Mittelhochdeutsch: Teil 2b


Schwache Verben: Bearbeiten

Die schwachen Verben (swV) zerfallen, sprachgeschichtlich gesehen, in drei Klassen, abhängig von der ursprünglichen, urgerm. Endung: diese lautete in der ersten Klasse für den Infinitiv -jan, in der zweiten -ôn und in der dritten -ên. Im Mhd. wurden durch die allgemeine Endsilbenabschwächung alle Endsilbenvokale zu unbetontem e, in den Endungen gibt es also keine Unterschiede mehr. Trotzdem ist die ursprüngliche Klassenzugehörigkeit für die Verben der 1. Klasse noch wichtig, und zwar aus zwei Gründen, einem semantischen und einem formalen.

Der semantische Grund: die schwachen Verben der 1. Klasse bildeten ursprünglich nicht nur eine formale, sondern auch eine semantisch gut abgrenzbare Gruppe. Sie sind alle von einem anderen Wort abgeleitet; wenn sie von einem starken Verb abgeleitet sind, geben sie den Grund oder die Ursache (lat. causa) an, der den Zustand bewirkt, den jenes ausdrückt; man nennt sie daher Kausativa. Z. B.: führen ist Kausativ zu fahren (wenn ich jemanden führe, bewirke ich, daß er fährt), legen zu liegen (wenn ich etwas lege, bewirke ich, daß es liegt) usw. Analog, wenn sie von einem Substantiv oder Adjektiv abgeleitet sind, bewirken sie dessen Zustandekommen, z. B. zählen zu Zahl (das Zählen bewirkt, daß ich eine Zahl feststelle).

Der formale Grund: diese Klasse ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, formal gesehen, im Urgerm. mit einem -j-hältigen Suffix gebildet wurden, also den Infinitiv auf -jan hatten; im Präteritum, das mit dem Suffix d gebildet wurde, also konsonantisch, erscheint statt des Halbvokals j der Vokal i. Der Wechsel von i und j ist selbstverständlich, denn vor Vokal kann man zwar j sprechen, aber nicht i, und umgekehrt vor einem Konsonanten nur i, nicht j. Das Präteritum ging also auf ­-ida aus. Das j bzw. i bewirkten i-Umlaut der vorhergehenden Silbe, also der Stammsilbe, und zwar das j, das wir im Präsens finden, sowohl in kurzer als auch in langer Stammsilbe, das i, wie es das Präteritum hatte, nur in kurzer Stammsilbe. Dann schwand das j bzw. i. Diese Klasse von Verben zerfällt also in Untergruppen:

  1. solche mit langer Silbe (d.h. mit langem Vokal oder mit Kurzvokal, auf den mehr als ein Konsonant folgt) mit umlautfähigem Vokal. In ihnen hat im Mhd. das Präsens Umlaut, das Präteritum nicht; erst im Nhd. hat man neue Präteritalformen analog zum Präsens gebildet: hœren - hôrte - gehôrt, drücken - druhte - gedruht, füeren - fuorte - gefuort, füllen - fulte - gefult, wenden - wante - gewant u.v.a. Diese Untergruppe ist auch für Leser ohne sprachwissenschaftliches Interesse relevant, weil man Schwierigkeiten hat, sie im Wörterbuch aufzufinden, wenn man eine Präteritalform vorfindet und nicht weiß, unter welchem Infinitiv man nachschlagen soll.
  2. solche mit kurzer Silbe. Diese haben in allen Formen den Umlaut und daher in Präsens und Präteritum den selben Vokal, sie bereiten also keine Schwierigkeiten bei der Suche im Wörterbuch. Dass sie formal in diese Gruppe gehören, ist nur dann wichtig, wenn man sich für die Wortfamile interessiert, z. B. dass zemen - zemte - gezemt ‚zähmen’ zu zam gehört und ‚bewirken, dass etwas zahm wird’ bedeutet.
  3. Verben, die zwar ursprünglich mit dem Suffix -jan bzw. -ida gebildet wurden, deren Stammvokal aber nicht umlautfähig ist, so dass man sie bereits im Mhd. formal nicht mehr von den Verben der 2. oder 3. Klasse unterscheiden kann, z. B. mit dem Stammvokal -ei-, wie in teilen - teilte - geteilt. In der Praxis der Lektüre mhd. Texte spielt es keine Rolle, zu wissen, welcher Klasse sie zugehören. Die großen historischen Grammatiken geben Interessierten Aufschluss darüber.
  4. einzelne Formen, in denen sich die Umlaute anders verteilen als es die im Anfängerunterricht nur teilweise behandelten Umlautbedingungen erwarten lassen oder einzelne Endungen scheinbare Ausnahmen bewirkten. Z. B. heißt es mhd. gebrennet (ahd. gebrennit, das i bewirkte i-Umlaut von a zu e), aber gebranter (ahd. gebrantêr, kein i-Umlaut). Viele Verben sehen wie Kurzwurzelige aus, waren aber langwurzelig, z. B. zeln lautete zur Umlautzeit zellen; daher das Präteritum zalte. Diese Regeln und Ausnahmen im Detail vorzuführen, hat keinen Sinn; es genügt, wenn Sie wissen, dass Sie überlegen müssen, unter welchem Infinitiv sie eine Verbalform im Wörterbuch suchen.
  5. Das semantische Interesse kann nur befriedigt werden, wenn Sie wissen, in welchem Verhältnis der Stammvokal des abgeleiteten Verbs zum Grundwort steht. Wenn die Ableitung von einem Nomen erfolgte, ist es leicht: zeln - zalte - gezalt zu zal: der Stammvokal des Nomens, mit bzw. ohne i-Umlaut. Wenn die Ableitung von einem starken Verb erfolgte, ist der Stammvokal des Kausativs immer der der 1.3. Pers. Sg. Prät., mit bzw. ohne i-Umlaut: setzen - satzte - gesatzt zu sitzen mit dem Stammvokal wie saz, aber im Präsens mit i-Umlaut von a zu e; füeren - fuorte - gefuort zu varn wie fuor. Das Stammsilben-e in setzen entspricht also der Ablautstufe von saz, nicht der von sitzen; das in wenden ‚verursachen, daß sich etwas umdreht (windet)’ der von wand, nicht der von winden usw.
Beispiel: suochen ‚suchen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
suochen suoche suochte suochten gesuocht
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich suoche suohte
dû suochest suohtest suoche
er/si/ez suochet suoche suohte
wir suochen suochten
ir suochet suohtet
si suochent suochen suohten
Beispiel: hœren ‚hören’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
hœren hœre hôrte hôrten gehôrt
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich hœre hôrte
dû hœrest hôrtest hœre
er/si/ez hœret hœre hôrte
wir hœren hôrten
ir hœret hôrtet
si hœrent hœren hôrten
Beispiel: nern ‚retten’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
nern ner nerte nerten genert
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich ner (nere) nerte
dû nerst (nerest) nertest ner (nere)
er/si/ez nert (neret) ner (nere) nerte
wir nern nerten
ir nert (neret) nertet
si nernt (nerent) nern (neren) nerten
Besonderheiten der Endungen einiger swV
Fehlen des Endungs-t: Gelegentlich fehlt in der 2. Sg. das Endungs-t. Diese Erscheinung ist im Konj. häufiger als im Ind. und bei manchen Verben häufiger als bei anderen. Häufige Fälle sind:
Konj. Präs. 2. Sg.: dû habes(t), hœres(t)
Konj. Prät. 2. Sg.: möhtes
Scheinbares Fehlen des -te im Präteritum: Wenn der Wortstamm auf -t endet, wird meist die Lautfolge -tete vermieden; z. B. statt ahtete steht meist ahte (nicht immer: NL Hs. B hat angestete zu angesten ‚ängstigen’); wenn aber die Hs. statt dessen z. B. ahtet hat, habe ich zu ahtete normalisiert, um Verwechslungen mit dem Präsens vorzubeugen.
Starkschwache Mischbildungen: In einigen Fällen wurden zu starken Verben in Analogie zu ähnlich klingenden schwachen auch schwache Präteritalformen gebildet, die von den Autoren wahlweise nebeneinander verwendet werden; insbesondere begunde neben began zu beginnen. Sprachgeschichtlich interessanter sind die Fälle, in denen schon von ‚Anfang’ an Ablaut und Dentalsuffix kombiniert wurden. Das wichtigste Beispiel hiefür ist bringen - brâhte - gebrâht. Es zeigt eine Reihe von Eigenheiten, die man je nach Lernertyp leichter auswendig lernt, wie beim Erstspracherwerb auch, oder sich mit Hilfe einer sprachgeschichtlichen Erklärung leichter merkt (die ich für diesen Lernertyp gebe, ohne sie im Mittelhochdeutschkurs abzuprüfen):
  1. Bei diesen Wörtern trat das Dentalsuffix ohne Bindevokal an den Stamm; dadurch wurde der stammschließende Konsonant stimmlos und erscheint daher in den germ. Sprachen als h. Im Präs. folgt auf ihn ein Vokal, also blieb er stimmhaft: g.
  2. Vor h schwand n und wurde der davor stehende Vokal gedehnt (s. oben unter ‚Ersatzdehnung’). Da das n vor anderen Lauten, also auch g, erhalten blieb, unterscheiden sich bei diesen Verben Präs. und Prät. stark.
Verben deren Vokalwechsel nicht auf Ablaut zurückgeht, die also rein swV sind, die aber vom synchron mhd. Standpunkt ähnliche Vokalwechsel zeigen, reihe ich hier ein: denken - dâhte - gedâht, dünken - dûhte (diuhte) - gedûht, würken - worhte - geworht: diese zeigen, wie bei bringen besprochen, bindevokallose Präterita. fürhten - vorhte - gevorht zählt ebenfalls dazu, hat aber wegen des stammschließenden t auch im Präs. das h.
Da das letztgenannte, fürhten, einen Vokalwechsel hat, der es wie ein stV aussehen läßt, wurden hin und wieder starke Formen gebildet: ein PPP unervorhten ‚nicht furchtsam, mutig’ kommt öfters vor. Auch zu einigen anderen swV wurden gelegentlich starke Formen gebildet, so wie wir oben schwache Formen zu stV erwähnten.

Präterito-Präsentia Bearbeiten

Der Name dieser Gruppe bedeutet: ‚durch das Präteritum werden die Präsensformen ausgedrückt’. Der Form nach entspricht auch nhd. ich weiß, da ohne Endungs-e, eher ich ritt als ich reite. Noch deutlicher ist es im Mhd.: ich weiz - si wizzen entspricht im Stammvokal und im Fehlen des t der Endung der 3. Pl. genau reit - riten, nicht rîte - rîtent. Die Erklärung ist, dass bei einem Übergang von einem Aspektsystem zu einem Tempussystem Verben mit Perfektbedeutung als Präsensformen verstanden werden: mhd. wizzen (mhd. z aus germ. t, germ. t aus idg. d) gehört zum idg. *vid- ‚sehen’ (lat. video). ‚ich weiß’ bedeutet: ‚ich habe gesehen (und deswegen weiß ich)’. Der gramm. Ausdruck ‚Zeit’ trifft das Gemeinte nicht genau: viele Sprachen besitzen Kategorien, für die der Ausdruck ‚Zeit’ ungünstig ist; z. B. das Englische das Present Perfect: I have come kann auch heißen: ‚ich bin jetzt da’. Auch die anderen idg. Sprachen haben Prät.-Präs.: z. B. lat. novi ‚ich weiß’ ist eine Vergangenheitsform der Bedeutung ‚ich habe kennengelernt’.

Wenn die Perfektformen Präsensbedeutung haben und auch grammatisch als Präsentien kategorisiert werden, brauchen diese Verben ein neues Präteritum. Dieses wird in Analogie der swV gebildet, mit einigen bei den betreffenden Verben genannten Besonderheiten. In die 1. AR gehören wizzen und eigen ‚besitzen, haben’. Von eigen ist nur das PPP gebräuchlich, also ‚in jemandes Besitz gekommen sein’, das ebenfalls eigen lautet; es wird meist als Adj. empfunden, nicht als Verbalform.

Beispiel: wizzen ‚wissen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
wizzen weiz wesse / wisse / weste / wiste wessen usw. gewist (gewest)
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich weiz wizze wesse / wisse / weste / wiste
dû weist wizzest wizzest wesses(t) usw. wizze
er/si/ez weiz wizze wesse usw.
wir wizzen wessen usw.
ir wizzet wesset usw.
si wissen wessen usw.

Das Präteritum von wizzen ist dadurch gekennzeichnet, dass sich verschiedene alte und zu anderen Verben analog gebildete neue Formen nebeneinander finden – aber alle mit s, nie mit z, das dem Präsens vorbehalten ist (umgekehrt gilt die Regel nicht ganz: die 2. Sg. Ind. Präs hat ein s). Es gibt zwar bei diesem Wort nur wenige Formen, in denen eine Unterscheidung von Ind. und Konj. möglich ist, aber die Unterscheidung zwischen Präsens und Präteritum ist immer eindeutig.

In die 2. AR gehört nur tugen ‚taugen, zu etwas nützlich sein’ (leeres Feld bedeutet: Form nicht belegt – viele Formen werden mhd. schon von dem neuen swV taugen ‚nützlich sein’ gebildet; außerdem wird es meist unpersönlich verwendet, ‚es ist gut zu ...’, und steht daher meist in der 3. Pers.):

Beispiel: tugen/tügen ‚zu etwas nützlich sein’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
tugen (-ü-) touc tohte tugen (-ü-) tugt
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich touc tuge (-ü-) tohte töhte
er/si/ez touc tuge (-ü-) tohte töhte
wir tugen (-ü-) tohten töhten
si tugen (-ü-) tohten töhten

In die 3. AR gehören vier Verben: gunnen ‚gönnen’ (Kontraktion aus ge-unnen; das ge- hat verstärkende Funktion, das Simplex unnen wird nie gebraucht; das Gegenteil, ‚missgönnen’, wird erbunnen oder verbunnen gebildet), kunnen ‚können’, dürfen, turren ‚wagen, Mut haben, sich getrauen’.

Beispiel: gunnen/günnen ‚gönnen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
gunnen (-ü-) gan gunde gunnen (-ü-) gegunnet (-n)
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich gan gunne (-ü-) gunde (gonde) gunde (-ü-)
dû ganst gunnest (-ü-) gundest (-o-) gundest (-ü-)
er/si/ez gan gunne (-ü-) gunde (-o-) gunde (-ü-)
wir gunnen (-ü-) gunden (-o-) gunden (-ü-)
ir gunnet (-ü-) gundet (-o-) gundet (-ü-)
si gunnen (-ü-) gunden (-o-) gunden (-ü-)
Beispiel: kunnen/künnen ‚können’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
kunnen (-ü-) gan gunde gunnen (-ü-)
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich kan kunne (-ü-) kunde (gonde) kunde (-ü-)
dû kanst kunnest (-ü-) kundest (-o-) kundest (-ü-)
er/si/ez kan kunne (-ü-) kunde (-o-) kunde (-ü-)
wir kunnen (-ü-) kunden (-o-) kunden (-ü-)
ir kunnet (-ü-) kundet (-o-) kundet (-ü-)
si kunnen (-ü-) kunden (-o-) kunden (-ü-)
Beispiel: durfen/dürfen ‚dürfen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
durfen (-ü-) darf dorfte durfen (-ü-) bedorft
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich darf durfe (-ü-) dorfte dorfte (-ö-)
dû darft (darfst) durfest (-ü-) dorfest dorfest (-ö-)
er/si/ez darf durfe (-ü-) dorfte dorfte (-ö-)
wir durfen (-ü-) dorften dorften (-ö-)
ir durfet (-ü-) dorftet dorftet (-ö-)
si durfen (-ü-) dorften dorften (-ö-)
Beispiel: turren/dürren ‚wagen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
turren (-ü-) tar torste turren (-ü-)
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich tar turre (-ü-) torste torste (-ö-)
dû tarst turrest (-ü-) torstest torstest (-ö-)
er/si/ez tar turre (-ü-) torste torste (-ö-)
wir turren (-ü-) torsten torsten (-ö-)
ir turret (-ü-) torstet torstet (-ö-)
si turren (-ü-) torsten torsten (-ö-)

In die 4. AR gehört

Beispiel: suln/soln ‚sollen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
suln (-o-) sol solte solden
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich sol sul(e) (-ü-) solde (-te)  oder mit Umlaut (sölde, sölte usw.)
dû solt sul(e)st (-ü-) soldest (-test)
er/si/ez sol sul(e) solde (-te)
wir sul(e)n (-ü-) solden (-ten)
ir sult (-ü-) soldet (-tet)
si sul(e)n (-ü-) solden (-ten)

suln / sol sind die mhd. Standardformen, in älteren Texten finden sich noch Reste der alten Form ich schal usw. (engl. shall). Der Bedeutung nach verbindet es die bloße Angabe des Zukünftigen wie im Engl. shall mit der Bedeutung ‚sollen’; darüber s. Hilfszeitwörter.

In die 5. AR gehört

Beispiel: mugen/mügen ‚mögen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
mugen (-ü-) mac mahte mahten
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich mac muge (-ü-), mege mahte, mohte  oder mit Umlaut
dû maht, machs mug(e)st (-ü-) mahtest
er/si/ez mac muge (-ü-), mege mehte, möhte
wir mugen (-ü-), magen, megen, mogen mahten
ir muget (-ü-) mahtet
si mugen (-ü-), magen, megen, mogen mahten

In die 6. AR gehört

Beispiel: müezen, muozen ‚müssen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
muozen (-üe-) muoz muoste muosten
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich muoz müeze, muoze muose müeste
dû muost muozes(t) muosest müestest
er/si/ez muoz müeze, muoze muose, muoste müese, müeste
wir müezen, muozen müezen muosen
ir muozet müezet muoset
si müezen, muozen müezen muosen

Im Prät. steht im NL außer muose auch die jüngere Form muoste in der 3. Sg.; in den anderen belegten Personen (1. Sg., 1.3. Pl.) steht jedoch nie -t-.

Sonstige Verben Bearbeiten

sîn Bearbeiten

Eine Sonderstellung in der grammatikalischen Verwendung hat sîn, da es von drei verschiedenen Stämmen gebildet wird. Die Ursache dafür ist, dass jedes dieser drei Verben ursprünglich unterschiedliche Dauer bzw. Zustandsform (Aktionsart) ausdrückte und daher nur in Tempora benutzt werden konnte, die den entsprechenden Aspekt kennzeichneten. Während sich im Nhd. für jede Form eines ganz durchgesetzt hat, sind im Mhd. für einige Formen noch alternative Formen möglich. Z. B. die Infinitive sîn und wesen sind völlig synonym. wesen konjugiert wie ein normales stv. 5. AR: wesen - (Ind. Präs. nicht gebräuchlich; für den Konj. ein Beleg im NL: si wesen ‚sie seien’ B 1050,3). Das Präteritum wird ausschließlich von wesen gebildet.

Beispiel: sîn ‚sein’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
sîn bin was wâren gewesen
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich bin was wære
dû bist sîst wære wærest sî, wis
er/si/ez ist was wære
wir sîn sîn wâren wæren
ir sît (birt) sît wâret wæret
si sint sîn wâren wæren

Sehr oft findet man die Form gesîn, sie ist aber kein PPP, sondern ein Inf.: daz enkunde niht gesîn ‚das konnte nicht sein’ = ‚geschehen’ (‚sein’ in einer perfektiven Aktion, aber kein PPP!); außer in alemannischen Texten. Im Alemannischen heißt gesîn ‚gewesen’, das ist einer der wichtigsten semantischen Unterschiede zum Bairischen.

wellen Bearbeiten

Das Wort für ‚wollen’ zeigt als Indikativ Formen des Optativs (Wunschmodus). Das Präteritum ist das eines normalen swV. Es gibt zahlreiche Nebenformen; ich nenne hier nur die in den zentralen Texten um 1200 benutzten. Das PPP wird im Mhd. üblicherweise nicht benutzt.

Beispiel: wellen ‚wollen’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
wellen will wolde (-t-) wolden
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich wil welle wolde, wolt(e)
dû wilt wellest woldest
er/si/ez wil welle wolde, wolt(e)
wir wellen wolden
ir wellet woldet
si wellent wellen wolden

tuon Bearbeiten

Dieses Wort ist im Dt. sowohl das einzige Verb, bei dem die Reduplikation noch erhalten ist, als auch eines der wenigen Verben, die ursprünglich ohne Bindevokal zwischen Stamm und Endung gebildet wurden und in der 1. Sg. die Endung idg. -mi, durch die Endsilbenaschwächung reduziert zu mhd. -n, trugen.

Beispiel: tuon ‚tun’
Infinitiv 1.Sg.Präs.Ind. 1.Sg.Prät.Ind. 1.Pl.Prät.Ind. PPP
tuon tuon tet(e) tâten, teten getân
Präs. Ind. Präs. Konj. Prät. Ind. Prät. Konj. Imperat.
ich tuon, tuo tuo tet(e) tæte, tete
dû tuos(t) tuost tæte tætest tuo
er/si/ez tuot tuo tet(e) tæte
wir tuon tuon tâten, tæten, teten tæten
ir tuot tuot tâtet tætet
si tuont tuon tâten tæten

Kontrahierte Verben Bearbeiten

Fallweise lange, fallweise kontrahierte Formen zeigen lân neben lâzen ‚lassen’ und hân neben haben; letztgenanntes hat in der Bedeutung ‚halten’ meist die langen Formen, in der Verwendung als Hilfsverb oft die kontrahierten.

Beispiel: lâzen, lân ‚lassen’ (PPP lân)
Person Ind. nicht-kontrahiert Ind. kontrahiert Konj. nicht-kontrahiert Konj. kontrahiert
Imperativ
2. Sg. lâz
2. Pl. lâzet lât
Präsens
1. Sg. lâze lân lâze
2. Sg. lâzest lâst lâzest lâst
3. Sg. lâzet lât lâze
1. Pl. lâzen lân lâzen lân
2. Pl. lâzet lât lâzet lât
3. Pl. lâzent lânt lâzen lân
Präteritum
1. Sg. liez lie lieze
2. Sg. lieze liezest
3. Sg. liez lie lieze
1. Pl. liezen liezen
2. Pl. liezet liezet
3. Pl. liezen liezen
Beispiel: haben, hân ‚haben’ (PPP gehâbet)
Person Ind. nicht-kontrahiert Ind. kontrahiert Konj. nicht-kontrahiert Konj. kontrahiert
Imperativ
2. Sg. habe
2. Pl. habet
Präsens
1. Sg. habe hân hâbe (hâ)
2. Sg. habest hâst hâbest (hâst)
3. Sg. habet hât hâbe (hâ)
1. Pl. haben hân hâben (hân)
2. Pl. habet hât hâbet (hât)
3. Pl. habent hânt hâben (hân)
Präteritum
1. Sg. hete (im NL), in anderen Dialekten u. a. ich hæte, ich hâte, ich hête hæte (im NL), in anderen Dialekten u. a. hete
2. Sg. hetest (im NL) hætest (im NL)
3. Sg. hete (im NL) hæte (im NL)
1. Pl. heten (im NL) hæten (im NL)
2. Pl. hetet (im NL) hætet (im NL)
3. Pl. heten (im NL) hæten (im NL)

Das PPP gehabet ist selten und wird von den meisten Autoren gemieden.

Hilfszeitwörter für Vergangenheit und Zukunft Bearbeiten

Die Umschreibung der Vergangenheit mit haben ist im Mhd. noch relativ selten; man verwendete meist das einfache Präteritum. Für die Zukunft dient, ähnlich wie im Englischen, suln und wellen, aber mit klarer Unterscheidung zwischen etwas, das man gerne und freiwillig tun wird (= wil) und etwas, das man aus Höflichkeit, Verpflichtung oder Zwang heraus tun wird (= sol - die nicht mehr aktuelle, aber früher propagierte Verwendung im Englischen I shall - you will ist grammatikalisierte Höflichkeit). In einer Übersetzung ist es eine Frage der Stilistik, ob man den (meist vorherrschenden) Aspekt des Futurs wählt und in jedem Fall mit ‚werden’ übersetzt, oder das (meist zu starke) ‚sollen’ oder ‚wollen’ wählt. Das gehört zu den ganz feinen stilistischen Nuancen, die die Übersetzung nie nachbilden kann, und die daher prinzipiell gegen den Konsum von Übersetzungen von Dichtung sprechen, deren Originalsprache man lernen könnte. ‚Werden’ ist im Mhd. noch nicht als Hilfszeitwort für die Zukunft gebräuchlich; nur für das Passiv.