Ableitungsregeln: Kettenregel, Quotientenregel, Produktregel, Summenregel, Faktorregel – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

Wir haben im letzten Kapitel die Ableitungsfunktion einer differenzierbaren Funktion folgendermaßen definiert: . Das ist jedoch oft eine sehr umständliche Art, die Ableitungsfunktion einer konkret gegebenen Funktion zu ermitteln. Nimm zum Beispiel die Funktion mit . Zur Berechnung ihrer Ableitung müssten wir für jedes bestimmen.

Idealerweise finden wir eine Zuordnungsfunktion für die Ableitungsfunktion, mit der wir diese direkt berechnen können und uns den Weg über den Differentialquotienten sparen. Das Schöne ist, dass es Ableitungsgesetze gibt, mit denen eine zusammengesetzte Funktion auf Ableitungen ihrer Basisfunktionen zurückgeführt wird.

Übersichtstabelle der Ableitungsregeln Bearbeiten

Seien   und   differenzierbare Funktionen, so dass die Kompositionen   mit  ,  ,  ,   und   jeweils definiert und differenzierbar sind. Dann gelten die folgenden Ableitungsregeln:

Name Regel
Faktorregel  
Summen- / Differenzenregel  
Produktregel  
Quotientenregel  
Reziprokenregel  
Kettenregel  
Spezialfälle der Kettenregel  
Inversenregel  

Merkregeln Bearbeiten

Folgende Regeln erleichtern das Merken der einzelnen Ableitungsregeln:

  • Faktorregel  : Die Ableitung ist linear und kann damit direkt in ein Produkt einer Funktion mit einer Zahl reingezogen werden.
  • Summen- und Differenzenregel  : Die Ableitung ist linear und kann damit direkt in die Summe zweier Funktionen reingezogen werden.
  • Produktregel  : „Erste Funktion ableiten, zweite bleibt stehen plus zweite Funktion ableiten, erste bleibt stehen“
  • Quotientenregel  : NAZ-ZAN ist die Merkregel für den Zähler („Nenner Ableitung Zähler minus Zähler Ableitung Nenner“)
  • Reziprokenregel  : Dies ist der Spezialfall der Quotientenregel mit   (Zähler ist konstant  ).
  • Kettenregel  : „Ableitung äußere Funktion mal Ableitung innere Funktion“. Vorsicht, in die Ableitung der äußeren Funktion muss die innere Funktion eingesetzt werden. Auch darf das Nachdifferenzieren der inneren Funktion nicht vergessen werden.

Faktorregel Bearbeiten

Satz (Faktorprodukt)

Sei   eine differenzierbare Funktion mit der Ableitung   und sei   ein Skalar. Dann ist   differenzierbar und für die Ableitung gilt

 

Beweis (Faktorprodukt)

Wir müssen zeigen, dass   existiert und gleich   ist. Für   gilt

 

Also ist  .

Summenregel Bearbeiten

Satz Bearbeiten

Nun wollen wir allgemein die Ableitung einer Funktion   bestimmen, wobei   und   differenzierbare Funktionen sind.

Satz (Summenregel)

Seien   mit   zwei differenzierbare Funktionen mit Ableitungen   und  . Dann ist   differenzierbar und es gilt für alle  :

 

Beweis (Summenregel)

Wir müssen zeigen, dass   existiert. Wir sehen

 

Also folgt  .

Beispiel Bearbeiten

Beispiel (Ableitung der Summe von Geraden)

Wir betrachten zwei Geraden   mit   und  . Dann ist

 

Die Ableitung einer Funktion an der Stelle   ist die Steigung der Funktion an dieser Stelle. Die Steigung der Geraden   und   ist   bzw.  . Also ist   und   für alle  .

Für die Gerade   gilt ebenso, dass   ihre Steigung ist. So folgt  . Die Summenregel stimmt also bei Geraden.

Differenzenregel Bearbeiten

Aufgabe (Differenzenregel)

Zeige, analog zur Summenregel, die Differenzenregel für Ableitungen: Seien   mit   zwei differenzierbare Funktionen mit Ableitungen   und  . Dann ist auch   differenzierbar. Es gilt für alle  :

 

Beweis (Differenzenregel)

Für   gilt

 

Produktregel Bearbeiten

Satz (Produktregel)

Seien   und   mit   differenzierbare Funktionen mit bekannten Ableitungsfunktionen  . Dann ist die Funktion   differenzierbar und für ihre Ableitungsfunktion gilt

 

Beweis (Produktregel)

Sei  . Dann gilt:

 

Um zu begründen, dass man die Grenzwerte auseinanderziehen darf, muss man die Rechnung von hinten nach vorne betrachten. Da bei der Anwendung der Grenzwertsätze jeweils alle Subausdrücke konvergierten, können die Grenzwertsätze benutzt werden.

Alternativer Beweis (Produktregel)

Wir betrachten eine beliebige Stelle  . Da   und   nach Voraussetzung in   differenzierbar sind, gibt es Funktionen  , so dass für alle   gilt

 

Außerdem gilt   und  . Für alle   gilt also:

 

Nun definieren wir die Funktion   durch

 

Also gilt für alle  :

 

Wenn wir zeigen können, dass  , dann ist   in   differenzierbar und  . Hierzu reicht es zu zeigen, dass für alle Summanden vom Term   stärker als   gegen   konvergieren:

 

Quotientenregel Bearbeiten

Satz (Quotientenregel)

Sei   zwei differenzierbare Funktionen mit   für alle  . Dann ist die Abbildung  , definiert durch  , differenzierbar und für die Ableitungsfunktion   gilt

 

Dabei ist  . Insbesondere gilt die Reziprokenregel:

 

Beweis (Quotientenregel)

Um die Aussage zu beweisen, zeigen wir zuerst, dass   ist. Dabei sei   eine differenzierbare Funktion mit   für alle  . Sei nun  . Wir betrachten  . Es gilt

 

Am Ende haben wir gesehen, dass alle Subausdrücke bei den jeweiligen Grenzwertsätzen konvergieren. Deswegen dürfen die Grenzwertsätze benutzen. Nun leiten wir daraus die Quotientenregel für   her. Dabei ist   und   für alle  . Die Quotientenregel leitet sich nun aus der Produktregel her:

 

Kettenregel Bearbeiten

Satz (Kettenregel)

Seien   und   zwei reellwertige und differenzierbare Funktionen mit   und  . Dann gilt für die Ableitungsfunktion von  :

 

Wie kommt man auf den Beweis? (Kettenregel)

Wir könnten zunächst versuchen, den Beweis direkt über den Differentialquotienten zu beweisen:

 

Diese Rechenschritte geben die Grundidee hinter einen Beweis der Kettenregel wider. Jedoch ist diese Argumentation aus mehreren Gründen problematisch bzw. falsch:

  • Wir erweitern mit  . Was passiert jedoch, wenn   ist? Dann haben wir mit Null erweitert, was nicht erlaubt ist. Der gefundene Grenzwert muss also nicht mehr stimmen.
  • Im letzten Schritt behaupten wir, dass   wäre. Wir wissen lediglich, dass   ist, können aber nichts darüber sagen, wie sich dieser Grenzwert beim Übergang   anstelle von   verhält.

Obige Argumentation stellt also keinen validen Beweis dar! Um den Beweis zu retten, gehen wir den Umweg über eine Hilfsfunktion, die an der Stelle   wohldefiniert ist und so dass wir den Weg über die Erweiterung mit   vermeiden.

Beweis (Kettenregel)

Sei  . Wir definieren folgende Hilfsfunktion:

 

Dann gilt für alle  :

 

Weiter ist   stetig. Als Verkettung stetiger Funktionen ist   nämlich in allen   stetig.   ist auch in   stetig, denn wegen der Differenzierbarkeit von   gilt

 

Also:

 

Alternativer Beweis (Kettenregel)

Sei  . Da   und   differenzierbar sind, gibt es Funktionen   und  , so dass für alle   und alle   gilt

 

Zudem ist   sowie  . Also:

 

Wir definieren nun

 

Um zu zeigen, dass   an der Stelle   mit   differenzierbar ist, müssen wir noch zeigen, dass   gilt. Es ist:

 

Um diesen Grenzwert zu berechnen, betrachten wir eine beliebige Folge   in  , die gegen   konvergiert. Für alle   mit   gilt wegen   auch  .

Falls es nur endlich viele   mit   gibt, so folgt  . Betrachten wir also den Fall, dass für unendlich viele   gilt, dass   ist. Sei   die Teilfolge der Folgenglieder von   mit  . Es gilt

 

Damit folgt insgesamt

 

Hinweis

Mit Hilfe der Kettenregel lässt sich die Reziprokenregel   beweisen. Setzen wir nämlich die „äußere Funktion“  , so gilt  . Damit folgt dann

 

Damit hatten wir oben unter Verwendung der Produktregel die Quotientenregel hergeleitet. Die Quotientenregel lässt sich also mit der Ketten- und der Produktregel zeigen. Ebenso können wir die Produktregel mit der Kettenregel beweisen. Zur Übung empfehlem wir unsere Übungsaufgabe dazu.