Herleitung und Definition der Exponentialfunktion – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

Dieser Abschnitt ist noch im Entstehen und noch nicht offizieller Bestandteil des Buchs. Gib den Autoren Zeit, den Inhalt anzupassen!

Definition der Exponentialfunktion Bearbeiten

 
Die Exponentialfunktion

In den folgenden Abschnitten werden wir die Exponentialfunktion definieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, diese zu definieren. Wir werden beide Ansätze vorstellen. Anschließend zeigen wir, dass beide Definitionen äquivalent sind.

Reihendarstellung Bearbeiten

Angenommen, wir suchen eine differenzierbare Funktion  , für die gilt   für alle  .

Das ist eine Frage, die nicht nur einen Mathematiker interessiert. Beispielsweise sucht ein Biologe eine Funktion, die die Anzahl der Bakterien in einer Bakterienkultur beschreibt. Dabei weiß er, dass das Wachstum dieser Bakterienkultur proportional zur Anzahl der Bakterien ist. Zur Vereinfachung hat er diesen Proportionalitätsfaktor auf   gesetzt.

Es bietet sich sofort eine einfache Möglichkeit an:   für alle  . Das ist erstens eine ziemlich langweilige Funktion und zweitens löst sie das Problem des Biologen auch nicht, denn in seiner Bakterienkultur sind ja mehr als   Bakterien.

Die Frage ist nun, ob es weitere Funktionen   mit dieser Eigenschaft gibt. Zunächst stellen wir fest, dass für alle   und alle Funktionen   mit   gilt, dass auch   differenzierbar ist und   gilt.

Wir fordern nun zusätzlich, dass   gilt. Als Ansatz wählen wir ein Polynom   für ein  . Wegen   muss   gelten.

Nun leiten wir das Polynom ab, um eine Bedingung für die restlichen Koeffizienten   zu erhalten. Für alle   gilt

 

Damit für alle   gilt  , müssen die Koeffizienten vor den   bei   und   gleich sein. Somit muss für alle   folgende Gleichung erfüllt sein:  .

Da wir zusätzlich wissen, dass  , folgt rekursiv   für alle  . Insbesondere gilt also  . Betrachten wir nun die Gleichungen mit den Koeffizienten vor den  , stellen wir jedoch fest, dass   gelten muss. Denn der Koeffizient vor   in der Ableitung von   ist gleich  .

Nun haben wir ein Problem. Egal, welches Polynom   wir wählen, wir bekommen nie eine Lösung unseres Problems. Daher müssen wir unseren Ansatz ein wenig modifizieren. Wenn der Grad des Polynoms   größer wird, scheint unsere Annäherung immer besser zu werden. Es gilt nämlich  . Also ist der neue Ansatz

 

Wir kümmern uns zunächst nicht darum, ob diese Funktion überhaupt wohldefiniert ist, d.h., ob die Reihe   für jedes   konvergiert. Wir setzen nun für alle   wie oben  . Damit haben wir  .

Als nächstes überprüfen wir, ob unsere Anforderungen von der Funktion wirklich erfüllt werden. Es gilt  . Wir nehmen nun an, dass diese Funktion differenzierbar ist und die Ableitung analog zur Ableitung von Polynomen berechnet werden kann. Das müsste man natürlich noch beweisen. Dann gilt für alle  

 
 
Annäherung der Exponentialfunktion durch die  -te Partialsumme der Reihendarstellung

Definition (Exponentialfunktion)

Wir definieren die Exponentialfunktion   durch

 

Diese Definition können wir auf die komplexen Zahlen ausweiten:

Definition (Exponentialfunktion)

Wir definieren die Exponentialfunktion   durch

 

Wir zeigen nun, dass die Exponentialfunktion wohldefiniert ist, d.h. für jedes   ist die Reihe   konvergent.

Beweis (Wohldefiniertheit der Exponentialfunktion)

Sei  .

Fall 1:  

Es gilt

 

Fall 2:  

Dazu wenden wir das Quotientenkriterium an. Wir schreiben   für alle  . Also:  . Es gilt

 

Also konvergiert die Reihe nach dem Quotientenkriterium.

Folgendarstellung Bearbeiten

Historisch wurde die Exponentialfunktion auf eine andere Art und Weise entdeckt. Jakob Bernoulli untersuchte die Zins- und Zinseszinsrechnung einer Bank: Ein Kunde geht in eine Bank und zahlt einen Betrag von einem Euro auf ein Konto ein. Die Bank gewährt ihm eine jährliche Verzinsung von  . Damit erhält der Kunde nach dem ersten Jahr einen Betrag von   zurück. Der eingezahlte Betrag verdoppelt sich also jedes Jahr.

Nun hat die Bank aber ein weiteres Angebot, nämlich eine halbjährliche Verzinsung um jeweils  . Ist dieses Angebot besser für den Kunden?

Nach den ersten 6 Monaten steht der Kontostand bei   und nach einem Jahr dann bei  . Der Kunde verdient also mehr als beim ersten Angebot. Jedes Jahr wächst der Kontostand auf das  -fache!

Genauso können wir weitermachen: Bei einer monatlichen Verzinsung mit dem Faktor   erhält der Kunde  .

Bei einer täglichen Verzinsung wäre der Wachstumsfaktor gleich  .

Oder falls sogar jede Sekunde die Zinsen ausgezahlt würden:  .

Die Frage drängt sich auf, welcher Wachstumsfaktor bei einer kontinuierlichen Verzinsung auftritt. Dazu betrachten wir den Grenzwert

 

Das Ergebnis dieses Grenzwerts liefert genau die Eulersche Zahl  .

Ein jährlicher Zinssatz von   ist jedoch unüblich, besonders in der heutigen Zeit. Uns hindert nichts daran, unsere Überlegungen auf einen beliebigen Zinssatz   zu übertragen (bisher war  ). Teilt man die Auszahlung der Zinsen auf   gleich große Zeiträume auf, so wächst das Guthaben bei jeder Verzinsung um den Faktor  . Nach einem Jahr ist der Kontostand demnach auf das  -fache angestiegen. Für eine kontinuierliche Verzinsung untersuchen wir den Grenzwert

 

Es stellt sich heraus, dass dieser Grenzwert für alle   existiert. Er liefert gerade den Wert der Exponentialfunktion an der Stelle  . So erhalten wir folgende Definition:

 
Annäherung der Exponentialfunktion durch  

Definition (Folgendarstellung der Exponentialfunktion)

Die Exponentialfunktion ist definiert als

 

Wir können diese Definition auf komplexe Zahlen ausweiten, auch wenn die Vorstellung von imaginärem Zinssatz nicht realistisch ist.

Definition (Folgendarstellung der Exponentialfunktion)

Die Exponentialfunktion ist definiert als

 

Diese Darstellung ist äquivalent zur oberen Definition durch die Reihendarstellung, was wir im Folgenden noch beweisen werden.

Äquivalenz von Reihen- und Folgendarstellung Bearbeiten

In den letzten beiden Absätzen haben wir die Reihen- und die Folgendarstellung der Exponentialfunktion kennengelernt. Nun zeigen wir, dass beide Definitionen äquivalent sind.

Satz (Äquivalenz der Reihen- und Folgendarstellung)

Für alle   gilt

 

Insbesondere existiert der Grenzwert aus der Folgendarstellung für alle  .

Beweis (Äquivalenz der Reihen- und Folgendarstellung)

Wir schreiben   für  . Für alle   gilt

 

Es gilt

 

Somit erhalten wir

 

Daraus ergibt sich

 

Es folgt schließlich