Zur Psychologie des Heimwehs: Entwicklung des Gefühls von Heimweh


2. Entwicklung des Gefühls von Heimweh Bearbeiten

2.1 John BOWLBY: Entwicklung von Bindungsverhalten Bearbeiten

2.1.1 Theorie "Steuerung des Bindungsverhaltens" Bearbeiten

BOWLBY vertritt in seinem Buch "Bindung" (München, 1975) die Ansicht, die Bindung des Kindes zur Mutter 1 (sei es beim Menschen oder den Tieren) ist ein Ergebnis der Interaktion zwischen beiden. Seine Theorie geht bewußt über die frühere Annahme FREUDs hinaus, dass das Verhältnis von Kind und Mutter hauptsächlich zur Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse (Nahrung, Pflege) bestimmt ist. ("Theorie des Sekundärtriebs", FREUD, 1940; nach BOWLBY, 1975; S. 171ff.) Nach BOWLBY ist die Wechselbeziehung zwischen dem Kind und seiner Umwelt (Mutter) wichtig, die Befriedigung der Bedürfnisse nur zweitrangig. Er beschreibt vier Prozesse, die die Grundlage der Bindung eines Kindes zu einer bestimmten Figur sind: (vgl. S.254)

  1. Eine angeborene Tendenz, bestimmte wahrgenommene Reize den anderen vorzuziehen, sie zu beobachten (betrachten, lauschen). So entsteht die bevorzugte Beachtung eines Menschen, der das kleine Kind versorgt. (Instinkttheorie)
  2. Erfahrungslernen, bei dem das Kind die Merkmale (Verhalten, Anblick) des Menschen erlernt, der es umsorgt.
  3. Eine angeborene Tendenz, bekannte Personen aufzusuchen, um bei ihnen Schutz zu suchen.
  4. Durch diese Interaktion zwischen Kind und Mutter wird dieses Verhalten verstärkt. (Lerntheorie)

2.1.2 FREUDs "Theorie des Sekundärtriebs" und BOWLBYs Kritik Bearbeiten

FREUDs "Theorie des Sekundärtriebs" beschränkt die Basis des Bandes zwischen Mutter und Kind auf die notwendige Versorgung 1 "Mutter" bedeutet bei BOWLBY nicht die natürliche Mutter, sondern die Person, die das Kind betreut, d.h. es versorgt und mit ihm kommuniziert. Dies ist in den meisten Fällen die natürliche Mutter. grundlegender Bedürfnisse des Kindes. "Liebe entsteht in Anlehnung an das befriedigte Nahrungsbedürfnis." (FREUD, 1940; zit. nach BOWLBY, 1975; S. 200) BOWLBYs Kritik an diesem Erklärungsansatz beruht auf zwei Pfeilern:

  1. Die Theorie des Sekundärtriebs basiert auf Annahmen, die weder durch Experimente noch durch Beobachtungen belegt werden.
  2. FREUDs Theorie dient als einfache Möglichkeit, Symptome von Störungen in der Entwicklung des Menschen als Regression in eine frühere Phase zu beschreiben, "in der nur orale Objektbeziehungen bestanden."(ebd. S.206) Dies bedeutet, dass psychische Störungen ihre Ursache im Verlauf der Phase der kindlichen Nahrungsaufnahme durch die Mutter haben.

2.1.3 Empirische Grundlagen (Variablen, Prägung, Funktion) Bearbeiten

Dass das Bindungsverhalten eine Interaktion zwischen Kind und Mutter ist, die über die notwendige Befriedigung von Bedürfnissen hinausgeht, zeigt BOWLBY an folgendem Experiment: In einem Versuch von HARLOW (1959) beobachtet er Affen, die die Wahl zwischen 2 futtergebenden Attrappen hatten, von denen die eine aus Draht, die andere aus Stoff war. Die Affen bevorzugten eindeutig das "Stofftier", obwohl beide Futter gaben. Dies ist ein Beweis dafür, dass es außer der Befriedigung des Hungers auch noch eine andere Variable gibt, die mindestens genauso wichtig ist: die des "Kontaktkomforts". Die Funktion 2 des Bindungsverhalten ist der Schutz: Humane und nichthumane Babys suchen in unbekannten oder vermeidlich gefährlichen Situationen den Schutz der Mutter.3 2 BOWLBY weist im 8. Kapitel des Buches auf den Gebrauch des Begriffs Funktion, ohne ihn eindeutig von dem der Kausalität zu trennen. Er unterscheidet sie wie folgt: Kausalität ist eine der verschiedenen Folgen einer bestimmten Handlung. Dieses können aber auch ungewollte "Nebenerscheinungen"sein. Die Funktion einer Handlung ist dementsprechend die Folge, die die Handlung begründet. 3 Auch hier widerspricht BOWLBY FREUDs Auffassung, dass nämlich die Funktion des Bandes zwischen Mutter und Kind auf die Gewährleistung der Nahrungsaufnahme beschränkt ist. FREUD vertritt die Ansicht, das Kind suche die Nähe der Mutter, um eine "Unordnung" des psychischen Apparats,die duch physiologische Reize ausgelöst wird, zu verhindern. Die Funktion von Bindungs-und Furchtverhalten werden im 2. Band des Werks (BOWLBY, Trennung; München, 1976) deutlicher, indem er erläutert, wie Menschen und Tiere bei einer Trennung reagieren.

2.1.4 Ontogenese des Bindungsverhaltens Bearbeiten

  1. Die Grundlagen des Bindungsverhalten entstehen in den ersten Lebenstagen. Da die organische Entwicklung noch nicht so ausge­bildet ist, nimmt das Kind nur sehr undifferenziert wahr. Es reagiert aber schnell auf die Zuwendung der Personen seiner Umwelt (Augenfolgen, Greifen, Langen etc.)
  2. Mit etwa 10-12 Wochen konzentriert sich das freundliche Verhalten des Kindes auf die Mutterfigur.
  3. Ab dem 6.-7. Monat erweitert das Kind sein Repertoire der Reak­tionen: Es kann der Mutter folgen, sie begrüßen und sie als Aus­gangsbasis seiner Erkundungen der Umwelt benutzen. Hier entsteht eine Bindung, die die Grundlage des zielorientierten Verhalten des Kindes gegenüber der Mutter darstellt.
  4. Ab dem 2.-3. Lebensjahr wird für BOWLBY aus Bindung eine Partnerschaft. Hier hat das Kind ein System seiner Umwelt entwickelt, in dem die Mutterfigur im Mittelpunkt steht, aber selbst bald als unabhängiges Objekt gesehen wird. Neben der Hauptbindungsfigur (Mutter) hat das Kind auch Personen, die als Nebenfiguren fungieren. D.h., dass z. B. bei Abwesenheit der Mutter die Bindung zeitweilig auf eine andere bekannte Person übertragen wird. Ob die Bindung zur Hauptbindungsfigur wie zur Nebenperson zeitgleich oder zeitlich versetzt entsteht, ist nicht geklärt. Eine Beobachtung ist noch interessant: Entgegen der Annahme, ein Kind, das eine schwache Bindung zur Nebenfigur hat, besitzt dann folglich eine starke an seine Mutter. Dieser naheliegende Rückschluß laßt sich nicht bestätigen: Ein Kind, so BOWLBYs Beobachtungen (1958), das eine schwache Beziehung zu den Menschen seiner Um­welt hat, besitzt auch eine weniger intensive Bindung zu seiner Hauptfigur. Kinder, die eine starke Bindung haben, sind eher fähig, auch andere Bindungen einzugehen, während solche, die eine schwa­che Mutterbindung haben,sich auf diese sehr stark konzentrieren.

Es ist weniger eine Besonderheit als vielmehr die Regel, dass Kinder neben ihrem Bindungsverhalten gegenüber Menschen auch ein solches gegenüber leblosen Objekten, wie Stofftiere, Tücher etc., entwickeln. Dies geschieht meist nicht vor dem ersten Geburtstag, also in der Phase, in der das Kind die Beziehung zur Hauptbindungsfigur intensiviert. Diese "Ersatzobjekte" (BOWLBY, 1969, S.286) dienen in bestimmten Situationen als Übergang der Mutter-Kind-Interaktion, wenn die Mutter nicht anwesend sein kann. Die Ersatzobjekte übernehmen dann die Aufgabe der Beruhigung.

2.2 Zwei Trennungs-und Angsttheorien Bearbeiten

Im folgenden Abschnitt möchte ich die Gedanken beschreiben, die Sigmund FREUD zum Thema Angst in seiner zweiten Angsttheorie hatte, um sie dann anschließend mit denen von BOWLBY zu verglei­chen. Es wird sich dabei einerseits eine starke Anlehnung der beiden Theorien zeigen, die sich andererseits in grundlegenden Aspekten unterscheiden. Danach möchte ich den direkten Bezug der beiden Theorien zu meiner Arbeit aufzeigen.

2.2.1 FREUDs "zweite Angsttheorie" (1926) Bearbeiten

In seiner zweiten Angsttheorie (1926) beschreibt S. FREUD (nach Heinz W. KROHNE Stuttgart, 19812) verschiedenen Arten von Angst:

  1. Die "Realangst" entsteht entweder durch eine Bedrohung des Be­troffenen oder dem Entzug der Befriedigung der notwendigen Be­dürfnisse. Angst wird somit "real" empfunden, wenn jemand direkt einer Gefahr ausgesetzt ist oder er indirekt sein Leben bedroht fühlt. Somit gilt die "Realangst" als nützlicher Schutzmechanismus, indem sie eine Reaktion hervorruft, zu versuchen, die Gefahr abzuwenden oder die Nähe der Person zu suchen, welche die Versorgung gewähr­leistet.
  2. Die zweite Form von Angst ist die "neurotische Angst". Auch sie warnt den Betroffenen vor einer extremen Gefahr, die aber im Ge­gensatz zur "Realangst" nicht bewußt ist. Bei der "neurotischen Angst" handelt es sich darum, dass die Triebregelungen auf Grund moralisch-gesellschaftlicher Normen unterdrückt werden müssen, und dieses führt mit Hilfe des Unlustprinzips zur inneren Flucht durch Verdrängung. FREUD (in: "Hemmung, Symptom und Angst",1926a,Gesammelte Werke XIV; hier nach BOWLBY 1976, S.48):"Angst ist die Reaktion auf die Gefahr, das Objekt zu verlieren, ..." FREUDs zweite Angsttheorie wird auch "Signaltheorie" genannt, da die Angst immer eine Signalfunktion für den Betroffenen hat. Sie gilt gleichsam als "sekundärer Affekt", da ihr immer ein Erlebnis vorausgegangen sein muß, welches diese Angst entstehen ließ. Für FREUD ist die Situation der primären Angst die der Geburt des Menschen, somit die erste Trennung von der Mutter, die bis zu diesem Zeitpunkt die komplette und ständige Versorgung der Bedürfnisse des Kindes leistete. Somit steht für FREUD eine Trennung am Anfang jeder individuellen Entwicklung des Angstgefühls 4, das sich im Laufe der kognitiven Entwicklung eines jeden Einzelnen ausdifferenziert.

2.2.2 BOWLBYs Kritik an FREUDs Theorie Bearbeiten

BOWLBYs Kritik an FREUDs Gedanken stützt sich auf zwei Punkte:

  1. Nach BOWLBY Auffassung ist für FREUD die "reale" Angst be­schränkt auf die Situationen, in denen ein Individuum wirklich bedroht ist. Jede andere Form von "unwirklicher" Gefahr, wie z.B. bei der Angst vor Dunkelheit oder dem Alleinsein ist "neurotisch" und somit pathologisch. Ein Kind verhält sich somit krankhaft, sobald es Angst empfindet, ohne eine realen Grund zu benennen. (BOWLBY 1976; S.112)
  2. FREUD beschränkt Bindungsverhalten auf die Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse des Kindes (Hunger, Wärme etc.).

4 Diesen Punkt greift BOWLBY (1976) auf: Er kritisiert, dass FREUD die Angst vor dem Verlust eines Objekts als "Schlüssel" für diese Problematik versteht. Für BOWLBY ist die Trennungsangst eine Form von Angstverhalten. Dies impliziert die Theorie, dass die Hauptquelle der kindlichen Angst die vor der Hilflosigkeit ist. Dies hat am Schluß zur Folge, dass die Angst vor Trennung ein kindlich-naives Verhalten ist, welches für einen Erwachsenen inadäquat wäre. (ebd., S.108)

2.2.3 BOWLBYs Angsttheorie Bearbeiten

In seiner Angsttheorie versucht BOWLBY das Verhalten von Menschen in Angstsituationen zu verstehen und zu beschreiben. Er zieht in seinen Erläuterungen Beobachtungen aus der Tierwelt hinzu und versucht sie, mit Experimenten zu belegen. Für BOWLBY ist Angstverhalten eine natürliche Disposition bei Mensch und Tier, die parallel zum Bindungsverhalten entwickelt wird. So wie sich das Verhältnis zwischen dem Kind und der Bindungsfigur (Mutter) im Laufe der Zeit ausdifferenziert, so entwickelt sich auch das Verhalten in Gefahrensituationen. Für BOWLBY ist jeder Mensch mit der Eigenschaft ausgestattet, bei bestimmten Situationen mit Furcht zu reagieren (z.B. bei Dunkelheit, Fremdheit etc.). Ausgelöst werden Angstreaktionen durch Schlüsselreize. Die Reize, welche auch bei Tieren beobachtbar sind, nennt er "natürliche Schlüsselreize." Angstsituationen, die durch Beobachtung der Umwelt erkannt und imitiert werden, nennt BOWLBY "kulturelle Schlüsselreize". Des weiteren gibt es solche, die beim Individuum Angst auslösen, ohne dass sie in der Umwelt gleichermaßen zu erkennen sind. Diese "erlernten Schlüsselreize" sind das Ergebnis persönlicher Erfahrun­gen, die bei jedem Einzelnen Angstreaktionen auslösen können. Somit hat jedes Individuum auch seine "persönlichen" Ängste. BOWLBY ordnet diesen Schlüsselreizen auch bestimmte Kategorien der individuellen kognitiven Entwicklung zu. Die "natürlichen"Schlüsselreize nennt er "kindlich, irrational", die "erlernten" Angstauslöser bezeichnet er als "reif" und "realistisch". Ein Zuordnung der zweiten Gruppe ("kulturelle Schlüsselreize") hängt von der Situation ab und der Beurteilung des Beobachters, ob die Reaktion "reif" oder "kindlich" ist. Hier ist zu betonen, dass in der Kategorisierung BOWLBYs keine Wertung impliziert ist, sondern nur verdeutlicht werden soll, in welcher Phase der menschlichen Entwicklung diese verschiedenen Ebenen der Angstverhalten erreicht sind. Ein Erwachsener, der sich vor dem Alleinsein in der Fremdheit fürchtet, verhält sich nicht "regressiv", sondern er äußert das Bedürfnis nach gewohnter Geborgenheit. Wichtig für BOWLBY ist also nicht eine Beurteilung des gezeigten Verhaltens, vielmehr interessieren ihn die Gründe, warum sich ein Mensch in einer bestimmten (Angst-) Situation entsprechend verhält. Hier spielen für ihn folgende Varianten eine Rolle:

  • Ist die Bindungsfigur verfügbar?
  • Wie verlief die Entwicklung des Bindungsverhaltens in der "sensiblen Phase"?
  • Welche anderen (Trennungs-oder Angst-) Erfahrungen hat das Individuum gemacht?

So läßt sich zusammenfassend sagen, dass folgende Momente die Furchtbereitschaft eine Menschen reduzieren können:

  • Eine Steigerung des Vertrauens in die Bindungsfigur
  • Der Grad der Gewöhnung an die betreffende Situation
  • Die Art der Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen gemacht wurden. (BOWLBY nennt diesen Faktor den des "Fortschreitendes Alters") Wir werden diese Faktoren im folgenden Abschnitt noch einmal wiederfinden, in dem es um die Beschreibung BOWLBYs der "natürlichen Schlüssel zur Gefahr und Sicherheit" gehen wird. Diese Schlüssel zur Gefahr und Sicherheit sind der Grund für die Tendenz des Individuums, gefährliche Situationen zu meiden und Schutz an einem vertrauten Platz zu suchen.

2.3 Heimweh bei BOWLBY Bearbeiten

In seinem Buch "Trennung" (München, 1976) beschreibt BOWLBY im 9. Kapitel ("Natürliche Schlüssel zu Gefahr und Sicherheit") die "potentielle Sicherheit vertrauter Gefährten und Umgebungen." (S. 184) BOWLBY versucht in diesem Teil des Buches einen "ethologischen Ansatz zur menschlichen Furcht" zu erstellen. Er geht davon aus, dass die Ereignisse, die einen Menschen (wie auch ein Tier) zum Fürchten bringen, Schlüsselreize sind. Diese "Schlüssel" unterteilt er in natürliche und kulturelle, d.h., dass es Ereignisse gibt, die jeder Mensch fürchtet und zwar aus biologischen Gründen, und solche, die er fürchtet, weil er diese Reaktion bei seiner Umwelt erlebt hat und sie als notwendig und nützlich ansieht. Ein natürlicher Schlüsselreiz ist das Alleinsein. Der Mensch (wie auch das Tier) ist tendenziell weniger sicher, sobald er sich allein fühlt, sei es in einer unbekannten Umgebung oder in einer unbekannten Gesellschaft. Ist er in Gesellschaft mit bekannten Gefährten und in einer ihm vertrauten Umgebung, so fühlt er sich geschützter bzw. weniger bedroht. Nach BOWLBY tendiert der Mensch dazu, sich sein "ganzes Leben hindurch" (ebd. S.184) an einem ihm vertrauten Ort aufzuhalten, oder diesen aufzusuchen, da er sich dort von der räumlichen Umwelt, wie auch von den Mitmenschen geborgen fühlt. (vgl. S.184) Für diese Verhalten macht BOWLBY zwei ineinandergreifende Systeme verantwortlich:

  1. Der Mensch vermeidet Situationen (Orte, Menschen etc.), die ihn potentiell in Gefahr bringen können. (Furchtverhalten)
  2. Der Mensch sucht potentiell sichere Situationen, in denen er sich nicht gefährdet fühlt, oder die Gefahren erkennen und somit vermei­den kann. (Bindungsverhalten) Wir sehen, dass für BOWLBY das Bindungsverhalten weit über das Verhältnis Mutter-Kind hinaus geht und abstraktere Bindungsfiguren, z.B. Orte miteinbezieht. "Damit kehrt die Diskussion zurück zum Bindungsverhalten. Die Verhaltenssysteme, die ein jüngeres oder schwaches Individuum in mehr oder minder großer Nähe zu einem anderen stärkeren Indivi­duum halten, können jetzt als Teil einer größeren Anzahl von Syste­men betrachtet werden, deren Wirkung darin besteht, alle Bewegungen einer Kreatur so zu regulieren, dass es in der Regel innerhalb seiner vertrauten Umgebung bleibt. Bindung an eine Elternfigur ist bei den meisten Spezies ontogenetisch die erste Form der Entwicklung dieser Art von Verhalten." (ebd. S.186f.)

Die Beziehung von Individuen und Umwelt sieht BOWLBY in einem homöostatischen System, das von biologischen (genetischen) und physiologischen Aspekten gesteuert wird. Der Mensch ist so mit der biologischen Neigung ausgestattet, einen früheren Zustand aktiv zu­rückzuerlangen, und diese Aktivität bei Erreichen des Zustandes ein­zustellen. BOWLBY konstatiert mit dieser Aussage, dass der Mensch, wie andere Lebewesen auch, ein natürliches Bedürfnis nach Sicherheit hat. Durch sein erworbenes Bindungs-und Furchtverhalten entwickelt er eine Tendenz, einen sicheren Ort oder eine sichere Situation aufzusuchen. Auslöser ist die angeborene Angst vor dem Alleinsein. Diese löst ein Verhalten aus, welches versucht, die gewohnte Situation wieder herzustellen. Nehmen wir jetzt noch die o.g. erlernten Ver­haltensmuster (Erfahrung, Gewöhnung) hinzu, so können wir davon ausgehen, dass der Mensch ein natürliches Bedürfnis besitzt, eine gewohnte, ihm vertraute Umwelt zu haben, in der er sich subjektiv sicherer fühlt, als in der "Fremde". Dieser Ort wird im allgemeinen Sprachgebrauch als "Heimat" bezeichnet. Heimat ist hier also als Raum-Zeit-Konstrukt zu sehen, das von jedem Einzelnen subjektiv erlebt wird. Heimat ist eine Einheit des abstrakten Ganzen "Welt", die uns vertraut ist, die emotional mit ihren besonderen Gegebenheit durchdrungen ist und dies vor allem mit den Menschen, die diese Heimat gestalten. Dieser soziale Aspekt des Heimatbegriffs wird auch durch seine zeitliche Dimension deutlich. Heimat ist der Ort, an dem das Individuum seine ersten Erfahrungen mit der Umwelt macht. Es wird diese Erlebnisse mit den später gemachten vergleichen. So ist die Heimat die Schablone, die wir an die uns unbekannte Welt anlegen. Es ist gerade die Erkenntnis der Individualität des

Heimatbegriffs, der in unserem Zusammenhang so wichtig ist, um ihn von dem mißverständlichen, reinen Bodenbezug zu trennen. 5