Soziologische Klassiker/ Merton, Robert K.

Biographie in Daten

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Meyer Robert Schkolnick, nahm dann, aufgrund seiner Tätigkeit als Zauberer in jungen Jahren, das Pseudonym „Robert Merlin“ an und änderte später seinen Namen in Robert King Merton.


  • geboren am 05. Juli 1910 in Philadelphia, Pennsylvania, USA
  • gestorben am 23. Februar 2003 in New York, USA


Eltern: Jüdische Einwanderer aus Osteuropa. Betrieben ein Butter-, Eier- und Käsegeschäft Geschwister: 1 Schwester


Kinder: Stephanie Tombrello; Robert Carhart Merton (*1944), Wirtschaftsnobelpreisträger 1997; Vanessa Merton 1.Ehe: 1934 Suzanne M. Carhart

2.Ehe: 1993 Harriet Zuckerman


Ausbildung:

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1927: Highschool-Abschluss, Stipendium für das Temple College, Philadelphia

1927-1931: Studium der Philosophie und Biologie; Merton lernte Pitirim A. Sorokin kennen, der seine Studienwahl, bzw. den Wechsel zur Soziologie, beeinflusste

1927-1931: B.A. in Soziologie an der Temple University in Philadelphia (Pennsylvania, USA), Stipendium für Harvard

1931-1934: M.A. in Soziologie an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts, USA); Merton war in dieser Zeit Schüler von Sorokin und Parsons

1936: Ph.D. in Soziologie an der Harvard University


Berufliche Daten:

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1934-1936: Tutor

1936-1939: Instructor der Soziologie an der Harvard University (Secretary des Board of Tutors in Sociology)

1939-1940: Associate Professor der Soziologie an der Tulane University in New-Orleans(Louisiana, USA)

1940-1941: Full Professor der Soziologie und Chairman (Fachbereichsvorsitzender) des Department of Sociology an der Tulane University in New-Orleans (Louisiana, USA)

1941-1947: Assistant Professor der Soziologie an der Columbia University in New York (N.Y., USA)

1942-1971: Associate Director des Bureau of Applied Social Research in New York.

1947-1963: Full Professor der Soziologie an der Columbia University

1963-1974: Giddings Professor

1974-1979: University Professor der Soziologie

1979: University Professor e.m.

1979-1984: Special Service Professor


Andere Tätigkeiten:

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1947-?: Advisory Editor für Soziologie beim Verlag Harcourt Brace Jovanovich

1952-1975: Trustee Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Palo Alto, California

1963-1979: Mitglied des Educational Advisory Board der Guggenheim Foundation

1971-1979: Chairman des Educational Advisory Board der Guggenheim Foundation

1964-1968: Trustee der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania

1979-?: Adjunct Faculty Member der Rockefeller University in New York (N.Y., USA); erster Foundation Scholar der Russell Sage Foundation

1983-1988: MacArthur Prize Fellow (als erster Soziologe)

1986-1988: George Sarton Professor of History of Science an der Universität von Gent/ Gand


Wichtige private Ereignisse:

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1994: Verleihung der National Medal of Science (höchste Wissenschaftliche Auszeichnung der USA)


Theoriegeschichtlicher Kontext

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Merton lernte Pitirim Sorokin, den Direktor des neugegründeten Department of Sociology, in Harvard auf einem Treffen an der Temple University kennen.. Nachdem er an der Universität angenommen worden war, arbeitete er zuerst eng mit Sorokin zusammen und half diesem bei Forschungsprojekten. Kurze Zeit später veröffentlichte er, gemeinsam mit seinem Mentor, einen bedeutenden Artikel über die soziale Zeit im American Journal of Sociology. Mertons Anhänglichkeit an Sorokin wurde schwächer, als er einem jungen und noch nicht ganz so bekannten Mitglied der Fakultät begegnete: Talcott Parsons.

Weiters wichtig an der Harvard Universität waren für Merton der Wirtschaftshistoriker E. F. Gay, der große Wissenschaftshistoriker George Sarton und der Biochemiker und Soziologe Joseph L. Henderson. Die Spuren dieser Gelehrten kann man in vielen von Mertons Veröffentlichungen wieder finden, am ehesten jedoch in seiner Dissertation und in anderen früheren Werken.

Fragt man nach der Bedeutung früherer Soziolgen für Merton, so steht das Werk Emile Durkheims ganz oben an. Mertons erster veröffentlichter Aufsatz befasst sich dessen Ausführungen

Auch der Bezug zu Karl Marx ist deutlich und besonders in Mertons früheren Arbeiten sichtbar.

Max Webers Einfluss tritt am deutlichsten in Mertons Dissertation hervor, doch er wird in den späteren Arbeiten wesentlich schwächer.

Georg Simmel war für Mertons Arbeit hauptsächlich in den fünfziger Jahren und danach wichtig.

Zur selben Zeit, als Merton in Harvard studierte, arbeitete Talcott Parsons an jenem Buch, das später einen nachhaltigen Einfluss auf die Theoriebildung nicht nur der amerikanischen, sondern auch der Soziologie der gesamten Welt ausüben sollte. Structure of Social Action. Merton, der eigentlich wegen Sorokin nach Harvard gekommen war und diesem nahe stand, wandte sich nun Parsons zu und wurde zum Mitglied der gerade entstehenden Schule des Funktionalismus. Trotzdem konnte man schon damals die deutlichen Unterschiede der Denkweisen von Parsons und Merton bemerken.

In den folgenden Jahrzehnten war die Karriere Mertons sehr eng mit der Columbia University verbunden. Er arbeitete mit einer Vielzahl von Kollegen in Columbia zusammen, so unter anderem mit Robert Lynd, Kingsley Davis und William J. Goode.

Paul F. Lazarsfeld wurde für sehr viele Jahre - bis zu seinem Tode 1976 - ein enger Mitarbeiter und intellektueller Gefährte Mertons. Auch wenn Merton sehr viel von Parsons gelernt hatte, er eiferte ihm nicht darin nach, allumfassende Großtheorien zu konstruieren. Sein Bestreben war es, „Theorien mittlerer Reichweite“ zu entwickeln, die nicht das ganze Panorama menschlichen Handelns und all seiner Widersprüche erhellen sollten, sondern klar abgegrenzte Aspekte der sozialen Realität. Auf dieser Basis fanden Merton, der problemorientierte Theoretiker, und Lazarsfeld, der problemorientierte Empiriker, zusammen und wurden unzertrennliche Kollegen und Freunde.


1938: Science in Seventeenth Century England

1938: Social Structure and Social Anomie

1949: Social Theory and Social Structure: Toward the Codification of Theory and Research

1957: Paradigm of Functional Analysis in Sociology

1957: Priorities in Scientific Discoveries: A Chapter in the Sociology of Science

1965: On the shoulders of giants: A Shandean Postscript

1968: The Matthew Effect in Science

1973: The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations

1976: Sociological Ambivalence and Other Essays

1979: The Sociology of Science. An Episodic Memoir

1982: Social research and the practicing professions. Edited and with an introduction by Aaron Rosenblatt and Thomas F. Gieryn

1985: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie

1996: On social structure and science. Edited and with an introduction by Piotr Sztompka

2003: The Travels and Adventures of Serendipity: A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science (mit Elinor Barber)


Das Werk in Themen und Thesen

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Strukturfunktionalismus

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Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist die Tatsache, dass die Handlung einer Person in der jeweiligen Sozialstruktur vorgegeben wird, jedoch niemals im vollen Umfang (es sind also gewisse Abweichungen möglich). In totalen Institutionen zum Beispiel, herrschen engere bis keine Handlungsspielräume, es werden also nur sehr wenige Abweichungen geduldet. Merton versucht, verschiedene strukturelle Abwandlungen zu erklären, deren Entscheidungsmuster von motivierten Akteuren bestimmt werden. Es muss also beachtet werden, dass man die diversen Strukturen von einer bestimmten Perspektive betrachtet. Wichtig dabei ist, dass man diesen Hauptbezugspunkt bei der Betrachtung von Mertons Thesen nie außer Acht lässt

Rollentheorie (Role model)

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Handelnde Individuen sind immer in sozialen Strukturen eingegliedert und stehen in Beziehung bzw. Interaktion mit verschiedenen Rollenträgern. Diese soziale Strukturen setzen sich aus einer Vielzahl sozialer Statuspositionen zusammen, die wiederum diverse Rollen-Sets innehaben sowie auch zuschreiben. Rollen-Sets können als Gesamtheit der an eine Position gerichteten Rollenerwartungen definiert werden.

Konflikte zwischen Rollen sind eher der Normalfall als die Ausnahme. Es gibt zum Einen Inter-Rollenflikte, wenn eine Person mindestens zwei Rollen gleichzeitig inne hat, die sich widersprechen, zum Beispiel wenn ein Lehrer sein eigenes Kind unterrichten muss (Rolle des Vaters vs. Rolle des Lehrers). Zum Anderen gibt es den Intra-Rollenkonflikt, wenn eine Rolle aufgrund verschiedener Erwartungen von den Bezugsgruppen in Konflikt gerät. An den Lehrer werden zum Beispiel unterschiedliche Erwartungen vom Direktor, von seinen Schülern und von deren Eltern herangetragen. Der Direktor verlangt, dass der Lehrplan eingehalten wird, die Schüler verlangen, dass er nicht zu streng ist und deren Eltern verlangen, dass ihre Kinder gerecht beurteilt werden und eine gute Ausbildung erhalten.


Bezugsgruppentheorie (Reference Group Theory)

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Rollenerwartungen bestehen nicht nur von den Mitgliedern der Bezugsgruppen (reference groups), denen eine Person zugehörig ist, sondern auch von Bezugsgruppen (Aspirationsgruppen), in denen sich die Person nicht befindet, ihnen aber angehören möchte. (z.B. Immigranten.)


Im Zentrum des Merton’schen Menschenbildes steht der Begriff der "choice", der Wahl. Menschen, die in einer sozialen Struktur unterschiedlich eingebunden sind, erleiden unterschiedliche Schicksale und treffen auf unterschiedliche Wahlmöglichkeiten, die ihre gegenwärtigen und zukünftigen Lebenschancen bestimmen. Daraus entstand die Rational Choice Theory , die Merton gemeinsam mit James Coleman erarbeitet hat.


Self-fulfilling prophecy

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Die Selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die wahr wird, nur weil sie vorhergesagt bzw. erwartet wurde. Die Überlegung basiert auf dem Prinzip, dass man selber auf die Umwelt Einfluss nimmt und sie in die Richtung verändert, die man erwartet. Dadurch wird eine Erwartung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (z.B. Aberglaube). Bei der theoretischen Herleitung dieser Theorie verweist Merton auf das Thomas-Theorem. Es verdeutlicht, dass der Akteur weniger auf die objektive Realität einer spezifischen Situation reagiert, sondern vielmehr aufgrund der individuellen Bedeutung handelt, die er in ihr erkennt.

Es gibt verschiedene Erscheinungsformen der Self-fulfilling prophecy, wie etwa den Pygmalion-Effekt, den Placebo-Effekt, den Hawthorne-Effekt, den Messiah-Effekt, den Mitläufer-Effekt und den Matthäus-Effekt (von Merton analysiert). Der Matthäus-Effekt bedeutet die soziologische Tatsache, dass denjenigen mehr gegeben wird, deren Ruf und soziale Position hoch ist. Er folgt dem Prinzip der positiven Rückkopplung und ist hauptsächlich ein Phänomen, welches häufig bei der Zitierhäufigkeit von wissenschaftlichen Veröffentlichungen beobachtet wird. Mertons Prinzip besagt, dass bekannte wissenschaftliche Autoren häufiger zitiert werden und dadurch noch bekannter werden (success breeds success). Die Bezeichnung dieses Effekts stammt aus dem Gleichnis von den anvertrauten Zentnern an: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“


Manifeste und latente Funktionen

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Genauso wie Handlungen beabsichtigte und unvorhersehbare Folgen haben können, können Strukturen manifeste und latente Funktionen haben. Anstelle nicht erfüllter manifester Funktionen können Handlungen latente Funktionen erfüllen, auch wenn die Akteure die Konsequenzen ihres Tuns in keiner Weise vorhergesehen haben. Merton geht sogar einen Schritt weiter und behauptet, dass gerade die latenten Funktionen und deren Analyse das eigentliche Gebiet der Soziologie ausmachen, da sie die Aufmerksamkeit auf theoretisch ergiebige Forschungsfelder lenken und erst soziologische Aufklärung möglich machen. Wirtschaftlicher Konsum hat beispielsweise die manifeste Funktion der Nützlichkeit, aber auch die latente Funktion, unter anderem der Prestigegewinnung oder -erhaltung.


Funktion vs. Dysfunktion

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Ein Phänomen kann nach Merton sowohl funktional, systemerhaltend, als auch dysfunktional, systemzerstörend/verändernd, sein. Diese Einstufung hängt vom Standpunkt im System ab. Unterschiedliche Gruppen können also Phänomene unterschiedlich funktional oder dysfunktional betrachten.


Anomietheorie

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Merton übernahm Emile Durkheims Begriff der Anomie, gab ihm jedoch eine eher weitreichendere Bedeutung. Die Anomie gilt als Erklärungsversuch für deviantes (abweichendes) Verhalten in verschiedenen Bereichen der Sozialstruktur durch kulturelle und strukturelle Ursachen. Merton betrachtet abweichendes Verhalten und Konformität als Auswirkungen des sozialen Umfelds. Zuerst beschäftigt er sich mit der Analyse der Sozialstruktur, danach untersucht der die Art und Weise, wie sich Personen an normative Anforderungen anpassen und welche Formen ihre Abweichungen annehmen. Er ordnet sie fünf verschiedenen Typen zu: Konformität (Übereinstimmung mit den angepassten kulturellen Mustern), Innovation (Neuerung), Ritualismus (die Ziele werden so weit herabgeschraubt, bis der Einzelne fähig ist, sie in seiner Position auch zu erreichen), Rückzug (Verweigerung der Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen Normen und Zielen) und Rebellion (Widerstand).


Anpassungsformen Kulturelle Ziele Institutionelle Mittel
Konformität + +
Innovation + -
Ritualismus - +
Rückzug - +
Rebellion +/- +/-

Typen der Anpassung (Merton 1938)


Rezeption und Wirkung

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Merton und sein einstiger Lehrer Parsons sind die Urväter funktionalistischer Analyse in der US-amerikanischen Soziologie. Während Parsons dazu ein übermächtiges Theoriesystem aufzustellen versuchte, welches die Gesamtheit sozialer Strukturen und Funktionen einschließen sollte, entwickelte Merton eine Theorie mittlerer Reichweite (middle range theory). Er bezog seine Theorien nicht auf die gesamte Menschheit sondern auf soziale Phänomene, die nur in bestimmten Bereichen auftreten.

Merton versuchte, das soziale Handeln von Individuen nicht deterministisch zu erklären, sondern verwies auch auf die Möglichkeit, dass sie auch von der Norm abweichend handeln können. Dies versuchte er mit einer Vielzahl seiner detaillierten „Theorien mittlerer Reichweite“ zu begründen.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Neunziger Jahre war Mertons Einfluss innerhalb der Soziologie weitreichend.


Literatur

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  • Kaesler, Dirk und Vogt, Ludgera (2000):
    "Hauptwerke der Soziologie"
    Stuttgart
  • Münch, Richard (2004):
    "Soziologische Theorie. Band 3: Gesellschaftstheorie"
    Frankfurt am Main
  • Kaesler, Dirk (1999):
    "Klassiker der Soziologie. Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. 4. Auflage 2003."
    München

Internetquellen

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