Inhaltsverzeichnis

Hinweis: Einige der hier genannten Formen sind (zufälligerweise) nicht belegt, sondern wurden durch Vergleiche rekonstruiert.


Die gotische Sprache kennt folgende verbale Kategorien:

2 Tempora: Präsens und Präteritum.
2 Genera verbi: Aktiv und Passiv.
3 Modi: Indikativ, Optativ, Imperativ
3 Numeri: Singular, Dual1, Plural
3 Personen: 1., 2., 3. Person
3 Verbalnomina: Infinitiv, Partizip Präsens, Partizip Perfekt

1 Der Dual ist der Numerus für zwei Personen. Er ist in der dritten Person nicht vertreten. In der Wulfilabibel wurde der Dual neuhinzugefügt, da es diesen in der altgriechischen Sprache nicht gab. In einigen Fällen wurde jedoch wider Erwartens der Plural verwendet. Zu beachten ist, dass einige Formen (z. B. 1. P. Opt. Prät.) nicht oder nur schlecht belegt sind.

Stammklassen und Stammformen

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Jacob Grimm teilte die Verben in zwei Verbklassen auf: die starken und die schwachen Verben. Diese Einteilung richtet sich nach der Bildung des Präteritums. Eine Sonderform bilden die sog. Präteritopräsentia. Daneben gibt es noch einige unregelmäßige Verben, die sich jedoch i. d. R. ebenfalls einer Klasse zuordnen lassen.

Starke Verben

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Die starken Verben bilden mit Abstand die größte Verbklasse. Sie enden auf das Suffix -an und kennzeichnen sich durch das Ablautsystem bzw. der Reduplikation. Man unterscheidet 7 starke Verbklassen.

(Anmerkung: Die konjugierten Formen im Präteritum stehen stets in der dritten Person. Für den Dual wird der Pluralstamm verwendet.)

Klasse Infinitiv Präteritum Singular Präteritum Plural Partizip Perfekt
I beitan ("beißen") bait bitun1 bitans1
II biugan ("beugen") baug bugun1 bugans1
III siggwan ("singen")1 saggw suggwun1 suggwans1
IV brikan ("brechen")1 brak brekun brukans1
V giban ("geben")1 gaf gebun gibans1
VI faran ("fahren") for forun farans
VII (o. Abl.) haldan2 ("halten") haihald haihaldun haldans
VII (m. Abl.) tekan3 ("berühren") taitok taitokun tekans3

1 Anstelle von -i- bzw. -u- erscheint -aí- bzw. -aú-, wenn ihm ein r, h oder ƕ folgt, z. B. leiƕiþ "er leiht" - laiƕ - laíƕun - laíƕans (sog. Brechung).
2 In dieser Klasse sind die Wurzelvokale a, e, o, ai und au belegt.
3 Endet der Wortstamm ohne Konsonant, wird das <e> als <aí> geschrieben, z. B. saían "sähen" - saíso - saísoun.

Hinweis: Der VII. Klasse gehören Verben mit unterschiedlichen Stammvokalen an, die nur die Reduplikation (Wiederholung), mitunter mit Lautveränderungen, des Stammes im Präteritum gemeinsam haben. Zur Deklination der Partizipien siehe das Kapitel über die Adjektive!

Schwache Verben

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Die sog. Schwachen Verben sind meist abgeleitete Verben. Nur einige Wenige sind älterer Herkunft, z. B. haban "haben". Es gibt vier schwache Verbalklassen, die sich in erster Linie durch ihr Ableitungssuffix unterscheiden: -jan, -on, -an und -nan.

Die Verben der ersten Klasse sind meist   Kausativbildungen, die ggf. mit dem 2. Ablautvokal gebildet wurden. Bsp.: hails "heil" wird zu hailjan "heil machen = heilen"; dails "Teil" wird zu dailjan "Teile machen = teilen"; nisan "genesen" wird zu nasjan "genesen machen = retten". Die zweite Verbklasse besteht hauptsächlich aus Substantivableitungen, Bsp. fisks "Fisch" - fiskon "fischen". Mehrere Verben haben auch die Endung -inon, z. B. reikinon "herrschen" (von reiks "Herrscher"); skalkinon "dienen" (von skalks "Diener"). Die Verben der dritten Klasse sind gewöhnlich intransitiv. Hierbei treten auch eigentlich starke (transitive) Verben mit (intransitivem) Bedeutungswandel auf, Bsp.: hahan (st, VII) "hängen" und hahan (sw, III) "hangen". Die Verben der vierten Klasse haben i. d. R.   inchoative Bedeutungen. Sie sind allesamt intransitiv und meist von Adjektiven oder Verben abgeleitet. Von daher wird in diesem Paradigma eigentlich kein Partizip Präteritum gebildet. Sind sie von einem Verb abgeleitet, werden sie mit dem dritten Ablautvokal gebildet. Bsp.: usbruknan (zu brikan) "ins brechen kommen = abbrechen"; fullnan (zu fulls) "voll werden". Die erste und vierte Klasse bilden häufig gegensätzliche Paare: ga-blindjan "blenden, blind machen" - af-blindnan "erblinden, blind werden"; ga-hailjan "heilen" - ga-hailnan "geheilt werden".

(Anmerkung: Die konjugierten Formen im Präteritum stehen stets in der dritten Person.)

Klasse Infinitiv Präteritum Singular Präteritum Plural Partizip Perfekt
I kukjan ("küssen") kukida kukidedun kukiþs
II frijon ("lieben") frijoda frijodedun frijoþs
III haban ("haben") habaida habaidedun habaiþs
IV dumbnan ("verstummen") dumbnoda dumbnodedun dumbnoþs

Präteritopräsentia

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Das Präsens der sog. Präteritopräsentia ist die ehemalige Präteritumform. Daher erscheinen im Präsens die typischen Präteritumkennzeichen (wie z. B. Themavokal /u/ oder der 2./3. Ablautvokal). Das eigentliche Präsens ist verloren gegangen. Im Gotischen finden sich 13 solcher Verben, sowie deren Ableitungen. Sie lassen sich in 6 Ablautklassen einteilen, sind aber im Einzelnen häufig unregelmäßig.

(Anmerkung: Die konjugierten Formen im Präteritum stehen stets in der dritten Person.)

Klasse Infinitiv Präsens Singular Präsens Plural Präteritum Pl. Partizip Perfekt
I witan ("wissen") wait witun wissedun witans
I aihan ("haben") aih aigun aihtedun aihts
I *laisan ("verstehen") lais unbelegt unbelegt unbelegt
II *dugan ("taugen") daug unbelegt unbelegt unbelegt
III kunnan ("kennen, wissen") kann kunnun kunþedun kunþs
III *þaurban ("bedürfen") þarf þaurbun þaurftedun þaurfts
III gadaursan ("wagen") gadars gadaursun gadaurstedun *gadaursans
IV *skulan ("sollen") skal skulun skuldedun skulds
IV munan ("meinen") man munun mundedun munds
V *magan ("können") mag magun mahtedun mahts
V *ganahan ("genügen") ganah unbelegt unbelegt *ganauhts
VI *gamotan ("Raum finden") gamot *gamotun gamostedun *gamots
VI *ogan ("fürchten") og *ogun ohtedun ohts

Konjugation

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Indikativ (aktiv)

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Der Indikativ (Wirklichkeitsform) kennt Präsens und Präteritum. Die Endungen sind ähnlich und unterscheiden sich meist nur durch den Vokal (Ggw. a/i; Vgh. u). Der Ursprung dieses Wechsels liegt im indogermanischen   Themavokal.

Starke Verben

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bairan (IV) Präsens Präteritum
1. Person Singular bair-a bar
2. Person bair-is bar-t
3. Person bair-iþ bar
1. Person Dual bair-os ber-u
2. Person bair-ats ber-uts
1. Person Plural bair-am ber-um
2. Person bair-iþ ber-uþ
3. Person bair-and ber-un

Ablaut

Die starken Verben (Klasse I-VI, VIIb) bilden die Vergangenheit mithilfe eines Ablauts (ähnlich dem Deutschen trinken (1. Ablautvokal)- trank (2. Abl.) - getrunken (3. Abl.)). Im Gotischen gibt es vier Ablautvokale. Der erste wird in allen Präsens-Formen, der zweite im Präteritum Singular, der dritte im Präteritum Dual/Plural und der vierte im Partizip Perfekt verwendet. Zu den Ablautreihen siehe obige Tabelle.

Reduplikation

Die Klasse VII verwendet im Präteritum die sog. Reduplikation. Hierbei wird dem Stamm eine -aí--Vorsilbe hinzugefügt. Der erste Laut oder die ersten beiden Laute (bei st, sk, sp) des Wortstamms wird/werden redupliziert, d. h. wiederholt bzw. verdoppelt, und wiederum vor dem Vokal -aí- gesetzt. In Formeln ausgedrückt bedeutet dies (K = Konsonant; V = Vokal):

Aus K1VK2- wird K1aíK1VK2-
Bsp.: Aus háit- wird hháit-

Beginnt der Stamm mit einem Vokal, so wird nur ein Aí- davorgesetzt. Beginnt das Verb mit einer Vorsilbe, z. B. ga-haitan "verheißen", wird die Vorsilbe vor die Reduplikationssilbe gesetzt, z. B. gahaíháit "er verhieß". Das Partizip Präteritum verwendet keine Reduplikation.

Insgesamt sind nur 15 + 7 Verben (red. + red.-abl.) überliefert, die im Gotischen nachweislich reduplizieren. Alle anderen wurden durch Sprachvergleich der VII. Klasse zugeordnet.

Unregelmäßigkeiten in der 2. P. S.

Das Fehlen eines Zwischenvokals in der 2. P. S. "bart" führt zu folgenden Unregelmäßigkeiten:

-bt wird zu -ft: giban - þu gaft "du gabst"
-dt wird zu -st: trudan - þu trast "du tratst"
-þt wird zu -st: finþan - þu fanst "du fandst"
-tt wird zu -st: beitan - þu baist "du bisst"
-Vt wird zu -Vst: saian - þu saisost "du sähste" (?)1

1"saisost" ist die einzige belegte Form dieses Typs (V = Vokal)

Die Kombinationen "-pt" und "-kt" sind ohne Belege. Für "-gt" ist nur das unveränderte "magt" belegt.

Schwache Verben

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nasjan (I) Präsens Präteritum
1. Person Singular nasj-a nasi-da
2. Person nasj-is1 nasi-des
3. Person nasj-iþ1 nasi-da
1. Person Dual nasj-os nasi-dedu
2. Person nasj-ats nasi-deduts
1. Person Plural nasj-am nasi-dedum
2. Person nasj-iþ1 nasi-deduþ
3. Person nasj-and nasi-dedun

1 Hier trifft die ji-ei-Regel zu.

Die Vergangenheit wird durch Anhängung der Silbe -da bzw. -ded-, das sog. Dentalsuffix, gebildet. Zwischen Wortstamm und Suffix wird ein stammabhängiger Vokal (-i-, -o-, -ai-, -o-) eingefügt, vgl. obige Tabelle. Die ai-Verben ersetzen indes nur das -i- durch ein -ai-, während -a- unverändert bleibt, z. B. haba "ich habe".

Diese Verbklasse hat sich erst im Germanischen gebildet. Über die Entstehung des Dentalsuffix gibt es unterschiedliche Theorien, wovon keine allgemein anerkannt ist. Laut der sog. Auxiliarisierungsthese[1] wurde dem Verb das Hilfsverb tun nachgestellt (germ. *dedeþ "er/sie/es tat"), um das Präteritum zu bilden (z. B. "er sagen tat").

Präteritopräsentia

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skulan (IV) Präsens Präteritum1
1. Person Singular skal skul-da
2. Person skal-t skul-des
3. Person skal skul-da
1. Person Dual skul-u skul-dedu
2. Person skul-uts skul-deduts
1. Person Plural skul-um skul-dedum
2. Person skul-uþ1 skul-deduþ
3. Person skul-un skul-dedun

1 Nach stimmlosen Konsonanten wird aus dem -da bzw. -ded- ein -ta bzw. -ted-.

Durch die bereits erwähnte Entstehung dieser Klasse ist sie zu einer Mischform aus starken und schwachen Verben geworden. Das Präsens wird auf gleiche Weise wie das Präteritum der starken Verben gebildet (Ablautreihen siehe obige Tabelle). Die Vergangenheit bilden sie jedoch wie die schwachen Verben mit einem Dentalsuffix. Allerdings fehlt hier der Zwischenvokal. Dies führt dazu, dass das Dentalsuffix nach stimmlosen Konsonanten stimmlos anlautet (-tedun statt -dedun; z. B. mah-tedun). Ebenso werden dadurch die Regeln des st-Wechsels aktiv, wie wir sie von der 2.P.S.Prät. der starken Verben her kennen:

-bd- wird zu -ft-: þaurban - þaurftedun "sie bedurften"
-td- wird zu -st-: gamotan - gamostedun "sie fanden Raum"
die andere Wechsel sind nicht belegt

Zu beachten ist auch ein häufiger Wechsel von /g/ und /h/, z. B. in aihan oder ogan. Möglicherweise ist dies auch nur eine unterschiedliche orthografische Schreibung desselben Lautes oder Allophons.

Optativ (aktiv)

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Beim sog. Optativ (Wunschform) handelt es sich eigentlich um einen Konjunktiv (Möglichkeitsform), der vereinzelt auch optative Funktionen übernimmt. Er entwickelte sich aus dem indogermanischen Optativ, während der ursprüngliche Konjunktiv im Germanischen verloren gegangen ist.

Starke Verben

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bairan (IV) Präsens Präteritum
1. Person Singular bair-au ber-jau
2. Person bair-ais ber-eis
3. Person bair-ai ber-i
1. Person Dual bair-aiwa ber-eiwa
2. Person bair-aits ber-eits
1. Person Plural bair-aima ber-eima
2. Person bair-aiþ ber-eiþ
3. Person bair-aina ber-eina

Die starken Verben verwenden den 3. Ablautvokal, um den Optativ in die Vergangenheit zu setzen.

Schwache Verben

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nasjan (I) Präsens1 Präteritum
1. Person Singular nasj-au nasi-dedjau
2. Person nasj-ais nasi-dedeis
3. Person nasj-ai nasi-dedi
1. Person Dual nasj-aiwa nasi-dedeiwa
2. Person nasj-aits nasi-dedeits
1. Person Plural nasj-aima nasi-dedeima
2. Person nasj-aiþ nasi-dedeiþ
3. Person nasj-aina nasi-dedeina

1 Die 2. Klasse ersetzt -au und -ai- durch -o-, z. B. salbo, salbos, salbo, salbowa, ...

Wie beim Indikativ bilden die schwachen Verben die Vergangenheit mithilfe eines Dentalsuffix. Ihm geht ebenfalls ein klassenbedingter Zwischenvokal voraus (I: -i-; II: -o-; III: -ai-; IV: -o-).

Präteritopräsentia

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skulan (IV) Präsens Präteritum
1. Person Singular skul-jau skul-dedjau
2. Person skul-eis skul-dedeis
3. Person skul-i skul-dedi
1. Person Dual skul-eiwa skul-dedeiwa
2. Person skul-eits skul-dedeits
1. Person Plural skul-eima skul-dedeima
2. Person skul-eiþ skul-dedeiþ
3. Person skul-eina skul-dedeina

Die Präteritopräsentia bilden das Opt. Präsens nach dem Muster des Opt. Präteritum der starken Verben, während das Opt. Prät. dem Muster der schwachen Verben folgt. Durch das Verschieben der Tempora wurde der dritte Ablautvokal zum Stammvokal, wodurch die Präteritopräsentia im Optativ keiner Ablaute mehr bedürfen. Man beachte, dass diese Verben die Unregelmäßigkeiten des Indikativ Präteritum im Optativ Präteritum übernahmen (z. B. wissa "ich wusste"; wissedjau "ich wüsste").

wisan Präsens Präteritum
1. Person Singular sijau wesjau
2. Person sijais weseis
3. Person sijai wesi
1. Person Dual sijaiwa weseiwa
2. Person sijaits weseits
1. Person Plural sijaima weseima
2. Person sijaiþ weseiþ
3. Person sijaina weseina

Imperativ

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Der Imperativ (Befehlsform) ist nur in 6 Personen (im Präsens) belegt, von denen sich nur 3 vom Indikativ unterscheiden. Zu beachten ist die Auslautverhärtung in der 2. P. S.

Eine besondere Rolle spielt die 3. Person. Sie ist nicht häufig belegt. Im Singular ist sie nur 2 mal überliefert (Mt. 27, 42; Mk. 15, 32), der Plural wurde rekonstruiert. Meist wird statt des Imperativs (z. B. qimadau "er soll kommen") der Optativ (qimai i. S. v. "er möge kommen") verwendet.

Starke Verben

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bairan (IV) Singular Dual Plural
1. Person - - bair-am
2. Person bair bair-ats bair-iþ
3. Person bair-adau - bair-andau

Schwache Verben

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nasjan (I) Singular Dual Plural
1. Person - - nasj-am
2. Person nasei1 nasj-ats nasj-iþ2
3. Person nasj-adau - nasj-andau

1 Hier scheiden sich die Verbalklassen, siehe Tabelle unten
2 hier gilt die ei-ij-Regeln in der 1. Klasse

Klasse 2. P. S. Beispiel
I -ei (statt -j) merjei
II - salb
III -ai habai
IV - fulln

Die 2. Klasse ersetzt auch hier den Vokal /a/ durch ein /o/, z. B. salbots. Ebenso wechseln in der 3. Klasse <ai> und <a> wie im Indikativ. Der Imperativ der 2. S. der 4. Klasse ist nur durch die Form abdumbn "verstumme" belegt.

Präteritopräsentia

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Einziger Beleg ist ogs "fürchte dich" zu "ogan" (Luk 1, 13). Dabei handelt es sich um den einzigen Rest des indogermanischen Konjunktivs, der im Germanischen durch den ursprünglichen Optativ verdrängt wurde.

Das gotische Passiv (aufgrund der Sprachgeschichte auch Medium oder Mediapassiv genannt) verwendet eigene Flexionen, während die deutsche Sprache ein Hilfsverb benötigt (werden), z. B. ik slahada "ich werde geschlagen". Sie beschränken sich jedoch auf das Präsens (Ind./Opt.), da die Präteritumendungen verloren gegangen sind. Für den Dual sind jedoch keine Formen belegt.

Die Vergangenheit wird mithilfe der Hilfsverben wisan oder wairþan + Partizip Perfekt gebildet, Bsp. daupjada "er wird getauft", daupiþs was oder daupiþs warþ "er wurde getauft". Die Wahl zwischen wisan und wairþan hängt primär von der Aktionsart des Verbs ab. Eine Passivform in der griechischen Vorlage wird im Gotischen allerdings auch oft mit einem nan-Verb oder einem intransitiven Verb gebildet, wodurch mitunter wisan/wairþan umgangen werden kann (z. B. ei usfullnodedi þata gamelido "damit erfüllt würde, was gesagt ist" Mt 8,17).

Starke Verben

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Indikativ (Präsens)

slahan (VI) Singular Plural
1. Person slah-ada slah-anda
2. Person slah-aza slah-anda
3. Person slah-ada slah-anda

Optativ (Präsens)

slahan (VI) Singular Plural
1. Person slah-aidau slah-aindau
2. Person slah-aizau slah-aindau
3. Person slah-aidau slah-aindau

Schwache Verben

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Die schwachen Verben konjugieren wie die starken Verben. Eine Ausnahme bildet die 2. Klasse (on-Verben), aufgrund ihres Suffixvokals.

Indikativ (Präsens)

salbon (II) Singular Plural
1. Person salb-oda salb-onda
2. Person salb-oza salb-onda
3. Person salb-oda salb-onda

Optativ (Präsens)

salbon (II) Singular Plural
1. Person salb-oidau salb-oindau
2. Person salb-oizau salb-oindau
3. Person salb-oidau salb-oindau

Für die Zukunft wird gewöhnlich, wie in der deutschen Umgangssprache, das Präsens verwendet ("Morgen reise ich ab" statt "Morgen werde ich abreisen"). In einigen Fällen, bes. wenn sich aus dem Kontext nicht ergibt, dass es sich um eine zukünftige Aktion handelt, umschreibt man das Futur auch mit Hilfsverben. Als solche Futurhilfsverben sind skulan ("sollen"), haban ("haben") und duginnan ("beginnen, anfangen") belegt.

Verbalnomina

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Infinitiv

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Der Infinitiv (Grundform; dt. Bsp. leben) setzt sich in allen Verbklassen wie folgt zusammen:

 
Bsp. haban "haben"

Eine Ausnahme bildet die II. Schwache Verbklasse, die anstatt der Endung -an die Endung -on verwendet, z. B. frij-on "lieben".

Partizip Präsens

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Das Partizip Präsens (Mittelwort der Gegenwart; dt. Bsp. lebend) setzt sich ähnlich dem Infinitiv zusammen (zur Deklination siehe Adjektive):

Wortstamm + -and- + Deklination
Bsp. gaggands "gehend"

Es kongruiert mit dem Bezugswort in Numerus, Genus und in der Person.

Gebrauch

Partizip Präteritum

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Das Partizip Präteritum bzw. Partizip Perfekt (Mittelwort der Vergangenheit; dt. Bsp. gelebt) wird je nach Verbalklasse unterschiedlich gebildet (zur Deklination siehe Adjektive):

Starke Verben
Wortstamm mit 4. Ablautvokal + -an- + Deklination
Bsp. qumans "gekommen"
Schwache Verben
Wortstamm + klassenbedingter Vokal1 + -þ-/-d- + Deklination
Bsp. nasiþs "gerettet"
1 I: -i- [statt -j-]; II: -o-; III: -ai-; IV: -o-
Präteritopräsentia
Wortstamm der Vergangenheit + -d-/-t-1 + Deklination
Bsp. mahts "gekonnt"
1Der Plosivlaut (d/t) wird analog zur Stimmhaftigkeit des vorangegangenen Lauts gewählt.

Nicht alle Verben bilden sinnvolle Partizipien der Vergangenheit. Dies hängt v. a. mit dem Gebrauch des Mittelworts zusammen, der sich vom Deutschen unterscheidet. Insbesondere intransitive Verben mit einer andauernden Bedeutung (z. B. leben, sein) haben im Gotischen daher kein Partizip Perfekt, im Deutschen dagegen schon (z. B. gelebt, gewesen)

Unregelmäßige Verben

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siehe: Konjugation der unregelmäßigen Verben

Aktionsart

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Unter Aktionsart versteht man die unterschiedliche Verlaufsweise und Begrenzung des bezeichneten Geschehens, die ein Verb ausdrücken kann. So drücken die deutschen Verben "schlafen" und "sitzen" einen andauernden Zustand aus, während "einschlafen" und "sich setzen" den Übergang in den jeweiligen genannten Zustand beschreiben.

Durative Aktionsart

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Unter durativ oder imperfektiv versteht man eine Aktionsart, die einen andauernden Zustand oder eine andauernde Handlung ausdrückt. Die Mehrheit der nicht-komponierten gotischen Verben sind durativ, z. B. slepan "schlafen".

Perfektive Aktionsart

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Drückt ein Verb die Vollendung einer Handlung bzw. eines Zustands aus, so spricht man von einem perfektiven Verb (z. B. briggan "bringen"). Die Mehrzahl der gotischen perfektiven Verben sind zusammengesetzt. Zur Perfektivierung eines imperfektiven Verbs kann im Gotischen die Vorsilbe ga- angefügt werden, z. B. saíƕan "sehen" und gasaíƕan "erblicken"; slepan "schlafen" und gaslepan "entschlafen", þahan "schweigen" und gaþahan "verstummen". Hierbei unterscheidet man zwischen effektiver (Abschluss der Handlung) und ingressiver (Anfang der Handlung) Aktionsart:

Beispiel 1 (Perfektiv - Imperfektiv)
[...] iþ þaim anþaraim in gajukom, ei saihvandans ni gasaihvaina, jah gahausjandans ni fraþjaina.
"[Euch ist es gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Reiches Gottes,] den andern aber ist's gegeben in Gleichnissen, dass die Sehenden doch nicht sehen und die Hörenden nicht verstehen."
(Lk 8,10)

Das Verb saihvan "sehen", von dem saihvandans "die Sehenden" abgeleitet ist, meint den Zustand des Sehens; gasaihvan "sehen, erblicken" bezeichnet hingegen einen Abschluss der Aktion, was so zu verstehen ist, dass die Sehenden das Gesehene nun verstanden und wahrgenommen haben: sie haben es "erblickt". Die Wiedergabe der perfektiven Aktionsart ist im Deutschen nicht immer möglich. Das Verb gafraihnan zu fraihnan "fragen" meint, dass etwas durch Fragen in Erfahrung gebracht wird (z. B. swikunþs warþ þaim mik ni gafraihnandam "ich offenbarte mich denen, die nicht nach mir fragten." Rom 10,20) und hebt den Übergang vom "Fragenden" zum "Wissenden" stärker hervor als das einfache Verb. Man könnte es daher mit "erfragen" übersetzen, doch eignet sich dieses Verb nicht immer als Übersetzung.

Etymologisch ist die Vorsilbe ga- mit lateinisch cum "mit" verwandt. Diese ursprüngliche Bedeutung tritt noch bei Verben mit perfektiver Grundbedeutung hervor, wie niman "nehmen" oder qiman "kommen", die kein perfektives ga- benötigen: ganiman "mitnehmen", gaqiman "zusammenkommen".

Einzelnachweise

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  1. D. Nübling und andere "Historische Sprachwissenschaft des Deutschen", 2006, S. 225f.