Mathematik: Wahrscheinlichkeitstheorie: DW: K1: Intuitive Wahrscheinlichkeit

←  zurück   -  zum Inhaltsverzeichnis   -  weiter  →

K1: Intuitive Wahrscheinlichkeit

Diskrete Wahrscheinlichkeitsrechnung

1. Grundbegriffe Bearbeiten

1.2 Intuitive Wahrscheinlichkeit Bearbeiten

Damit wir zu einem Wahrscheinlichkeitsbegriff gelangen, besprechen wir zuerst zwei intuitive Annäherungsarten. Als erstns betrachten wir den Grundgedanken, dass, wenn ein Ergebnis in z. B. 30 % einer langen Serie Experimente eintritt, wir diese Zahl von 30 % als die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Ergebnisses interpretieren (Von Mises, 1920). Dazu denken wir uns ein Experiment, bei dem ein Ereignis   eintreten kann. Wenn das Experiment   Mal ausgeführt wird und das Ereignis   tritt   Mal ein, bezeichnen wir den Quotienten   als Frequenzquotienten von   in   Ausführungen des Experiments.

Definition 1.2.1 Bearbeiten

Der Frequenzquotient   des Ereignisses   in   Wiederholungen eines Experiments, worin   Mal eintrat, ist die Bruchzahl:

 


Für einen festen Wert von   hat der Frequenzquotient die Eigenschaften.

Satz 1.2.1 (Eigenschaften des Frequenzquotienten) Bearbeiten

Für den Frequenzquotient   eines Ereignisses   gilt:

(a)  ,
(b)  ,
(c1) wenn   und   zwei disjunkte Ereignisse sind, ist:  .
(c2) allgemein gilt für abzählbar unendlich viele disjunkte Ereignisse  , dass:
 .

Beispiel 1 (Frequenzquotient) Bearbeiten

Als Experiment werfen wir 1000 Mal hinter einander eine Münze und berechnen für jeden der n = 1,2,3,...,1000 Würfe den Wert von fq(A), wo A das Ereignis "Kopf" ist. Die Figur 1.2.1 zeigt die Grafik von fq für die ersten 35 Würfe und die Figur 1.2.2 für alle 1000 Würfe.

 
Bild 1.2.1 Diagram von fq(A) bei den ersten 35 Würfen
 
Bild 1.2.2 Diagram von fq(A) bei 1000 Würfen

Im Bild 1.2.1. sehen wir, dass die Ergebnisse der ersten 35 Würfe: KZKZZ KKKZK ZZKKZ KZZZZ KKKKK ZKZKK KZKKK waren. Auch bemerken wir, dass die Frequenzquotienten am Anfang (wenn n noch klein ist) ziemlich starke Schwankungen vorweisen; wenn aber n groß ist, weist fq(A) nicht mehr viel Variation auf, wie wir im Bild 1.2.2 sehen können. Es scheint, als strebe fq(A) mit wachsendem n gegen einen Grenzwert.


Was wir im Beispiel feststellten, ist kein Einzelfall; allgemein erweist sich, dass in einer langen Serie von Experimenten beliebiger Art die Frequenzquotienten auf Dauer immer weniger fluktuieren und einem Grenzwert zuzustreben scheinen. Dieser experimentell beobachtete Vorgang heißt empirisches Gesetz der großen Zahlen.

Intuitiv stimmt dieser fiktive Grenzwert überein mit der Bedeutung, die wir gewöhnlich dem Begriff Wahrscheinlichkeit zuschreiben. Er zeigt die relative Häufigkeit, mit der ein Ereignis eintritt in eine "unendlich lange" Serie von Wiederholungen eines Experiments. Trotzdem ist es uns nicht möglich, auf diese Weise den Begriff Wahrscheinlichkeit zu definieren, weil wir unendlich lange Serien von Experimenten nie ausführen können. Wir werden aber später den Begriff Wahrscheinlichkeit so definieren, dass er die oben genannten Eigenschaften hat.

Es gibt noch eine andere Art, den Begriff Wahrscheinlichkeit intuitiv zu betrachten. Dazu geben wir das nächste Beispiel.

Beispiel 2 (Würfel) Bearbeiten

Wir werfen einen fairen Würfel (d. h. einen mathematisch exakten Würfel, aus homogenem Material angefertigt und mit Flächen, auf denen die Augenzahlen 1 bis 6 gemalt sind, ohne die Gewichtsverteilung zu zerstören). Auf Grund der (physischen) Symmetrie der Würfel sagen wir, dass jedes der möglichen Ergebnisse (Augenzahlen) 1 bis 6 die gleiche Wahrscheinlichkeit des Eintretens hat.

Definition 1.2.2 (Symmetrie) Bearbeiten

Ein Experiment mit endlich vielen Ergebnissen nennen wir symmetrisch, wenn alle Ergebnisse gleich wahrscheinlich sind (d. h. wenn keines der Ergebnisse bevorzugt eintritt).


Die Auffassung von Symmetrie eignet sich wohl für eine Definition des Begriffs Wahrscheinlichkeit. Sie wurde eingeführt von Laplace (1749–1827).

Definition 1.2.3 (Laplace-Wahrscheinlichkeit) Bearbeiten

In einem symmetrischen Experiment wird die (Laplace-)Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A definiert als relative Häufigkeit der für A günstigen (d. h. zu A gehörenden) Ergebnisse.

Beispiel 3 Bearbeiten

In einer Umfrage wird aus der gesamten Bevölkerung ein beliebiger Erwachsener ausgewählt. Weil beliebig gewählt wird, ist das Experiment symmetrisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass die gewählte Person aus Berlin kommt, ist also

 


Leicht ist einzusehen, dass die Laplace-Wahrscheinlichkeit die oben für den Frequenzquotient genannten Eigenschaften hat.

Satz 1.2.2 Bearbeiten

Die Laplace-Wahrscheinlichkeit hat die Eigenschaften 1.2.1.a - c.


Die Laplace-Wahrscheinlichkeit hat leider zwei schwerwiegende Beschränkungen. Zum einen unterstellt die Definition lediglich einen endlichen Ergebnisraum, und wir möchten auch Experimente betrachten mit unendlich vielen Ergebnissen. Zum anderen gibt es auch endliche Ergebnisräume, worin nicht jedes Ergebnis die gleiche Wahrscheinlichkeit hat. Wir versuchen deshalb eine mehr allgemeine Definition des Begriffs Wahrscheinlichkeit zu finden.

Bemerkung 1 Bearbeiten

Die Wahrscheinlichkeit als Frequenzquotient ist gegründet auf einer langen Reihe Wiederholungen eines Experiments. Es ist dabei nicht unbedingt erforderlich, die Wiederholungen tatsächlich auszuführen. Wir dürfen uns die Wiederholungen in Gedanken vorstellen. Aber auch in dieser erweiterten Auffassung ist die Idee der Wiederholung manchmal unrealistisch.

Bemerkung 2 Bearbeiten

Ein Arzt teilt einem Patienten mit, die Wahrscheinlichkeit des Erfolges einer Operation sei 80 %. Was bedeutet für uns eine derartige Mitteilung? Erstens müssten wir wissen, welche Grundlage die Mitteilung hat. Oft ist eine solche Mitteilung unzulänglich begründet. Betrachten wir aber die Mitteilung an sich und denken wir uns in der Stelle des Arztes, dann ist eine Interpretation der 80 % als Frequenzquotient gut denkbar. Wenn der Arzt die Operation viele Male ausführt, ist die Operation in etwa 8 von 10 Fällen erfolgreich. Aus der Sicht des Patienten aber scheint eine derartige Interpretation nicht sehr sinnvoll. Der Patient wird nicht viele Male operiert, sondern (meistens) nur einmal. Dennoch können wir der Zahl 80 % eine Bedeutung geben, indem wir folgendes Gedankenexperiment machen. Bei der Assistentin des Arztes steht eine Urne mit 100 Bällchen, 80 weißen und 20 schwarzen. Die Assistentin zieht ganz zufällig ein Bällchen aus der Urne. Ist es weiß, so wird der Arzt beim Operation Erfolg haben; ist es schwarz, misslingt die Operation. Leider wird uns nicht im Voraus gesagt, ob ein weißes oder ein schwarzes Bällchen gezogen wurde.

Das obige Beispiel zeigt, wie der Begriff Wahrscheinlichkeit in der praktischen Anwendung aufzufassen ist. So helfen uns zahlreiche Anwendungsbeispiele am besten, die Bedeutung der Wahrscheinlich intuitiv zu erfassen.