist nicht das Handeln. Soziales kann also nicht aus Individuellem sondern nur aus Sozialem erklärt werden. Um dieses Phänomen allerdings zu verstehen, reicht nicht nur eine Beschreibung und Erklärung aus, es muss auch eine Bewertung vorgenommen werden.


Die Analyse der modernen Gesellschaft

In seinem Werk „Die Teilung der sozialen Arbeit“ stellt Durkheim eine Studie zur Organisation höherer Gesellschaften vor. Durkheim postuliert soziale Differenzierung als Strukturprinzip moderner Gesellschaft, das nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen Lebensbereichen Einzug gehalten hat. Wenn sich Industrie und Technologie fortentwickeln und die Bevölkerung zunimmt, muss sich auch die Gesellschaft spezialisieren, um langfristig überleben zu können. In diesem Sinne bezeichnete Durkheim diesen Prozess auch als Entwickeln zu einer höheren Gesellschaft.

Durkheim konzentrierte sich vordergründig nicht darauf, was die Teilung der Arbeit exakt ist, sondern wie sie Personen ändern, die miteinander in einer Beziehung stehen. Er war interessiert an den sozialen Folgen von fortschreitender Spezialisierung. Wenn die Spezialisierung zunimmt, trennen sich Menschen mehr und mehr voneinander, Werte und Interessen ändern sich, Normen variieren und Subkulturen werden gebildet; d.h. je individueller die Gesellschaftsmitglieder werden, desto weniger werden sie durch ein einheitliches Kollektivbewusstsein integriert. Trotzdem sah Durkheim die Teilung der sozialen Arbeit und ihre Folgen nicht als Zerstörer der Gesellschaft, sondern argumentierte, dass auf diese Art und Weise eine neue Gesellschaftsform entstünde, die er organische Solidarität nannte. Diese unterscheidet sich von der mechanischen Solidarität. Mechanische Solidarität resultiert aus der Ähnlichkeit von einzelnen Personen in einer Gesellschaft, die gleiche Riten und Routinen besitzen, wie es in archaischen Gesellschaften der Fall ist. Alle Individuen führen dieselbe oder eine einander ähnliche Tätigkeit aus. Je einfacher nun die soziale Struktur der Gesellschaft, je religiöser die Kultur und je geringer die Individualisierung sind, desto mächtiger ist demnach das Kollektivbewusstsein.


Die Analyse der modernen Kultur und der archaischen Religion

Durkheim untersucht diesen Themenschwerpunkt betreffend Struktur und Entwicklung von Wertsystemen. In seinem Werk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ von 1912 versucht Durkheim eine Analyse und Erklärung der einfachsten Religionen vorzunehmen. Dieses zuletzt verfasste große Werk gilt als eines der besten und reifsten seines Genres. Er benutzt hier hauptsächlich Erkenntnisse, die er aus Studien über australische Ureinwohner unter Berücksichtigung des Totemismus gewonnen hat. Er hatte diese Kulturen gewählt, weil sie seines Erachtens die elementarste Form der Religion darstellten. Mit seinem Werk wollte er einerseits zeigen, dass Religion nicht göttlichen oder übernatürlichen Ursprungs ist, sondern ein Konstrukt der Gesellschaft und andererseits die Gemeinsamkeiten nennen, die bei allen Religionen auftreten.

In Anlehnung an diese Erkenntnisse argumentiert er, dass die ersten Denksysteme der Menschen ihren Ursprung in der Religion haben. Demnach kann die Religion als Folge von sozialem Zusammenleben betrachtet werden; sie bildet die Grundlage von Solidarität und Identifikationsmöglichkeiten. Religion gibt seiner Ansicht nach dem Leben ein Ziel, einen Sinn und stärkt die moralischen und sozialen Normen aller, die in einer Gesellschaft leben.


Der Selbstmord

„Le Suicide“ erschien 1897. Das Krisenbewusstsein, welches das Werk wie ein roter Faden durchzieht, ist um die Jahrhundertwende keine Besonderheit.

Émile Durkheim sah die moderne Gesellschaft in einem Zustand der moralischen Krise, d.h. in einem Mangel an sozialer Ordnung und in einer normativen Orientierungskrise. Den Zustand der Gesellschaft beschreibt er als „malaise collectif“, als physiologisches Elend des sozialen Körpers. Dass Handlungen ohne normative Regulierung (anomisch) derart ausweglos miteinander kollidieren, dass Vernichtung des anderen oder die Selbstvernichtung als einzig verbleibende Alternative gesehen wird, gehört zum Erleben der Zeit Durkheims. (Klaus Dörner in: Der Selbstmord)


  • Definition
    „Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte.“ (Durkheim, S. 27)
  • Die Studie
    Die Studie über Selbstmord, die Durkheim im Jahr 1897 veröffentlichte, ist das Ergebnis einer grandiosen empirischen Untersuchung und Dokument eines streng soziologischen Zugriffs auf ein soziales Phänomen. Nicht den Selbstmord an sich will er erklären, sondern die Selbstmordrate in einer bestimmten sozialen Situation.
    Durkheim beschäftigt sich nicht mit einzelnen Selbstmordfällen und ihren individuellen Gründen, sondern mit Selbstmord als sozialem Phänomen, das er durch soziale Ursachen klären will. Er benutzte Selbstmordstatistiken zwischen 1840 und 1880, um den Selbstmord als eine harte soziale Tatsache zu behandeln, die als „Ding“ im objektivistischen Sinn untersucht werden kann, entsprechend seiner Definition des sozialen Tatbestands und seiner Vorstellung der Erforschung sozialer Phänomene mit positivistischen Methoden der empirischen und quantitativen Forschung. Durkheim vertraute dabei auch amtlichen Aufzeichnungen als Quellen für die Todesursachen. Bewusst akzeptierte er also die Interpretationen von Beamten, Ärzten und Familienmitgliedern. Verwandte geben aber oft nur ungern zu, dass ein Tod ein Selbstmord war. Offizielle Statistiken setzen daher die wahre Zahl von Selbstmorden vermutlich zu niedrig an.
  • Der Selbstmord als soziales Phänomen
    Aufgrund der gesammelten Fakten und Statistiken zog Durkheim den Schluss, dass der Selbstmord, zumindest partiell, gesellschaftlich bedingt ist. Der Selbstmord „hängt von sozialen Ursachen ab und stellt selbst eine Kollektiverscheinung dar“. Merkmale der sozialen Gruppe, der der Mensch angehört, machen einen Selbstmord mehr oder weniger wahrscheinlich, und die Selbsttötung ist nicht einfach nur ein privater Akt. Durkheim erklärte also scheinbar individuelle, private Handlungen durch kollektive Ursachen, deren sich die individuellen Akteure womöglich gar nicht bewusst sind.
    Durkheims zentrale These lautete: „Je besser die Menschen in sozialen Gruppen integriert sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie Selbstmord begehen“. Oder umgekehrt: Je geringer der Grad der sozialen Integration, desto höher die Suizidrate. (vgl. Joas, S. 40-45)
  • Typisierung des Selbstmords
    • Altruistischer Selbstmord:
      Es ist die Gesellschaft, die Druck auf die Individuen ausübt, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil es keinen Platz mehr für sie gibt. Das Individuum ordnet sich unter die Erwartungen der Gesellschaft unter.
    • Fatalistischer Selbstmord:
      Erwächst aus einem Übermaß an Reglementierung. „Es ist der Selbstmord derjenigen, denen die Zukunft mitleidslos vermauert wird.“
    • Anomischer Selbstmord:
      Im Unterschied zum egoistischen Selbstmord, der dann auftritt, wenn sich die soziale Gruppe sich vom Individuum entfernt, tritt der anomische Selbstmord dann auf, wenn die Gesellschaft einen dynamischen Wandel durchmacht, der in Unordnung resultiert und in der Unfähigkeit, das Individuum in allgemein anerkannter Weise zu kontrollieren.
    • Egoistischer Selbstmord
      • Konfessionszugehörigkeit
        Durkheim erläutert den egoistischen Selbstmord, indem er die Statistiken hinsichtlich religiöser Konfessionszugehörigkeit und Familienstand untersucht. Die Aufzeichnungen verschiedener europäischer Länder weisen eine auffallend höhere Selbstmordrate unter den Protestanten als unter den Katholiken auf und die niedrigste Rate unter den Juden.
        Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Die Position einer Mehrheit oder Minderheit schied aus, weil Protestanten auch in einer Minderheitenposition trotzdem weitaus mehr Selbstmorde begehen. Durkheim betrachtete deshalb den Charakter der religiösen Gemeinschaften als soziale Systeme genauer.
      • Bildung
        Ein erster Hinweis auf eine derartige Erklärung ist die Tatsache, dass die Selbstmordrate mit dem Bildungsniveau zunimmt. Das Bildungsniveau der Protestanten war zu Durkheims Zeiten deutlich höher als das der Katholiken.
        In freien Berufen und höheren Einkommensklassen ist der Drang nach Bildung am meisten ausgeprägt, eine individuelle Lebensführung vorwiegend. Durkheim zweifelt nicht daran, dass der Selbstmord in den höchsten Schichten außerordentlich häufig ist.
        Frauen des ausgehenden 19ten Jahrhunderts begehen viel weniger Selbstmord, sie sind auch weniger gebildet. Sie richten sich traditionsgebunden in ihrem Verhalten nach etablierten Grundsätzen und haben keine großen intellektuellen Bedürfnisse.
        Unter allen Religionen hat der Selbstmord beim Judentum das geringste Gewicht. Trotzdem hat die Bildung nirgendwo eine so breite Basis. Der Wissensdrang hat einen ganz besonderen Grund: Bildung ist für Juden ein Mittel der Kompensation in der unglücklichen Lage, in die sie die öffentliche Meinung bringt. Bei ihnen verbinden sich die Vorteile strenger Disziplin, die kleine Gruppen auszeichnet, mit einer profunden Bildung, die das Privileg der großen Gesellschaft von heute ist. (vgl. Durkheim, S. 178-181)
      • Integration und soziale Kontrolle
        Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Protestanten und Katholiken: Der Grad an Integration und sozialer Kontrolle. Die katholische Kirche ist fest integriert, hierarchisch aufgebaut und kontrolliert zentralistisch die Interpretation religiöser Dogmen. Sie verwaltet das religiöse Leben ihrer Mitglieder. Der Protestantismus gibt dem eigenen Denken des einzelnen Gläubigen mehr Raum, dadurch bleiben die Bindungen an die Glaubensgemeinschaft loser als bei den Katholiken. Die protestantische Glaubensgemeinschaft übt eine geringere soziale Kontrolle aus, weil die sozialen Beziehungen seltener und schwächer sind. Sie gibt einem kollektiven Dasein nicht genügend Inhalt. Die Religion schützt den Menschen also nicht vor der Selbstzerstörung, weil sie ihm die Achtung vor seiner eigenen Person predigt, sondern weil sie eine Gemeinschaft ist.
        Es ist der weitaus fortgeschrittenere Individualismus der religiösen Gruppe, die in der protestantischen Glaubensgemeinschaft höhere Selbstmordraten verursacht als in der katholischen. Es ist nicht die höhere Bildung als solche, sondern eine zu geringe Integration in der Gruppe. Dies ist der Grund, warum Durkheim ihn den egoistischen Selbstmord nennt. (Durkheim, S. 184 f)
      • Familienleben
        Ein zweiter Bereich, in dem Durkheim den egoistischen Selbstmord beobachtete, ist das Familienleben. In Gesellschaften, in denen die Familie enge Beziehungen aufweist, ist die Selbstmordrate signifikant geringer. Die Tatsache, dass mit steigender Kinderzahl die Rate sinkt, erklärt Durkheim damit, dass mit der Anzahl der Mitglieder Kollektivgefühle wachsen. Das hängt damit zusammen, dass Kollektiväußerungen häufiger erfolgen und häufiger erwidert werden. Auf diese Weise stärken sich soziale Gemeinschaften und geben dem Einzelnen Halt.
        „Die Familie ist ein mächtiger Schutz gegenüber Selbstmord und wirkt umso nachhaltiger, je fester sie gefügt ist.“ (Durkheim, S. 224)
      • Politische Gesellschaft
        Ein dritter Bereich des egoistischen Selbstmords ist der Bereich der politischen Gesellschaft. Es wird oft angenommen, dass in Kriegszeiten Selbstmorde zunähmen. Das ist aber eben nicht der Fall. Durkheim beobachtete im Gegenteil, dass in Zeiten des politischen Konflikts die Selbstmordrate zurückgeht. Seine Erklärung lautet, dass „gerade solche sozialen Prozesse Kollektivempfindungen wecken, die den Parteigeist ebenso wie den Patriotismus, den politischen Glauben wie den nationalen beleben und, indem alle Kräfte auf ein einziges Ziel konzentriert werden und wenigsten für eine Zeitlang, eine größere Integration des Ganzen zuwege bringen“. (Durkheim, S. 231)
  • Ergebnisse
    Nach seinen empirischen Untersuchungen kommt Durkheim zu folgendem Schluss: „Der Selbstmord steht im umgekehrten Verhältnis zum Integrationsgrad der Kirche, der Familie und des Staats.“ (ebd.)
    „Wenn die innere Verbundenheit einer Gruppe aufhört, dann entfremdet sich in gleichem Maße das Individuum dem Gemeinschaftsleben, und seine Ziele gewinnen Vorrang vor der Gruppe; mit einem Wort, die Einzelpersönlichkeit stellt sich über das Kollektiv. Je weiter die Schwächung in der Gruppe fortschreitet, der er angehört, um so mehr steht es demzufolge bei ihm, ob er noch andere Verhaltensregeln anerkennt als die, die in seinem Privatinteresse liegen. Wenn man also einen Zustand, in dem das individuelle Ich sich mit Erfolg gegenüber dem sozialen Ich und auf Kosten dessen behauptet mit Egoismus bezeichnen will, dann können wir diesem besonderen Typ von Selbstmord, der aus einer übermäßigen Individuation hervorgeht, als egoistisch bezeichnen.“ (Durkheim, S. 232)
    Weder an den Ergebnissen noch an deren Schlussfolgerungen aus Durkheims Studien hat sich bis heute viel verändert. Neue „normative“ Sicherheit und Wertorientierung im Hinblick auf das Denken und Handeln der Menschen in modernen Gesellschaften müssen mit emotionaler Intelligenz verbunden werden. Durkheims Ziel war die Herausbildung einer moralischen Ordnung, in der sich soziale Integration und individuelle Freiheit gegenseitig stabilisieren.

Rezeption und Wirkung

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1898 baute Durkheim seine Schule, die ,,l´équipe durkheimienne“, auf, und gründete gemeinsam mit seinem Neffen Marcel Mauss die Zeitschrift ,,L´Année Sociologique“, die eine Neuerung für die damalige Zeit darstellte, weil sie interdisziplinär ausgerichtet war.

Émile Durkheim scheint noch heute eine – im wahrsten Sinne des Wortes – unheimliche Wirkung zu haben. Bei all seiner intellektuellen Leidenschaft wirkte er auf seine Zeitgenossen kühl und unpersönlich, zurückhaltend und in sich gekehrt. Betrachtet man seine Wirkung gegenüber dem eigenen Wollen, so fällt das Fazit zwiespältig und vielleicht sogar paradox aus. René König zufolge war Durkheim ein Mann, der nichts anderes sein wollte als Soziologe, und hat dennoch seinen größten zu verzeichnenden Einfluss nicht in der eigenen Disziplin, sondern in Nachbarfächern gehabt:

    • Linguistik: Ferdinand de Saussure
    • Geschichtswissenschaft: vor allem die Annales-Schule
    • Psychologie und Moralforschung: Jean Piaget, Lawrence Kohlberg
    • Anthropologie und Ethnologie: Hier zeichnen sich seine größten Erfolge ab:

Sei es nun der Funktionalismus eines Bronislaw Malinowski oder der Strukturfunktionalismus eines Alfred Radcliffe-Browns, die sich als seine Erben titulieren; sei es der Strukturalismus von Marcel Mauss oder Claude Lévi-Strauss, sie alle ließen sich von Durkheim inspirieren; mehr noch viele seine Nachfolger knüpfen direkt an seine Erkenntnisse und Ansätze an.


Wenn auch der Einfluss auf einzelne Soziologen (wie z.B. Talcott Parsons, Robert K. Merton, Erving Goffman,…) und die Soziologie generell nicht zu übersehen ist, ist es dennoch stillschweigend üblich Durkheim nicht zu zitieren. Seine Doktrinen sind zu Selbstverständlichkeiten geworden.

Literatur

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  • Durkheim, Émile (1973):
    "Der Selbstmord, herausgegeben von Heinz Maus, Friedrich Fürstenberg und Frank Benseler; mit einem Vorwort von Klaus Dörner und einem Nachwort von René König"
    Neuwied und Berlin
  • Joas, Hans [Hrsg.] (2001):
    "Lehrbuch der Soziologie, 6. und 7. Auflage"
    Frankfurt am Main
  • Alun, Jones Robert (1986):
    "Emile Durkheim: an introduction to four major works"
    London
  • Kaesler, Dirk (1999):
    "Klassiker der Soziologie. Von Auguste Comte bis Norbert Elias."
    München


Internetquellen

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  • Rüegger, Oliver: Schlüsselideen von Emile Durkheim anhand ausgewählter *Originalzitate.[1]