Ableitung der Umkehrfunktion – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

Im folgenden Artikel werden wir untersuchen, unter welchen Voraussetzungen die Umkehrfunktion einer bijektiven Funktion in einem Punkt differenzierbar ist. Außerdem werden wir eine Formel herleiten, mit der wir die Ableitung der Umkehrfunktion explizit bestimmen können. Das praktische an dieser ist, dass wir damit die Ableitung an bestimmten Punkten bestimmen können, selbst wenn wir die Umkehrfunktion nicht explizit kennen.

Motivation Bearbeiten

Betrachten wir zunächst als Beispiel eine lineare Funktion. Für diese ist es sehr einfach, die Ableitung der Umkehrfunktion zu bestimmen. Nicht-konstante lineare Funktionen sind nämlich auf ganz   bijektiv und damit umkehrbar. In diesem Fall können wir die Umkehrfunktion explizit berechnen und danach ableiten. Konkret wählen wir   mit  . Die Umkehrfunktion lautet

 

  ist auf ganz   differenzierbar und   für alle  .

Betrachten wir als nächstes die Funktion  . Hier müssen wir zunächst aufpassen, da sie nicht auf ganz   injektiv, und damit nicht umkehrbar ist. Schränken wir den Definitions- und Wertebereich jedoch auf   ein, so ist   bijektiv. Die Umkehrfunktion ist die Quadratwurzelfunktion

 

Bei der Differenzierbarkeit müssen wir eine weitere Sache beachten:   ist in   nicht differenzierbar. Dies können wir mit Hilfe des Differentialquotienten, oder auch durch die folgende Überlegung zeigen:

Da die Wurzelfunktion   die Umkehrfunktion der Quadratfunktion   ist, gilt  . In null gilt damit insbesondere

 

Wäre nun   in null differenzierbar, würde mit der Kettenregel

 

gelten. Also kann   in null nicht differenzierbar sein. Auf   ist   hingegen differenzierbar, und es gilt

 

Dieses Beispiel zeigt also, dass es vorkommen kann, dass   nicht auf dem gesamten Definitionsbereich differenzierbar ist, obwohl   überall differenzierbar war. Konkret liegt das daran, dass   ist, wie wir später sehen werden.

In den beiden Beispielen war es also relativ einfach die Ableitung der Umkehrfunktion zu bestimmen. Wie sieht es aber mit komplizierteren Funktionen, zum Beispiel   als Umkehrfunktion von   aus? Hier können wir nicht so einfach die Ableitung der Umkehrfunktion berechnen. Oder was passiert, wenn sich eine bijektive Funktion gar nicht explizit umkehren lässt? Gibt es dann dennoch eine Möglichkeit die Ableitung der Umkehrfunktion zu bestimmen? In diesen Fällen wäre es natürlich gut, wenn wir eine allgemeine Formel hätten, mit der wir die Ableitung von   aus der Ableitung von   bestimmen könnten. Wenn wir uns die Ableitung aus dem zweiten Beispiel nochmal ansehen, dann fällt Folgendes auf:

 

Da   für alle   und   für alle   ist. Sehen wir uns das erste Beispiel nochmal an, so gilt dort ebenfalls

 

Die Frage ist nun, ob dies Zufall ist, oder ob diese Formel unter gewissen Voraussetzungen auch allgemein gilt? Setzen wir voraus, dass   in   und   in   differenzierbar ist, dann können wir uns die Formel allgemein herleiten. Dazu verwenden wir denselben Ansatz, den wir oben für die Nicht-Differenzierbarkeit der Quadratwurzelfunktion in null verwendet haben: Für alle   gilt

 

Leiten wir nun auf beiden Seiten an der Stelle   ab, so gilt nach der Kettenregel

 

Hierbei haben wir verwendet, dass   in   und   in   differenzierbar sind. Nun dividieren wir noch auf beiden Seiten durch   (geht natürlich nur, wenn der Ausdruck ungleich null ist), und erhalten

 

beziehungsweise

 

Die Formel gilt also unter diesen Voraussetzungen auch allgemein. Die Frage ist nun noch, unter welchen Bedingungen an   die Ableitung von   sicher existiert.

  • Zum einen muss die   existieren. Dies ist genau dann der Fall, wenn   bijektiv ist, was wiederum genau dann der Fall ist, wenn   surjektiv und streng monoton ist.
  • Wie wir oben gesehen haben muss   im Punkt   differenzierbar sein mit  .
  • Wir werden sehen, dass wir noch eine weitere Voraussetzung benötigen, nämlich dass   in   stetig ist. Ist der Definitionsbereich   von   ein Intervall, so ist dies nach dem Satz über die Stetigkeit der Umkehrfunktion immer erfüllt.

Unter genau diesen Voraussetzungen werden wir einen Satz formulieren und beweisen. Anschließend untersuchen wir noch ein paar Beispiele.

Satz über die Ableitung der Umkehrfunktion Bearbeiten

Satz und Beweis Bearbeiten

Satz (Ableitung der Umkehrfunktion)

Seien   und   ein Intervall. Weiter sei   eine surjektive, streng monotone Funktion, die in   differenzierbar ist mit  . Dann hat   eine Umkehrfunktion  , die in   differenzierbar ist, und es gilt:

 

Anmerkungen:

  • Die Surjektivität von   ist gleichwertig mit  .
  • Ist   auf ganz   differenzierbar, so lässt sich nach dem Monotoniekriterium die strenge Monotonie am einfachsten duch   beziehungsweise   überprüfen.
  • Wie wir an der Ableitung der Quadratwurzelfunktion   in   oben gesehen haben, darf die Voraussetzung   auf keinen Fall weggelassen werden.
  • Der Satz gilt auch noch etwas allgemeiner, falls   kein Intervall ist. Dann muss aber zusätzlich gefordert werden, dass   in   stetig ist. Außerdem müssen   beziehungsweise   Häufungspunkte von   beziehungsweise   sein.
  • Ist   zusätzlich noch stetig, so folgt, nach dem Satz von der Stetigkeit der Umkehrfunktion, dass   ein Intervall ist.

Zusammenfassung des Beweises (Ableitung der Umkehrfunktion)

Zunächst begründen wir, dass   existiert. Anschließend folgern wir mit Hilfe des Satzes über die Stetigkeit der Umkehrfunktion, dass   stetig ist. Danach zeigen wir, dass der Differentialquotient   existiert, und den Wert   hat. Das heißt, dass für jede Folge   mit   gilt  .

Beweis (Ableitung der Umkehrfunktion)

  ist surjektiv und streng monoton, also bijektiv. Also existiert die Umkehrfunktion  . Da wir angenommen haben, dass   ein Intervall ist folgt, nach dem Satz über die Stetigkeit der Umkehrfunktion, dass   stetig auf   ist. Es gilt damit   mit  . Sei nun   eine Folge in   mit  , dann gilt

 

Also ist   in   differenzierbar und es gilt  .

Alternativer Beweis (Ableitung der Umkehrfunktion)

Eine weitere Beweismöglichkeit benutzt eine äquivalente Charakterisierung der Ableitung:   ist in   genau dann differenzierbar, wenn es eine in   stetige Funktion   gibt mit

 

Ist dies der Fall, so gilt  . Da weiter nach Voraussetzung   und   streng monoton ist, folgt   für alle  . Setzen wir nun   und  , so lautet die obige Gleichung

 

Dies ist nun äquivalent zu

 

Da   und   in   stetig sind, ist auch   stetig in  . Benutzen wir nun nochmal die äquivalente Cahrakterisierung der Stetigkeit, so folgt aus der letzten Gleichung, dass   differenzierbar ist in   mit

 

Merkregel und graphische Veranschaulichung zur Formel Bearbeiten

 
Graph von   mit Ableitung  
 
Graph von   mit Ableitung  

Mit Hilfe der Leibnizschen Notation für die Ableitung lässt sich die Formel der Ableitung der Umkehrfunktion durch einen einfachen Bruchrechentrick veranschaulichen: Für   und   gilt

 

Auch graphisch können wir die Formel klar machen: Ist die Funktion   im Punkt   differenzierbar, so entspricht   der Steigung der Tangente an dem Graphen in  . Es gilt daher

 

Den Graphen der Umkehrfunktion erthalten wir nun in zwei Schritten:

  1. Zunächst müssen wir den Graphen von   um   (im bzw. gegen den Uhrzeigersinn) drehen. Der daraus entstandene Graph hat im Punkt   die Steigung  , da die Tangente in diesem Punkt senkrecht auf der ursprünglichen Tangente steht.
  2. Anschließend müssen wir den Graphen noch (horizontal bzw. vertikal) spiegeln. Dabei dreht sich das Vorzeichen der Tangentensteigung um.

Insgesamt erhalten wir

 

Umkehrung des Satzes und Erweiterung auf gesamten Definitionsbereich Bearbeiten

Es gilt auch die folgende Umkehrung des Satzes:

Satz (Umkehrung des Satzes von der Ableitung der Umkehrfunktion)

Seien   und   ein Intervall. Weiter sei   eine surjektive, streng monotone Funktion, die in   differenzierbar ist. Ist weiter die Umkehrfunktion   in   differenzierbar, dann gilt:   und

 

Beweis (Umkehrung des Satzes von der Ableitung der Umkehrfunktion)

Der Beweis funktioniert mit dem Trick aus der Einleitung. Es gilt für alle   die Gleichung

 

Unter den Voraussetzungen ist die linke Seite mit der Kettenregel in   differenzierbar mit

 

Wegen der Nullteilerfreiheit von   muss daher   sein, und es folgt

 

Fordern wir nun zusätzlich im ursprünglichen Satz, dass   auf ganz   differenzierbar ist mit  . Dann können wir die Ableitungsfunktion von   auf ganz   bestimmen:

Satz (Ableitungsfunktion der Umkehrfunktion)

Seien   und   ein Intervall. Weiter sei   eine surjektive differenzierbare, streng monotone Funktion, und es gelte   für alle  . Dann hat   eine differenzierbare Umkehrfunktion, und es gilt:

 

Beispiele Bearbeiten

Beispiel (lineare Funktionen)

Sei  ,   und

 

eine lineare Funktion. Dann ist   surjektiv und streng monoton steigend, falls  , sowie streng monoton fallend, falls  . Außerdem ist   auf ganz   differenzierbar mit der Ableitung  . Nach dem Satz über die Ableitung der Umkehrfunktion gilt somit für alle  

 

Dies hätten wir auch, wie oben, direkt nachrechnen können.

Beispiel (Wurzelfunktionen)

Sei für  

 

Dann ist   differenzierbar und hat die Ableitung  . Ist also monoton steigend. Außerdem ist   surjektiv. Die Umkehrfunktion ist die  -te Wurzelfunktion

 

Für jedes   folgt dann Mithilfe des Satzes über die Ableitung der Umkehrfunktion

 .

Ist   ungerade, so gilt die Formel für alle  .

Beispiel (Logarithmusfunktion)

Betrachten wir noch die Exponentialfunktion

 

Dann ist  . Also ist die Funktion differenzierbar, und wegen   streng monoton steigend. Außerdem ist   surjektiv. Die Umkehrfunktion ist die (natürliche) Logarithmusfunktion

 

Aus unserem Satz folgt nun für jedes  :

 

Übungsaufgaben Bearbeiten

Aufgabe (Ableitung der Umkehrfunktion)

Zeigen Sie, dass die Funktion

 

eine differenzierbare Umkehrfunktion   besitzt. Bestimmen Sie den Definitionsbereich von   und berechnen Sie  .

Lösung (Ableitung der Umkehrfunktion)

Wir müssen sauber nacheinander alle Voraussetzungen des Satzes über die Ableitung der Umkehrfunktion überprüfen.

Beweisschritt:   ist surjektiv

  ist stetig auf   als Komposition stetiger Funktionen. Außerdem gilt

 

Nach dem Zwischenwertsatz gibt es daher zu jedem   ein   mit  . Damit ist   surjektiv.

Beweisschritt:   ist streng monoton

  ist auf   differenzierbar als Komposition differenzierbarer Funktionen, und

 

für alle  . Nach dem Monotoniekriterium ist   damit streng monoton fallend, und daher injektiv auf  .

Also ist   bijektiv, und hat somit eine Umkehrabbildung  . Der Definitionsbereich   entspricht dem Wertebereich von  .

Beweisschritt:   ist differenzierbar auf   und   für alle  

Die Differenzierbarkeit wurde in Schritt 2 schon begründet. Wegen   gilt auch   für alle  .

Nach dem Satz über die Ableitung der Umkehrfunktion ist diese auf ganz   differenzierbar.

Beweisschritt: Berechnung von  

Es gilt  . Daher ist  , und mit der Formel für die Ableitung der Umkehrfunktion ist

 

Aufgabe (Zweite Ableitung der Umkehrfunktion)

Sei   mit  , und   eine zweimal differenzierbare bijektive Funktion mit  . Begründe, dass die Umkehrfunktion   zweimal differenzierbar ist und drücken Sie die zweite Ableitung von   an der Stelle   durch Ableitungen von   an geeigneter Stelle aus.

Als Anwendung: Berechne für das Polynom   die Ableitungen   und  .

Lösung (Zweite Ableitung der Umkehrfunktion)

Beweisschritt: Existenz und Bestimmung der ersten Ableitung von  

  ist ein Intervall und   ist bijektiv. Wegen   gibt es ein   mit  . Da   ist  . Nach dem Satz über die Ableitung der Umkehrfunktion ist   in   differenzierbar mit

 

Beweisschritt: Existenz und Bestimmung der zweiten Ableitung von  

  ist zweimal differenzierbar. Dies bedeutet, dass   differenzierbar ist. Nach der Quotienten- und Kettenregel ist damit   in   ebenfalls differenzierbar und es gilt

 

Beweisschritt: Berechnung der Ableitungen   und  

  ist auf   differenzierbar mit  . Also ist   streng monoton steigend und damit injektiv. Wegen   ist nach dem Zwischenwertsatz   auch surjektiv. Also insgesamt bijektiv. Mit   folgt nun aus dem Satz über die Ableitung der Umkehrfunktion

 

Weiter ist   zweimal differenzierbar mit  . Mit der in Schritt 2 bewiesenen Formel gilt daher