Soziologische Klassiker/ Schütz, Alfred

Grundstruktur des Kapitels:

Biographie in Daten

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  Alfred Schütz

  • geboren am 13. April 1899 in Wien
  • gestorben am 20. Mai 1959 in New York


Eltern:

  • Vater: Otto Schütz, Prokurist einer Privatbank
  • Mutter: Johanna Schütz, Strickerin


Ehe:

  • Ilse Heim, geb. 1902


Kinder:

  • Eva Elisabeth (Evelyn) Schütz, geb. 1933
  • Georg T. Schütz, geb. 1938 (bekannter Jazzmusiker)


Religion:

  • jüdisch


  • 1917: erwirbt er vorzeitig das Reifezeugnis ("Notmatura") auf dem Esterhazy-Gymnasium in Wien
  • 1917 - 1918: Dienst im k.u.k. Heer im 1. Weltkrieg
  • 1918 - 1921: Rechts- und sozialwissenschaftliches Studium an der Universität Wien
  • 1921: staatswissenschaftliche und juristische Staatsprüfung, sowie Rigorosa. Er erwirbt den akademischen Grad eines Doktors der Jurisprudenz. Im selben Jahr tritt er seine erste Stellung als Sekretär des Bankvereins in Wien an.
  • 1926: Heirat mit Ilse Heim
  • 1927 - 1938: Wechsel zum Bankhaus Reitler & Co in Wien als Prokurist. In dieser Zeit beginnt für Schütz ein "Doppelleben": tagsüber als Finanzjurist und nachts als Wissenschaftler.
  • 1938: bei der Bankübernahme durch Nationalsozialisten wird Schütz entlassen
  • 1938 - 1939: Exil in Paris, Frankreich
  • 1939: kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges siedelt die Familie nach New York
  • 1939: Mitbegründer der International Phenomenological Society und wird Mitglied ihres Council
  • 1940: wird Mitglied des Editorial Board der neu gegründeten Zeitschrift "Philosophy and Phenomenological Research"
  • 1943: Schütz nimmt die Lehrtätigkeit als Lecture für Soziologie an der New School for Social Research in New York auf
  • 1944: Schütz wird dort zum Visiting Professor
  • 1952 - 1956: Schütz wird zum Vorsitzenden der Philosophieabteilung („chair of the philosophy department“) an der New School ernannt
  • ab 1955: Schütz teilt seine Lehrtätigkeit zwischen dem Philosophy Department und dem Sociology Department auf
  • 1956: Schütz wird zum Full Professor für Soziologie und Sozialpsychologie ernannt und gibt seine Tätigkeit als Bankier auf
  • 20.05.1959: Schütz stirbt in New York an Lungenkrebs

Historischer Kontext

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Schütz kam aus dem Wien der Jahrhundertwende, das sich in dieser Zeit als Hochburg abendländischer Kultur und Wissenschaftstradition verstand. 1938 musste Schütz jedoch mit seiner Familie aufgrund seiner jüdischen Abstammung nach Paris ins Exil gehen. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges übersiedelte er von Frankreich nach New York. Durch die vielen Reisen, die er vor New York unternahm, konnte die Emigration schon bald genug vorbereitet werden.


Schütz führte ein Doppelleben. Tagsüber war er als Finanzjurist und nachts als Wissenschaftler tätig. Sein Leben bestand aus einer Vielfalt von Wirklichkeiten. Dies ist auch in seinem Hauptwerk "Strukturen der Lebenswelt" ersichtlich.

Eine ausführlichere Darstellung des historischen Kontextes findet sich u. a. hier

Theoriegeschichtlicher Kontext

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Alfred Schütz versuchte die verstehende Soziologie von Max Weber neu zu begründen. Er entwickelte vornehmlich gestützt auf die Zeitphilosophie von Henri Bergson und die Phänomenologie Edmund Husserls eine Theorie der Lebenswelt.


Er war Begründer der Phänomenologie und einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhundert. Alfred Schütz machte besonders in der Soziologie den Husserlschen Ansatz fruchtbar.

Er war französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur. Henri Bergson gilt als bedeutender Vertreter der Lebensphilosophie und Vordenker des Existenzialismus.

  • Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932)
  • Alfred Schütz, Das Problem der Relevanz (1971)


Sammelbände:

  • Benita Luckmann/Richard Grathoff, Gesammelte Aufsätze, Band I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit (1971)
  • Benita Luckmann/Richard Grathoff, Gesammelte Aufsätze, Band II: Studien zu soziologischen Theorie (1971)
  • Benita Luckmann/Richard Grathoff, Gesammelte Aufsätze, Band III: Studien zur phänomenologischen Philosophie (1971)
  • Alfred Schütz/ Talcott Parsons, Zur Theorie des sozialen Handelns, Ein Briefwechsel (1977)
  • Alfred Schütz/ Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Band I (1979)
  • Alfred Schütz/ Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Band II (1979)


Das Werk in Themen und Thesen

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Das Konzept der Lebenswelt von Alfred Schütz meint eine Vielzahl von Wirklichkeiten. Es ist strukturiert in die räumliche und zeitliche Struktur der Lebenswelt, in die soziale Aufschichtung der Lebenswelt, Wissensbestände der Lebenswelt, sowie Subjektive Relevanzsysteme, die einen sehr wesentlichen Bestandteil des Lebensweltkonzeptes darstellen.


1) Räumliche und zeitliche Struktur der Lebenswelt

Jedes erfahrende und handelnde Subjekt ist in räumliche, zeitliche und soziale Strukturen eingegliedert. Diese drei Formen sind in jeder Situation, sowie Interaktion vorhanden. Bei der räumlichen Struktur ist der Ausgangspunkt immer das aktuelle HIER. Es stellt die Welt der aktuellen Reichweite dar. Außerhalb davon liegt die Welt der potentiellen Reichweite. Durch das Fortbewegen meines Körpers kann ich diesen Bereich jederzeit erreichen. Als drittes gibt es dann noch die Welt in erlangbarer Reichweite. Diese war noch nie in meiner Reichweite, aber wenn ich wollte, könnte ich sie erreichen. Die Welt in aktueller Reichweite stellt die Gegenwart dar, die Welt in potentieller Reichweite die nahe Zukunft und die Welt der erlangbaren Reichweite stellt die Zukunft dar. Die Zeitstruktur wird in die kosmische Zeit, sowie sozial akzeptierte Zeitmaße (Standardzeit) zB Jahre, Monate, Wochen, etc. eingeteilt. Die Zeit reguliert die gesamte menschliche Existenz. Man spürt "das Bedürfnis" sich an der Zeit zu orientieren. Mit der zeitlichen Orientierung bin ich wieder in der Alltagswelt. Die Zeit legt gewisse Abläufe des Lebens fest. Die Zeitstruktur ist somit auch ein Zwang.


2) Soziale Aufschichtung

Der Ausgangspunkt der sozialen Aufschichtung ist die Generalthese vom Alter Ego "Es wird als selbstverständlich hingenommen, dass es gleichgeartete Menschen gibt." Das Grundproblem ist jedoch die Verständigung mit Anderen. Andere haben unterschiedliche räumliche Standorte, unterschiedliche Zeitlichkeiten und unterschiedliche Biographien. Nimmt der Andere mich wahr, so besteht eine sogenannte "DU-Einstellung", wendet sich jedoch der Andere mir auch zu, so besteht eine "WIR-Beziehung". Es gibt verschiedene Wir-Beziehungen, die jedoch aus unterschiedlicher Dauer und Intensität bestehen. Besteht keine unmittelbare Wir-Beziehung, so ist das nur mehr ein Zeitgenosse, eine sogenannte Ihr-Einstellung. Beziehungen zu Zeitgenossen sind abstrakter und werden von Typisierungen geleitet. Angeeignet werden Typisierungen durch Verallgemeinerungen von persönlichen Erfahrungen wie z.B. Beobachtungen, einmaligen Interaktionen oder durch indirekte Vermittlung z.B. der Erziehung.


3) Wissensbestände der Lebenswelt

Den subjektiven Wissensvorrat kann man in drei Wissensbestände gliedern:

a) Grundelemente meiner Erfahrung:

Diese bestehen aus den bereits beschriebenen räumlichen, zeitlichen und sozialen Strukturen. An diesen Strukturen muss ich mich fortwährend orientieren. Sie haben einen Zwangscharakter, der die Begrenztheit der Situation konstituiert.

b) Spezifische Wissensbestände:

Diese gelangen nur in Einzelsituationen zur Anwendung.

c) Routinewissen:

Schütz unterscheidet das Routinewissen in Fertigkeiten (körperliche Geschicklichkeiten), Gewohnheitswissen (standardisierte Tätigkeiten) und Rezeptwissen.


4) Subjektive Relevanzsysteme

Im Lebenskonzept von Schütz spielt das subjetktive Relevanzsystem eine große Rolle. Nach Schütz gründen alle Handlungen in Relevanzstrukturen. Er unterscheidet in thematische Relevanz, Interpretationsrelevanz und Motivationsrelevanz.

Der wesentliche Aspekt in der thematischen Relevanz ist, dass man seine Aufmerksamkeit auf etwas lenkt, das heißt man thematisiert etwas. Diese Aufmerksamkeit kann erzwungen oder freiwillig sein.

Die Interpretationsrelevanz wird oftmals auch als Auslegungsrelevanz bezeichnet. Schütz verweist mit dieser Relevanz auf die Tatsache, dass wir permanent interpretieren. Dies kann routinemäßig geschehen oder durch problematische Situationen, die mehr Aufwand erfordern, motiviert sein.

In der Motivationsrelevanz unterscheidet Schütz zwischen dem Um-Zu-Zusammenhang und dem Weil-Zusammenhang. Ersteres bezieht sich auf die Zukunft und setzt eine Beziehung von Lebensplänen zu aktuellen Handlungszielen in konkreten Situationen. Der Weil-Zusammenhang bezieht sich auf die Vergangenheit und ist das Ergebnis von biographischen Erfahrungen, die die Präferenzstruktur konstituieren.

Wichtig ist, dass die drei verschiedenen Relevanzsysteme ineinander übergehen können.

Rezeption und Wirkung

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Alfred Schütz bekam an der New School for Social Research durch die Arbeiten vieler Studenten u.a. Peter L. Berger, Harold Garfinkel, Thomas Luckmann, Maurice Nathanson und Richard Zaner eine Bestätigung der Fruchtbarkeit seines Phänomenologischen Ansatzes.


Luckmann, Parsons, Garfinkel und Goffman waren Soziologen die stückweise Teile von Schütz in die Soziologie eingebracht haben.


Alfred Schütz begann an der New School for Social Research im Jahr 1952 mit der Arbeit an dem Werk Strukturen der Lebenswelt. Er wollte die Ideen des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt von Grund auf neu entwickeln. Schütz starb 1959 und das Werk blieb unvollendet. Sein Schüler Thomas Luckmann hat es übernommen, die nur zum Teil skizzierten Vorlagen zu vollenden. Das 4. Kapitel wurde von Luckmann völlig neu entworfen.


Literatur

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  • Gabriel, Manfred:
    "Lebenswelt und Handeln in: Kriechbaumer, Robert [Hrsg.]: Städtische Lebenswelt(en) seit 1945"
    Salzburg, S. 37-56
  • Kaesler, Dirk [Hrsg.] (1999):
    "Alfred Schütz. Klassiker der Soziologie. Band I"
    München
  • Schneider, Wolfgang Ludwig (2002):
    "Das Problem der Intersubjetivität: Alfred Schütz in: Schneider, Wolfgang Ludwig: Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 1. Weber - Parsons - Mead - Schütz"
    Wiesbaden, S.234 - 289


Internetquellen

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