Zahlengerade – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

Im vorherigen Abschnitt zu den reellen Zahlen habe ich dir erklärt, dass wir im Folgenden die reellen Zahlen axiomatisch einführen wollen. Um die gewählten Axiome auch nachvollziehen zu können, ist es sehr hilfreich, eine intuitive Idee der reellen Zahlen zu haben. Damit wir auch dieselbe intuitive Idee besitzen, möchte ich an dieser Stelle die Vorstellung der reellen Zahlen als Punkte auf einer Zahlengeraden kurz wiederholen.

Reelle Zahlen als Punkte auf der Zahlengeraden Bearbeiten

Zunächst starten wir mit einer Geraden:

 
unbeschriftete Zahlengerade

Auf dieser Geraden legen wir zwei Punkte für die Zahlen „0“ und „1“ fest, wobei die Eins rechts neben der Null liegen soll:

 
Zahlengerade mit eingezeichneten Zahlen 0 und 1

Sobald wir diese zwei Zahlen 0 und 1 auf der Zahlengeraden eingezeichnet haben, ergeben sich automatisch auch die Positionen aller anderen Zahlen. Die negativen reellen Zahlen werden dabei links und die positiven reellen Zahlen rechts von der Null eingezeichnet. Der Abstand von jeder einzelnen Zahl zur Null soll gleich dem Betrag dieser Zahl sein. Der Abstand der bereits eingetragenen Zahlen 0 und 1 ist dabei die Einheitslänge, womit wir alle weiteren Abstände auf der Zahlengeraden bestimmen können. Am Ende haben wir folgendes Bild:

 
Zahlengerade mit eingezeichneten Zahlen von -3 bis +3

Ordnung der reellen Zahlen Bearbeiten

Durch die Identifizierung der reellen Zahlen mit Punkten auf der Zahlengeraden ergibt sich auf natürliche Art und Weise auch eine Ordnung. Für zwei reelle Zahlen   und   definiert man   bzw.  , wenn   rechts von   auf der Zahlengeraden liegt:

 
Zahlengerade mit eingezeichneten Punkten x kleiner gleich y

Anhand dieser Vorstellung der Ordnung reeller Zahlen sind viele Eigenschaften der Ordnungsrelation direkt nachvollziehbar. So kann man sich klar machen, dass wenn   und   ist, automatisch auch   ist. Wenn also   links von   liegt und   selbst wieder links von   liegt, dann liegt auch   links von  .

Rechnen auf der Zahlengeraden Bearbeiten

Um unsere intuitive Idee der Zahlengeraden zu vervollständigen, müssen wir noch klären, wie man mit reellen Zahlen auf der Zahlengeraden rechnen kann. Wir müssen also definieren, wie man Zahlen auf der Zahlengeraden addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert.

Die Addition Bearbeiten

Die Addition reeller Zahlen als Vektoraddition Bearbeiten

Um Zahlen auf der Zahlengeraden zu addieren, identifiziert man jede einzelne Zahl mit einem Vektor, der in der Null beginnt und bei der jeweiligen Zahl endet. Ein Vektor ist dabei nichts anderes als ein Pfeil, also eine gerichtete Strecke, mit klar definiertem Anfangs- und Endpunkt. Für das Beispiel der Zahlen -2 und 3 sehen die entsprechenden Vektoren so aus:

 
Zahlengerade mit den Zahlen -2 und 3 eingezeichnet als Vektoren

Um nun 3 plus -2 zu rechnen, nimmt man den Anfangspunkt des Vektors -2 (welcher vorher bei 0 lag) und legt ihn auf den Endpunkt des Vektors 3. Der so verschobene Endpunkt des Vektors -2 zeigt dann auf das Ergebnis der Addition  , also 1:

 
Addition von -2 und 3 auf der Zahlengeraden

Analog erhält man 3 als die Summe von 1 und 2:

 
Addition von 1 und 2 auf der Zahlengeraden
 
Zuordnung zwischen Vektoren und Punkten auf der Zahlengeraden

Beachte, dass wir dabei das Modell der reellen Zahlen gewechselt haben: Die einzelnen Vektoren, die wir als Zwischenschritt benutzt haben, sind nämlich keine Punkte auf der Zahlengeraden mehr, sondern Pfeile, die in der Null beginnen und irgendwo auf der Zahlengeraden enden (also ganz andere Objekte). Da es aber zu jedem Punkt auf der Zahlengeraden genau einen Vektor gibt, der von der 0 zu diesem Punkt verläuft, und weil jeder Vektor eindeutig durch seinen Endpunkt beschrieben wird, gibt es eine 1-zu-1-Zurordnung zwischen Punkten auf der Zahlengeraden und ihren jeweiligen Vektoren. Somit können wir jederzeit zwischen den beiden Modellen hin- und herwechseln. Das zweite Modell entspricht im Übrigen der Vorstellung der reellen Zahlen als eindimensionaler Vektorraum, den du vielleicht schon aus der linearen Algebra kennst.

Die Addition reeller Zahlen als Translation Bearbeiten

In der obigen Methode haben wir beide Summanden als Vektoren aufgefasst. Es ist jedoch auch möglich, sich weiterhin einen Summanden als Punkt auf der Zahlengeraden vorzustellen und nur einen Summanden als Vektor aufzufassen. Hierzu nimmt man für die Summe   den Vektor   und trägt diesen beginnend beim Punkt   auf der Zahlengeraden ab. Der Endpunkt von   zeigt dann auf das Ergebnis von  :

 
Addition a+x als Translation von x um den Vektor a

Hier entspricht die Addition einer Verschiebung des Punktes   auf der Zahlengeraden um den Vektor   und ist damit eine Translation. Translation ist dabei der mathematische Begriff für eine (Parallell-)Verschiebung.

Die Subtraktion Bearbeiten

Die Subtraktion funktioniert wie die Addition, nur dass man die Richtung des Vektors ändern muss, den wir subtrahieren wollen. Wenn wir beispielsweise   rechnen wollen, so kehren wir die Richtung des Vektors 2 um und erhalten so den Vektor -2. Am Ende wird dann   mit der obigen Methode berechnet. Diese Art und Weise der Subtraktion werden wir später auch bei der axiomatischen Einführung der reellen Zahlen nutzen.

Die Multiplikation Bearbeiten

 
Dem Produkt   entspricht der Fläche eines Rechtecks mit den Seitenlängen   und  
 
Die Multiplikation entspricht der Skalierung einer Zahl mit einem Skalierungsfaktor. Hier wird die Zahl   um den Faktor   gestreckt, wobei das Endergebnis gleich   ist.

Um zu klären, was die Multiplikation ist, könnten wir definieren, dass   gleich dem Flächeninhalt eines Rechtecks mit den Seitenlängen   und   ist. Diese Vorgehensweise hat jedoch folgende Nachteile:

  • Für uns sind Zahlen Punkte auf der Zahlengeraden. Jedoch ist ein Flächeninhalt kein solcher Punkt und wir müssten zunächst klären, wie wir einem Flächeninhalt eines Rechtecks einen Punkt auf der Zahlengeraden zuordnen. Anders als bei den Vektoren im Abschnitt zur Addition ist dies nicht trivial.
  • Da   auch negativ sein kann, müssten wir zusätzlich noch definieren, welche Flächen als negativ anzusehen sind. Hier stellt sich im Gegensatz zur Zahlengeraden die Frage: „Was ist eine negative Fläche?“, was wiederum nicht aus dem Stegreif zu beantworten ist. Für Punkte auf der Zahlengeraden gibt es demgegenüber eine einfache geometrische Bedeutung der Negativität: Ein Punkt ist genau dann negativ, wenn er links von der Null liegt.

Deswegen folgen wir dem Vorschlag von René Descartes, der 1637 in seinem Werk „Géométrie“ die Multiplikation zum ersten Mal so einführte, dass das Ergebnis eines Produktes wieder eine Strecke ist[1]. Hierzu will ich eine etwas abgewandelte Methode benutzen, und zwar folgende Vorstellung einer Multiplikation durch eine Streckung:

Stell dir vor, wir wollen das Produkt   berechnen. Hierzu zeichnest du zunächst zwei parallele Zahlengeraden. Auf der einen Zahlengeraden zeichnest du den Faktor 2 und auf der anderen den Faktor   ein. Die beiden Zahlengeraden verbindest du durch eine vertikale Gerade, welche durch die Null geht:

 
Ausgangslage zur Berechnung des Produkts 2·1½ auf der Zahlengeraden

Nun zeichnest du eine Gerade ein, welche durch den eingezeichneten Punkt 2 auf der einen Zahlengeraden und dem Punkt 1 auf der anderen Zahlengeraden geht:

 
Berechnung von 2·1½ auf der Zahlengeraden (Schritt 1)

Die so eingezeichnete Gerade schneidet irgendwo die vertikale Gerade. Diesen Punkt verbindet man mit dem zweiten Faktor   zu einer zweiten Hilfsgeraden. Der Punkt, in dem diese Hilfsgerade die andere Zahlengerade schneidet, entspricht dem Ergebnis des Produkts  . In diesem Beispiel ist das Ergebnis 3:

 
Berechnung von 2·1½ auf der Zahlengeraden (Schritt 2)

Das Ganze funktioniert genauso, wenn einer oder beide Faktoren negativ sind:

 
Berechnung von -½·2 auf der Zahlengeraden

Eine Besonderheit gibt es aber: Wenn der erste Faktor 1 ist, ist nämlich die erste Hilfsgerade parallel zur vertikalen Geraden durch die Nullpunkte und schneidet dementsprechend diese Gerade nie. In diesem Fall muss auch die zweite Hilfsgerade parallel zur vertikalen Geraden eingezeichnet werden. Der zweite Faktor ändert sich dann durch die Multiplikation nicht:

 
Multiplikation mit 1 auf der Zahlengeraden: Der zweite Faktor wird nicht geändert

Obige Methode entspricht tatsächlich der Vorstellung der Multiplikation durch eine Streckung. Wenn man nämlich die 1 auf   streckt, dann entspricht   der Streckung von   um denselben Streckungsfaktor. Dass am Ende die obige Methode auch das richtige Ergebnis liefert, lässt sich durch den Strahlensatz nachvollziehen.

Die Division Bearbeiten

Die Division kann ähnlich zur Multiplikation durchgeführt werden. Anders als bei der Multiplikation werden hier beide Zahlen, also sowohl Dividend als auch Divisor, auf derselben Zahlengeraden eingetragen. Für das Beispiel   sieht die Zahlengeraden so aus:

 
Ausgangslage der Berechnung von 3:2 auf der Zahlengeraden

Nun verbindet man den Divisor, hier also 2, mit der Zahl 1 der anderen Zahlengeraden zu einer Hilfsgeraden:

 
Berechnung von 3:2 auf der Zahlengeraden (Schritt 1)

Die eben eingezeichnete Hilfsgerade schneidet die vertikale Gerade in einem Punkt, welchen man mit dem Dividenden, hier 3, zu einer zweiten Hilfsgeraden verbindet:

 
Berechnung von 3:2 auf der Zahlengeraden (Schritt 2)

Der Schnittpunkt der zweiten Hilfsgeraden mit der zweiten Zahlengeraden ist dann das Ergebnis der Division. Wir erhalten so das Ergebnis  . Auch diese Methode lässt sich mit dem Strahlensatz nachvollziehen.

Dem Quotienten   entspricht also die Strecke, die man erhält, wenn man   um denselben Streckungsfaktor streckt, der notwendig ist, um   auf   zu strecken. Hier sieht man auch, dass eine Division mit 0 nicht möglich ist, weil man 0 nicht auf 1 strecken kann (jede Streckung von 0 bleibt nämlich 0).

Vollständigkeit der Zahlengeraden Bearbeiten

Die Zahlengerade ist vollständig in dem Sinn, dass sie keine Lücken enthält. So muss es auf der Zahlengeraden einen Punkt für   geben, weil man   durch folgende Konstruktion finden kann:

 
Konstruktion von Wurzel 2 auf der Zahlengeraden

Diese Eigenschaft der Zahlengeraden ist noch recht schwammig. Wie lässt sich beispielsweise mathematisch definieren, was „Lücken“ sind und dass sie nicht auf der Zahlengeraden existieren? Da wir in diesem Kapitel aber nur eine intuitive Idee der reellen Zahlen entwickeln wollen, ist es kein Problem, wenn wir hierzu intuitiv verständliche Eigenschaften heranziehen. Später im Abschnitt zur Vollständigkeit reeller Zahlen werden wir klären, wie man diese intuitive Idee der Lückenfreiheit in die strikte Sprache der Mathematik übersetzt.