Mittelhochdeutsch: Metrik und Reim

Das NL ist in Strophen zu je vier Langzeilen verfaßt, welche jeweils in zwei Halbzeilen gegliedert sind; den Einschnitt zwischen den Halbzeilen nennt man Zäsur. Die erste Halbzeile jeder Langzeile nennt man Anvers, die zweite Abvers. In abgekürzten Stellenangaben bezeichnet man den Anvers mit a, den Abvers mit b; ‚B 2376,4b’ bezeichnet also den Abvers der 4. Zeile der 2376. Strophe der Hs. B – den Schluß des Werkes. Die Strophengrenzen werden auch beim Vorlesen hörbar, weil der Abvers der letzten Zeile jeder Strophe um einen Takt länger ist, nämlich vier Takte, wäh-rend die ersten drei Abverse nur je drei Takte haben.

Damit sind wir bei der rhythmischen Gliederung: sie wird, wie in deutschen Texten allgemein, durch den Wechsel von betonten Silben (Hebung) und unbetonten (Senkung) erreicht, nicht wie in z. B. lateinischen Versen durch Wechsel von Länge und Kürze. Allerdings spielen in der mhd. Metrik auch Länge bzw. Kürze von Silben eine Rolle. Die sich bei dieser Gliederung ergebenden Einheiten nennt man, wie in der Musik, Takte; die Taktstriche setzt man bei schriftlicher Aufzeichnung wie beim Schreiben von Musiknoten vor der betonten Silbe. Dementsprechend nennt man alle vor dem ersten Taktstrich einer Halbzeile stehenden Silben Auftakt. Während im Inneren der Halbzeile der Wechsel von betonten und unbetonten Silben wenig geregelt ist, sind am Ende nur wenige, in der Verwendung nur mit beschränkten Ausnahmen festgelegte rhythmische Figuren möglich. Dabei ist wichtig, dass wir nicht nur betonte und unbetonte Silben unterscheiden, sondern unter den Hebungen solche mit voller Betonung (Hauptton) und solche, die zwar als Hebung zu werten sind, aber deutlich schwächer betont sind als die vorhergehende haupttonige Silbe; man spricht von Nebenton. Nebentonige Silben sind immer noch viel stärker zu betonen als unbetonte.

Die in der Metrik üblichen Zeichen sind:

Taktgrenze (Einheit: Zweivierteltakt)
Zäsur
normal lange Silbe (‚Viertelnote‘)
taktfüllende Silbe (‚halbe Note’)
 Zwei Silben auf einen Taktteil zu sprechen (‚Achtelnoten’)
´ Hauptton
` Nebenton
. Auftaktsilbe
^ Pausezeichen

Zwei Elemente sind für das metrisch richtige Lesen entscheidend: die Länge und die Betonung der Silben.

Was die Länge betrifft, so gehen wir davon aus, dass ein Takt normalerweise von zwei etwa gleich langen Silben gefüllt wird, also in zwei Hälften zerfällt; in der Musik würde man von Zweivierteltakt sprechen. Statt dieser zwei ‚Viertel-noten’ kann eine, dafür doppelt so lang auszuhaltende, Silbe stehen; in der Mu-sik wäre das eine ‚halbe Note’, die einen Zweivierteltakt zur Gänze ausfüllt. Es besteht auch die Möglichkeit, mehr als zwei Silben in einem Takt unterzubringen; in der Terminologie der Musik ausgedrückt, zwei Achtelnoten statt einer Viertelnote in einer Takthälfte. Diese müssen dann ganz kurz gesprochen wer-den; das funktioniert nur, wenn Sie Kurzvokale wirklich kurz und Langvokale wirklich lang sprechen.

Die Relation zwischen sprachlich langen und kurzen Silben einerseits und den Achtel- Viertel- und halben Noten der Metrik anderseits ist folgende: Eine kurze Silbe kann eine Viertelnote füllen, oder zu einer Achtelnote verkürzt werden, aber nicht zu einer halben Note gedehnt werden; eine lange Silbe kann eine Viertelnote füllen, oder zu einer halben Note gedehnt werden, aber nicht zu einer Achtelnote verkürzt werden. Einfach ist zu erkennen, dass eine Silbe lang ist, wenn sie einen Langvokal oder Diphthong enthält; z. B. rî- (in rîten), lie- (in liebe), und dass sie kurz ist, wenn sie einen Kurzvokal enthält und danach keinen zur selben Silbe gehörigen Konsonanten mehr, z. B. ri- (in riten). Wenn mehr als ein Konsonant folgt, ist die Entscheidung nicht so offensichtlich: "brin-gen" hat zwar ein kurzes i, aber durch das noch zur Silbe gehörige n ist die Silbe lang. Die genauen Regeln dafür bringe ich hier nicht, denn wer über den ersten Anfang im Mhd. hinaus ist, hat eine große Auswahl an immer noch kurzen und übersichtlichen, auch für Selbststudium geeigneten Metriken bzw. Metrik-Kapiteln in altgermanistischen Einführungen. Für das Allererste genügt das hier Gesagte. Sobald Ihnen Dinge auffallen wie dass ich unten "sturben" anders rhythmisieren muß als hier angegeben, sind Sie schon über das Einführungsstadium hinaus.

Rhythmisch unterscheidet sich der Anvers vom Abvers vor allem durch die Kadenz (Kadenz = Versschluß ab dem letzten Hauptton). Im Abvers trägt die letzte Silbe normalerweise einen Hauptton (sogenannte männliche Kadenz); im Anvers einen Nebenton (klingende Kadenz). Die theoretisch dritte Möglichkeit, ein unbetonter Taktteil am Zeilen- oder Halbzeilenschluß (weibliche Kadenz), findet sich im NL nicht und wird erst in der nhd. Dichtung häufig. Im vorletzten Takt des Anverses steht in der Regel nur eine einzige Silbe (die die Betonung trägt und gedehnt zu sprechen ist, so dass sie einen ganzen Takt füllt: beschwerte Hebung. In der ersten Zeile: gon-); die (ebenfalls einzige) Silbe des letzten Taktes muß ebenfalls die Hebung tragen, aber nur mit einem Nebenton; im Beispiel: -den. Der letzte Hauptton liegt daher im vorletzten Takt, was man als klingende Kadenz bezeichnet. Hier handelt es sich um eine zweisilbig klingende Kadenz. Der letzte Takt des Abverses enthält meist ebenfalls nur eine Silbe, diese trägt aber meist eine Haupthebung: männliche Kadenz.

Die metrische Transskription der ersten und der vierten Zeile der 1. Strophe sieht folgendermaßen aus:

Ez wuohs in Bur-gon-den ein vil e-del ma-ge-dîn,
. │  ´  │  ││ ` ║ . . │´ │´ │´
dar um-be muo-sen de-ge-ne vil ver-lie-sen den lîp.
. │ ´ │ ´  │´ │` ║ ´  ││ ` │ ´

Wenn ein Wort mehrsilbig ist, setzt man meist nur die erste betonte Silbe darin haupttonig an, weitere mit Nebenton. Wir hätten dann oben ma-ge-dîn so anschreiben müssen: │´ │ ` . Tatsächlich kommt es auch in der klingenden Anverskadenz vor:

und saget ez iuwern magedîn, die ir dâ füeren welt (B 1264,3).

Ein großer Unterschied kann also zwischen ´ │ ´ und ´ │ ` nicht bestanden haben; einzelne Metriker notieren hier unterschiedlich – für Sie ist das unwichtig.

Im Versinneren sind die einzelnen Takte meist durch zwei Silben gefüllt, die erste betont, die zweite unbetont; dadurch entsteht ein mehr oder minder regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung; musikalisch gesprochen ein Zweivierteltakt. Vor der ersten Hebung können eine oder auch zwei unbetonte Silben als Auftakt stehen. Es können aber auch in jedem Takt der Zeile, nicht nur in der Zäsur, einzelne Silben einen ganzen Takt füllen (beschwerte Hebung) oder es können drei, sogar vier Silben auf einen Takt zu sprechen sein (je nachdem, ob auf die Note der Hebung oder die der Senkung zwei Silben zu singen sind, spricht man dann von Hebungsspaltung oder Senkungsspaltung).

Es bieten sich also mehrere Variationsmöglichkeiten:

a) fehlender oder längerer Auftakt vor jeder Halbzeile:

(.(.)) │

b) beschwerte Hebungen: Ersatz von zweisilbigen Takten

│´  │

durch einsilbige

││

eventuell auch in mehr als einem Takt derselben Halbzeile. Extrem senkungsarme Folgen entstehen dadurch fast nur in der Handschrift A; z. B. A 2214,4a

dô sluoc Wolf-har-ten
. │  │  │  │ ` 

entspricht B 2274,4a (Ba 2277)

dô sluoc er Wolf-har-ten
. │ ´ │  │  │ ` 

c) Hebungsspaltung, manchmal auch Senkungsspaltung. Da naturgemäß beim Vortrag die Hebung etwas länger ausgehalten wird als die Senkung, ergibt sich rhythmisch eine geringere Störung, wenn man auf der Hebungsnote zwei Silben rezitiert, als auf der Senkungsnote. Also notiert man einen Vers wie

si stur-ben sît jæ-mer-lî-che (B 4,4a = Ba 6)
.│´    │´ │ │`
und nicht etwa
.│´    │´ ││ `

Auch in den Kadenzen kann Hebungsspaltung vorkommen, und zwar in den männlichen, im Prinzip einsilbigen Kadenzen der Abverse, in denen dann zwei sehr kurz zu sprechende Silben stehen – statt einer ‚Viertelnote‘ zwei ‚Achtel‘:

von den man hât ge-saget (B 6,3b = Ba 8)
. │ ´ │ ´ │´ 

In den Anversen dagegen finden sich dreisilbig klingende Kadenzen, in denen zwei ‚Viertel‘ statt einer ‚Halben’ stehen:

dar um-be muo-sen de-ge-ne
. │ ´ │ ´   │´ │ `

Die Takte sind sehr unregelmäßig mit Silben gefüllt; das lî- von jæmerlîche füllt allein genauso einen Zweivierteltakt wie die beiden Wörter sturben sît zusam-men!

Die Hs. B ist, wie vermutlich das Original, nicht regelmäßig im Rhythmus, sondern füllt bei wichtigen neu auftretenden Namen gerne einen ganzen Takt mit einer einzigen Silbe (z. B. in der ersten Strophe füllt Burgonden mit jeder Silbe einen ganzen Takt); dann wieder fordert sie ein schnelleres Vortragstempo, indem sie einen Takt mit mehreren Silben füllt. Die Hs. C (und die von der selben Redaktion *C abhängigen) gleichen aus und erzeugen einen regelmäßigeren Wechsel von Hebung und Senkung. Am unregelmäßigsten ist A, was in einigen Fällen einen noch älteren Zustand zeigt als B, doch ist leider kaum festzustellen wo, da A so schlampig geschrieben ist, dass ein Großteil der Unregelmäßigkeiten wohl nicht Altüberliefertes spiegelt sondern die Unachtsamkeit des Schreibers.

B 2,1 lesen Sie am besten so:

Ir pflâgen drîe künege edel unde rîch
. │ ´ │ ´ │´ │` ║´ │´ │´

im Text steht es aber so:

Ir pflâgen drîe künege edel und rîch
. │ ´ │ ´ │´ │` ║´ ││ ´

Unregelmäßigkeiten dieser Art gehen kaum je auf den Dichter zurück, sondern die Schreiber setzten beliebig schwachtonige e ein, wo sie nicht hingehören und ließen sie weg, wo sie hingehören würden, wie hier in und(e). Daher hat der Herausgeber das Recht, sie ebenfalls nach Gutdünken einzusetzen. Wenn ich das in allen Fällen getan hätte, würde mein Text eine metrische Glätte vorspiegeln, die das Original sicher nicht hatte und die sicher nicht dem Stilwillen das Dichters entsprach. Ich mache es daher nur in Fällen, in denen Sie ohne Hilfe vermutlich nicht das Richtige finden würden; z. B. wenn Sie sagt als sagete lesen müssen; da habe ich ergänzend eingegriffen.

Ein Beispiel für ein vom Schreiber gesetztes e, das ich belassen habe, das Sie aber nicht lesen dürfen:

ir enkunde in dirre werlde

müssen Sie lesen, als stünde dort:

ir enkund in dirre werlde
. .│ ´ │´ │  │`

Wenn zwei Vokale an Wortende und -anfang zusammentreffen und dadurch würde eine Hebungs- oder Senkungsspaltung resultieren, wird im Normalfall der erste der beiden Vokale ausgelassen (Elision). Hierin waren die Schreiber sehr unachtsam; die Schreibung oder Auslassung der unbetonten e entspricht meist weder ihren jeweiligen Vorlagen noch den Erfordernissen des Rhythmus. In we-nigen Fällen wird nicht der Endvokal elidiert, sondern die beiden Wörter so verschliffen, dass der Anfangsvokal ausfällt: diust für diu ist. Diese besonderen Fälle sind meist schon von den Schreibern richtig angegeben, und wo nicht, hilft der Herausgeber. Einfache Elision zu erkennen, wo man sie aus metrischen Gründen durchführen muß, kann man hingegen auch Anfängern zutrauen. Da war es mir wichtiger, den Text grammatikalisch durchschaubar zu gestalten: wenn ich zu enkund geändert hätte, wären manche vielleicht verwirrt, weil die Verbalendung fehlt. Da habe ich das e der Handschrift belassen und vertraue darauf, dass Sie beim Lesen selbst die rhythmisch richtige Lösung finden. LACHMANN glaubte, durch das Druckbild in erster Linie zum rhythmisch richtigen Lesen verhelfen zu sollen und druckte daher Vokale, die man bei schnellem Sprechen halb oder ganz verschluckt, in seinen Ausgaben mhd. Texte gar nicht an, auch wo sie die Hss. haben, ohne Rücksicht darauf, dass dadurch viele Wörter unverständlich werden, weil er annahm, seine Leser könnten so gut Mhd., dass sie erkennen würden, dass swennerrschôz für swenne er erschôz steht – dieses Extrembeispiel findet sich nicht im NL, sondern im Parzival – läsen aber rhythmisch so unbeholfen, dass sie ansonsten alle diese e mit vollem Ton artikulierten. Ich gehe dagegen davon aus, dass Sie mir dankbarer sind, wenn ich den Text für die Augen akzeptabel (wenn auch absichtlich nicht militärisch gerade) gestalte, Sie aber beim Lautlesen Ihren Weg von und zu verschluckten e selbst finden.

Durch den Reim ist die Strophe in zwei Verspaare gegliedert: je zwei Langzeilen sind durch Paarreim aneinander gebunden:

Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn,
daz in allen landen niht schœners möhte sîn.

In der Fassung C finden sich dazu auch mehrere Strophen mit Zäsurreim (eini-ge wenige Zäsurreime finden sich auch in B); d. h. die Anverse aufeinanderfol-gender Zeilen reimen ebenfalls miteinander:

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit

Die Reime sind meist rein, es finden sich aber auch unreine Reime, sowohl was den Reim von Länge mit Kürze betrifft (z. B. man : getân), als auch im Konsonantismus – einerseits Konsonantengleichheit schon vor dem letzten betonten Vokal (z. B. Eckewart – bewart B 7,3/4), anderseits ungleicher Konsonant am Schluß (z. B. vrum – sun B 122,3/4).