Gotisch/ Band1/ Partizipialsatz

Das Gotische gebraucht das Partizip Präsens deutlich öfter als das heutige Deutsch. Das Partizip ist dabei sehr häufig der Kern eines sog. Partizipialsatzes (korrekter wäre Partizipialphrase) oder Partizipialkonstruktion. Im Präsens drückt das Partizip eine Gleichzeitigkeit mit dem Prädikat aus (sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart), in der Vergangenheit eine Vorzeitigkeit mit dem Prädikat. Das Partizip kongruiert dabei mit dem Bezugswort. Fehlt ein Bezugswort, liegt ein sog. freier Partizipialsatz vor.

Verbundener Partizipialsatz

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Bei einem verbundenen Partizipialsatz (lat. Participium coniunctum) besteht eine Beziehung zu einem Bezugswort, mit dem das Partizip kongruiert. Ein Beispielsatz wäre folgender:

Beispielsatz:
þiudans þeins qimiþ sitands ana fulin asilaus. (Joh 12,15)
wörtlich: König - dein - kommt - sitzend - auf - (einem) Fohlen - (eines) Esels
"Dein König kommt auf einem Eselsfohlen sitzend."

Diese durchaus legitime Übersetzung klingt nicht nur holprig, sie kann bei komplexen Sätzen zu schwerwiegenden Übersetzungsfehlern führen. Dabei sollten Sie bei einer Übersetzung wiefolgt vorgehen:

Als erstes müssen Sie das Partizip identifizieren. Beachten Sie, dass das Partizip nicht als Prädikat (hier kursiv gekennzeichnet) fungieren kann.
þiudans þeins qimiþ sitands ana fulin asilaus.
Nun müssen Sie das Bezugswort des Partizips ausfindig machen. Es muss mit dem Mittelwort kongruieren (hier fett gekennzeichnet).
þiudans þeins qimiþ sitands ana fulin asilaus.
Nun muss man den "Partizip-Bezirk" bestimmen (hier rot gekennzeichnet), d. h. man muss entscheiden, welche Wörter zur Partizipkonstruktion gehören und welche zum Prädikat-Bezirk (hier blau). Diese Bezirke müssen nicht immer so klar getrennt sein, wie in diesem Beispiel. (Anm.: Man sagt, dass bei dieser Verwendung das Partizip selbst zu beiden Bezirken gehört, also als Bindewort fungiert.)
þiudans þeins qimiþ sitands ana fulin asilaus.
Nun gibt es unterschiedliche Übersetzungsmöglichkeiten für das Partizip. In der Regel wird das Partizip als finites Verb übersetzt. Der Übersetzer muss sich hier für die geeigneteste Übersetzung entscheiden. Eine oft bereits ausreichende Möglichkeit ist den Partizipbezirk als Relativsatz zu übersetzen. Das hinzugefügte Relativpronomen ist gelb gekennzeichnet.
"Dein König, der auf einem Eselsfohlen sitzt, kommt."
Eine zweite Übersetzungsvariante ist die, den Partizipbezirk als einen zweiten Hauptsatz zu betrachten und beide Sätze mit einem "und" zu verbinden:
"Dein König kommt und sitzt auf einem Eselsfohlen."
Beide Varianten haben den Vorteil, dass man das Bezugswort nicht als Pronomen wiederholen muss (hier kursiv gekennzeichnet). Dies ist dann nötig, wenn man die Partizipkonstruktion als Nebensatz auflöst. In einigen Fällen ist meist nur diese Variante möglich, z. B. bei Kausal- (weil) oder Konzessivsätzen (obwohl). In unserem Fall ist sowohl eine Übersetzung als Temporal- (während) als auch als Modalsatz (indem) möglich.
"Dein König kommt, während er auf einem Eselsfohlen sitzt."
"Dein König kommt, indem er auf einem Eselsfohlen sitzt."

Ein Partizip der Vergangenheit drückt eine Vorzeitigkeit aus und daher auch nicht mit "während" übersetzt werden kann. Man beachte auch, dass das Paritzip der Vergangenheit eines transitives Verb eine passive Bedeutung besitzt:

[...] bi Werekan papan jah Batwin [...] aikklesjons fullaizos ana Gutþiudai gabrannidai.
"um den Priester Werekan und Batwin, die in vollen Kirchen im Gotenland verbrannt wurden"
"um den Priester Werekan und Batwin, nachdem sie in vollen Kirchen im Gotenland verbrannt wurden"
"um den Priester Werekan und Batwin, weil sie in vollen Kirchen im Gotenland verbrannt wurden"

Hingegen besitzt das Partizip drugkans (1. Kor 11,21) zum transitiven Verb drigkan "trinken" eine aktive Bedeutung und ist mit "betrunken" zu übersetzen. Ein Partizip der Vergangenheit besitzen die intransitiven Verben standan "stehen" und wisan "sein" nicht, da sie eine durative Bedeutung besitzen.

Freier Partizipialsatz

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Eine zweite mögliche Verwendung des Partizips ist die sog. absolute Verwendung. Steht das Partizip (und das Bezugswort) im Dativ (möglicherweise auch in anderen Kasus), so kann die Partizipkonstruktion den Umstand beschreiben, wie das Folgende eintrat. Ob es neben dem freien Dativ auch einen freien Akkusativ, Nominativ und Genitiv gab, bleibt umstritten.

Freier Dativ

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Die Lateinkundigen dürften die freien Partizipial-Konstruktionen unter der Bezeichnung Ablativ absolutus kennen. Da sich der indogermanische Ablativ im Germanischen im Dativ aufgelöst hat, findet sich im Gotischen am häufigsten der sog. freie Dativ'. Im Griechischen entspricht er dem Genitiv absolutus (der griechische Genitiv hat dort die Funktionen des Ablativs übernommen). Diesen gibt er i. d. R. auch in der Bibelübersetzung wieder. Der freie Dativ ist auch im Nordgermanischen bezeugt, doch dürfte das quantitative Ausmaß durch die Vorlage künstlich erhöht worden sein.

Beispielsatz:
þata þan imma qiþandin warþ milhma jah ufarskadwida ins. (Luk 9,34)
wörtlich: "Dies dann [von] ihm sagend, wurde eine Wolke und überschattete sie."

Sie merken hier schnell, dass eine wörtliche Übersetzung nicht möglich ist. Mit einer wörtlichen Übersetzung ist in diesem Fall nicht einmal der Sinn des Satzes verständlich.

Wie in der ersten Partizipkonstruktion müssen Sie hier das Partizip, das Bezugswort, den Partizip- und den Prädikatbezirk identifizieren. Im Gegensatz dazu allerdings befinden sich Partizip und Bezugswort im Partizipbezirk und beide stehen im Dativ (!). Das Bezugswort (hier kursiv gekennzeichnet) ist eigenständig und nicht Subjekt (hier ebenfalls Kursiv) des Hauptsatzes. Die Prädikate des Hauptsatzes sind hier, wie das Partizip, fett gekennzeichnet. Auf diese Weise wird deutlich, dass es sich um zwei eigenständige Teilsätze handelt. (Anm.: In dieser Verwendung ist das Partizip selbst kein Teil Bestandteil des Prädikatbezirks.)
þata þan imma qiþandin warþ milhma jah ufarskadwida ins.
Die Übersetzung unterscheidet sich dabei nicht sehr von der erstgenannten Konstruktion. Meist wird bei der Übesetzung der Partizipbezirk mit "wenn" oder "als, während" eingeleitet. Seltener auch als Kausal-, Konzessiv- oder Modalsatz. Im Unterschied zur anderen Partizipkonstruktion besitzt das Partizip, wie bereits gesagt, ein eigenes Bezugswort, das nicht Subjekt des Hauptsatzes ist. (Anm.: Das Partizip wird hier als finites Verb in der Vergangenheit übersetzt, weil sich die Prädikate ebenfalls im Präteritum befinden!)
"Während er dies (dann) sagte, kam eine Wolke und überschattete sie."
"Als er dies (dann) sagte, kam eine Wolke und überschattete sie."

Eine Besonderheit tritt ein, wenn Partizip und Pronomen im Satz weiter entfernt sind. Dann nämlich "kann zur Erhöhung der Deutlichkeit das Pronomen nochmals zum Partizip hinzugefügt werden"[1].

innatgaggandin imma [!] in Kafarnaum duatiddja imma hundafaþs (Mt 8:5)
"Als er nach Kafarnaum kam, kam ein Zenturio herbei."

Freier Nominativ

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In zwei Fällen gibt es auch Hinweise auf einen freien Nominativ (auch Nominativus absolutus). Dieser ist bereits seit Jakob Grimm strittig.[2] In beiden Fällen liegt ein Partizip Präteritum vor:

jah waurþans dags gatils (Mk 6:21)
"und es kam der passende Tag"
urrann sa dauþa gabundans handuns jah fotuns faskjam jah wlits is auralja bibundans (Joh 11:44)
"Der Tote, der seine Hände und Füße an Binden gebunden hatte, kam heraus und sein Angesicht verhüllte ein Schweißtuch."

Eine Vielzahl von Sprachwissenschaftler (so etwa Gabelentz/Göbe:3,205 ?) sehen darin einen Ausfall von was (vgl. Optionalität der Kopula), der am griechischen Original orientiert war (anders z. B. Streitberg 1981: 13).

Freier Akkusativ

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In zwei Fällen sind ebenso freie Partizipialsätze im Akkusativ (auch Akkusativ absolutus) zu finden:

þuk taujandan armaion ni witi hleidumei þeina ƕa taujiþ taihswo þeina (Mt 6,3)
"Wenn du Almosen gibst, lass deine linke (Hand) nicht wissen, was deine rechte (Hand) tut."
atgaggandein inn dauhtar Herodiandins jah plinsjandein jah galeikandein Heroda jah þaim miþanakumbjandam (Mk 6:22)
"Da kam die Tochter des Herodias herein und tanzte und (das) gefiel Herodes und den Mitanwesenden."

Auch diese beiden Fälle sind nicht unumstritten. Die Akkusativphrase von ersterem wird von Löbe[3] von witi abhängig gemacht. Streitberg (1981:14) verweist darauf, dass bereits ƕa taujis das Objekt von witi ist. Bei zweiterem Satz wird mitunter dauhtar zur Dativform dauhtr korrigiert und somit ein freier Dativ interpretiert (vgl. ebd.).

Nach Kock gehört auch Sk V:16f (vgl. Lektionstext 8) dazu. Eine "Übergangskonstruktion" (Streitberg 1981:14) soll bei Mk 5:18 und Lk 15:20 vorliegen. Die Abhängigkeit der Partizipialkonstruktion vom Prädikat ist dabei noch zu erkennen:

jah inngaggandan ina in skip baþ ina saei was wods [...] (Mk 5:18)
"Und als er in das Boot ging, bat er, der besessen war, ihn, dass [...]"
fairra wisandan gasaƕ ina atta is (Lk 15:20)
"Sein Vater sah ihn, als er noch fern war."

Freier Genitiv

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Als sog. Genitiv absolutus bezeichnete Jakob Grimm folgende Textstelle:

jah inwisandin sabbate dagis [...] (Mk 16:1)
"Und als der Sabbat bevorstand [...]"

Die Mehrzahl der Linguisten sieht heute darin jedoch mit Gabelentz-Löbe einen Genitiv der Zeit.

Präpositionale Partizipialsätze

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Freie Partizipialsätze können durch eine vorangestellte Präposition näher bestimmt werden. Die Präposition bestimmt die Bedeutung der Partizipialkonstruktion näher. Dadurch werden die Übersetzungsmöglichkeiten bezüglich der Konjunktion eingeschränkt, z. B. verlangt at i.d.R. eine temporale Übersetzung.

at maurgin waurþanana (Mt 27,1)
"Als es Morgen wurde"
nauhþanuh at imma rodjandin qam Iudas (Mk 14:43)
"Alsbald, während er noch redete, kam Judas"

Prädikatives Partizip

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Ist ein Partizip vom Prädikat abhängig, so spricht man von einem prädikativen Partizip, das funktionell mit einem "Akkusativ mit Infinitiv" (AcI) vergleichbar ist. Ausgelöst wird ein prädikatives Partizip durch Verben der geistigen, sinnlichen Wahrnehmung und nach Verben des Aufhörens und Verweilens. In der Regel sind die Übersetzungsmöglichkeiten des AcI auch hier anwendbar.

jah bigitaidau in imma ni habands meina garaihtein , þo us witoda, akei þo þairh galaubein Xristaus Iesuis, sei us guda ist garaihtei ana galaubeinai,
"und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben."
(Phil 3,9)

Einzelnachweise

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  1. Streitberg (1981:20)
  2. Näheres zur Diskussion siehe Streitberg, Wilhem: Gotische Syntax. Nachdruck des Syntaxteils der fünften und sechsten Auflage des Gotischen Elementarbuchs. Hrsg. von Hugo Stopp. Heidelberg 1981. S. 12.
  3. Löbe: Beiträge zur Textberichtigung und Erklärung der Skeireins. 1839. S. 47