Benutzer:Jürgen-Michael Glubrecht/Mengen und Klassen


Mengen und Klassen Bearbeiten

Du wirst dich vielleicht schon gewundert haben, warum wir die Cantorsche Mengendefinition „naiv“ genannt haben. Auf den ersten Blick sieht die Definition gut aus und bisher sind keine Probleme aufgetreten. Was sollte also schiefgehen?

Russells Antinomie Bearbeiten

Ein Beispiel ist Russells Antinomie, die Bertrand Russell 1903 publizierte[1]:

Beispiel (Russellsche Antinomie)

  sei die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Dann ist   keine sinnvolle Menge.

Formalisiert sieht die Definition von   so aus:

Definition (Russellsche Klasse)

 

Frage: Wieso definiert   keine sinnvolle Menge?

Stelle dir vor, es gäbe eine Menge  , die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Ist dann  ?

Wäre   ein Element von sich selbst, dann muss   die definierende Bedingung  , erfüllen, also ist   doch kein Element von sich selbst   ↯.

Ist  , dann ist nach Definition von   gerade     ↯.

Wir erhalten also sowohl für   als auch für   einen Widerspruch. Damit kann   keine sinnvolle Menge sein.


Bereits Cantor kannte ähnliche Antinomien. Er glaubte aber nicht, dass seine Definition geändert werden müsse[2]. Er unterteilte hierzu Mengen in konsistente Vielheiten, bei denen eine Zusammenfassung zu einem Ganzen möglich ist und in inkonsistente Vielheiten, bei denen dies nicht der Fall ist. Da in Cantors Mengendefinition ausdrücklich von „Zusammenfassungen zu einem Ganzen“ die Rede ist, werden laut Cantor Mengenausdrücke ausgeschlossen, die nicht sinnvoll eine Menge definieren.

Bertrand Russell kleidete die nach ihm benannte Antinomie später in folgende Form:

Der Dorfbarbier ist derjenige, der alle Männer im Dorf rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Frage: Rasiert der Dorfbarbier sich selbst?

Antwort: Der Dorfbarbier ist eine Frau! Und diese Antwort hilft uns hier aus dem Dilemma. Völlig egal ob sie sich nun selbst rasiert oder nicht, entscheidend ist, dass sie kein Mann des Dorfs ist.

Formal lässt sich das so darstellen:

(1)   Allgemein gilt:    
(2)   Setzen wir   für   ein, folgt:    
(3)   Widerspruch:   ↯

Und nun sehen wir genau, wo das Problem entsteht: wir dürfen   nicht einfach für die Variable   einsetzen. Das ist nur dann erlaubt, wenn   zum Variablenbereich von   gehört.

Definition (Variablenbereich, Allklasse)

 

Mit dieser Definition sieht die korrekte Argumentation dann so aus:

(1)   Allgemein gilt:    
(2)   Setzen wir   für   ein, folgt:    
(3)   Logische Folgerung für  :    

Die Russelsche Klasse   kann also nicht zum Variablenbereich   gehören!

Russell entwickelte zur Lösung des Problems von 1903 bis 1908 eine Typentheorie, in der die Klassenbildung stark eingeschränkt wurde. In der Mathematik durchgesetzt hat sich ein freizügiger Gebrauch von  . Das ist möglich, wenn zwischen Klassen und Mengen unterschieden wird.

Klassen Bearbeiten

Die Russellsche Antinomie lehrt, dass die Operation   aus dem Variablenbereich hinausführen kann! Das ist beispielsweise bei der Subtraktion auf den natürlichen Zahlen genauso. Sind   und   zwei natürliche Zahlen, so ist die Differenz   keineswegs immer eine natürliche Zahl. Vielmehr liefert die Differenz neue Objekte, nämlich die negativen ganzen Zahlen.

Da von Mengen erwartet wird, dass sie zum Variablenbereich gehören, werden die mit   erzeugten Objekte Klassen genannt.

Hinweis

Ist   eine Aussageform, so ist   eine Klasse.

Der Zusammenhang zwischen der Klassenbildung   und der Elementrelation   wird Abstraktionsprinzip genannt. Es wurde bereits im Kapitel Mengenschreibweisen beschrieben:

Abstraktionsprinzip

 

Es definiert die Klassenbildung, wie wir jetzt – vorsichtig geworden! – anstelle von Mengenbildung sagen.

Mengen sind spezielle Klassen und alles, was wir bisher über Mengen gesagt haben, gilt auch für Klassen. Klassen, die keine Mengen sind, werden echte Klassen genannt. Russels Antinomie lehrt also, dass es echte Klassen gibt. Mit der Unterscheidung zwischen Klassen und Mengen konnten wir die Russellsche Antinomie auflösen. Aber was macht uns sicher, dass nicht irgendwelche Widersprüche an anderer Stelle auftreten?

 
Minimales Modell für die Klassen

Dazu betrachten wir ein ganz einfaches Modell der Klassenbildung   und der Elementrelation  . Der Variablenereich   hat nur eine einziges Element  . Es gibt ein weiteres Objekt  , dass ausserhalb von   liegt. Weitere Objekte gibt es nicht. Der einelementige Bereich   hat genau zwei Teilklassen: die leere Klasse   und die Klasse  . Für die Elementrelation   gibt es zwei Möglichkeiten:

Verständnisaufgabe: Welche Beziehungen mit   und   gelten in den beiden Fällen zwischen  ,  ,  ,   und  ?

  1.  
  2.  

Lösungen:

  1. Ist       so ist   a =   :=     und     =   =   =  .
  2. Ist       so ist   a =   =     und     =   =  .

Die beiden Modelle für   zeigen, dass wir von keiner Klasse erwarten können, dass sie eine Menge ist, das heisst, dass sie im Varablenbereich liegt. Viele Teile der Mathematik kommen mit der hier vorgestellten naiven Mengenlehre (die genauer Klassenlehre heissen sollte, wie wir jetzt wissen) aus. Doch für viele andere Teile der Mathematik werden Mengen benötigt oder sind zumindest hilfreich. Die Existenz von Mengen wird durch Axiome gewährleistet, die sicherstellen, dass bestimmte Klassen Mengen sind. Solche Axiome werden wir im nächsten Abschnitt vorstellen.

Zuvor wollen wir die formale Sprache genauer festlegen, die wir hier verwenden. Das ist deshalb wichtig, weil die Klassenbildung   davon abhängt, welche Aussageformen   wir zur Verfügung haben.

Wir legen eine Sprache zu Grunde, die folgendes enthält:

  • die Variablen  
  • die Junktoren  
  • die Quantoren  
  • die Klassenbildung  
  • die Relationen  

Aussagenformen bezeichnen wir mit   und Klassen mit  .
Die Russelsche Klasse  , die Allklasse   und die leere Klasse   haben wir bereits definiert. In der Literatur werden Sprachen, die die Klassenbildung erlauben, Klassenlogik genannt.

Hinweis

Wir nennen die Klasse   dann eine Menge, wenn sie im Variblenbereich, also in der Allklasse liegt:  .

Axiomatische Mengenlehre Bearbeiten

Es wurden verschiedene axiomatische Mengenlehren entwickelt. Die aktuell gebräuchlichste ist die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre ZFC. Sie ist nach den beiden deutschen Mathematikern Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel benannt, die sie von 1908 bis 1922 entwickelten. Das C in der Bezeichnung steht für "Axiom of Choice" (Auswahlaxiom). Die Axiome von ZFC sorgen dafür, dass viele Klassen Mengen sind. So viele, dass sie für die Mathematik ausreichen.

Das erste Axiom gilt bereits für Klassen:

Extensionalität

 
Das besagt, dass zwei Klassen – und damit auch zwei Mengen! – gleich sind, wenn sie dieselben Elemente haben. Die Extensionalität haben wir bereits im 1. Kapitel der Mengenlehre kennen gelernt. Die umgekehrte Richtung ( ) gilt auch, das ergibt sich aus den Eigenschaften von  .

Folgerung:   sei eine beliebige Klasse. Dann gilt:  

Wir setzen   für  . Dann folgt aus dem Abstraktionsprinzip  . Mit der Extensionalität erhalten wir  . ✔

Verständnisfrage:   sei eine echte Klasse. Dann gilt:  

Nach Definition der Einerklasse gilt   und die Elemente von Klassen sind Mengen.   ist aber eine echte Klasse, es gilt also  . ✔

Um die nächsten Axiome zu verstehen, hilft die Vorstellung, dass Mengen kleine Klassen sind.

Leere Menge

 
Die leere Klasse ist eine Menge.

Paarmengen

 
Alle Klassen mit zwei Elementen sind Mengen. Da wir ja   wählen können, sind auch die Klassen mit einem Element Mengen:  .

Wir definieren die Vereinigung von   so:  . Die Vereinigung sammelt also die Elemente der Elemente von  . Die Vereinigung einer Zweierklasse ist gerade die Vereinigung der beiden Elemente:  

Vereinigung

 
Die Vereinigung einer Menge ist wieder eine Menge. Insbesondere ist   eine Menge.

Aufgabe: Zeige mit Hilfe des Axiom für Paarmengen:  .

Für jede Klasse gilt  , also auch  .

Sei nun  . Aus dem Axiom für Paarmengen folgt  , also gibt es eine Menge aus  , nämlich   mit  . Das zeigt  .

Beides zusammen ergibt  

Verständnisfrage: Es gilt  . Werden für den Beweis Axiome für Mengen benötigt?

Nein, denn die leere Klasse hat keine Elemente, also   auch nicht. ✔

Aufgabe: Zeige:  .

Die Einermengen  ,  , usw. sind alle in  . Dann bilden wir die Vereinigung  , anschliessend   usw. ✔

Der Durchschnitt von   wird so definiert:  . Hier werden die Elemente gesammelt, die in allen Elementen von   legen. Der Durchschnitt einer Zweierklasse ist der Durchschnitt seiner beiden Elemente:  

Verständnisfrage: Es gilt  . Warum?

Dazu müssen wir uns die Definition von   genau anschauen:   steht für  . Die Prämisse von   ist immer falsch, daher ist die Implikation immer wahr, vgl. Wahrheitstabelle von von  . Daher erfüllen alle   die definierende Bedingung für  . ✔

Aufgabe: Zeige:  .

Nach dem Axiom über die leere Menge gilt  . Daher müsen alle Elemente von   in   liegen. Das gilt aber für kein Element. Also ist   leer. ✔

Potenzmenge

 
Die Potenzmenge einer Menge ist ebenfalls eine Menge. Zur Erinnerung:  .

Aussonderung

 
Gegeben sei eine Menge  . Dann enthält   nur die Elemente von  , für die   gilt.   ist eine Teilmenge von  

Aufgabe:   sei eine beliebige Klasse. Zeige:

  1.  
  2.  

Lösungen:

  1.   nach Definition von   und   und mit   folgt die Behauptung aus der Aussonderung. ✔
  2. Wegen   gilt ja  . ✔

Verständnisfrage: Es gilt  . Warum?

Ist   gibt es ein   mit  . ✔

Warnung

Um das folgende Axiom zu verstehen, werden Funktionen benötigt! Vgl. dazu das Kapitel Abbildung, Funktion

Ersetzung

 

Wir betrachten zunächst die Prämisse von   und stellen fest:  .

Die Konklusion von   besagt:  

Insgesamt: Ist der Definitionsbereich einer Funktion eine Menge, so ist auch der Wertebereich der Funktion eine Menge.

Definition ( -minimal)

  ist  -minimal in   genau dann, wenn  

Wenn also ein  -minimales Element in   überhaupt Elemente hat, dann liegen sie nicht in  . Das folgende Axiom fordert, dass jede nichtleere Menge  -minimale Elemente hat:

Fundierung

 

Damit werden Folgen wie    ,    ,    ,   usw. ausgeschlossen.

Satz:  

Angenommen es gäbe eine solche Kette. Dann bilden wir die Klasse  .
Es ist   und  . Aber   hat kein  -minimales Element. ↯

Verständnisfrage: Gibt es eine Menge   mit:   ?

Nein. Es gilt ja insbesondere  . Wäre  , so folgte   im Widerspruch zur Fundierung. ↯

Bevor wir das nächste Axiom vorstellen, betrachten wir folgende Reihe von Mengen:

 ,    ,    ,    ,        

Die erste Menge hat 0 Elemente, die nächste 1, die nächste 2, die nächste 3, usw. Für die auf   folgende Menge   sammeln wir alle Elemente von   ein und fügen zusätzlich   selbst dazu:  .

Definition (Nachfolger)

Ist   eine Klasse, dann ist  .

Für eine Menge   ist   ebenfalls eine Menge! Für echte Klassen bringt die Nachfolge nichts:

Verständnisfrage: Es gilt:  . Warum?

Die Einerklasse von   ist leer, wenn   eine echte Klasse ist, denn  .

Mit dieser Nachfolger-Funktion lassen sich die natürlichen Zahlen definieren! Auf diese Idee war 1923 der ungarisch-amerikanische Mathematiker John von Neumann gekommen. Er definierte:

     
         
         
         
         
usw.

Auf diese Weise lässt sich jede einzelne natürliche Zahl definieren. Mit etwas Aufwand[3] – den wir hier nicht darstellen wollen – lässt sich auch die Klasse   aller natürlichen Zahlen definieren. Dazu reichen die bisher vorgestellten Axiome völlig aus. Es lässt sich aber nicht zeigen, dass   eine Menge ist. Dazu benötigen wir ein weiteres Axiom:

Unendlichkeit

 
Es gibt also eine Menge, die   und alle Nachfolger enthält! Solche Klassen heissen induktiv.

Definition (Induktive Klassen)

  ist induktiv    .

Das Unendlichkeits-Axiom besagt also, es gibt eine induktive Menge. Damit lässt sich   wie folgt definieren:

Definition (Natürliche Zahlen)

 .

Satz:  .   Die Klasse der natürlichen Zahlen ist eine Menge.

Es gibt eine induktive Menge   und nach Definition ist   in dieser Menge enthalten. Mit der Aussonderung folgt  . ✔

Die natürlichen Zahlen werden durch die fünf Peano-Axiome beschrieben.

Satz:   erfüllt die Peano-Axiome:

  1.     (0 ist eine natürliche Zahl.)
  2.     (Jede natürliche Zahl hat eine natürliche Zahl als Nachfxolger.)
  3.     (0 ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl.)
  4.     (Natürliche Zahlen mit gleichem Nachfolger sind gleich.)
  5.   sei eine beliebige Klasse:
     
    (Ist 0 aus   und gilt für jede natürliche Zahl, wenn sie in   ist, dann ist auch ihr Nachfolger in  , dann sind alle natürlichen Zahlen in  )

Beweise: Wir zeigen 4. zum Schluss.

  1.   ist in jeder induktiven Menge enthalten, also auch im Durchschnit  . ✔
  2. Sei   nach Voraussetzung. Dann ist   und damit auch   in allen induktiven Mengen enthalten, also auch in  . ✔
  3. Der Nachfolger von x ist nicht leer! ✔
  4. Mit 5. steht das Beweisverfahren durch vollständige Induktion zur Verfügung!
    Wir zeigen zunächst einen Hilfsatz:  . Induktion über  .
    Induktionsanfang: Sei   und  . Dann ist  .
    Induktionsschluss: Gelte nun   und sei  .
    Dann ist   oder  .
    Im erste Fall folgt mit der Induktionsvoraussetzung   und wegen   auch  .
    Im zweiten Fall gilt   und somit ebenfalls  .
    Damit ist der Hilfsatz bewiesen.
    Sei nun   und gelte  .
    Das heisst  .
    Dann gilt   und mit dem Hilfssatz folgt  .
    Ebenso folgt   und somit  .
    Das zeigt  . ✔
  5. Wir konstruieren eine induktive Menge   und zeigen, dass   gilt. Daraus folgt  .
    Sei   und gelten die Voraussetzungen.
    Dann ist   eine Menge und es gilt  .
    Es gilt  , also ist  .
    Sei nun  , also   und  .
    Dann ist   (nach 2.) und   (nach Voraussetzung).
    Daher ist   und somit   induktiv.
    Nach Definition von   gilt daher  . ✔

Aufgabe: Zeige dass jede natürliche Zahl selbst aus natürlichen Zahlen besteht:  

Induktion über  :
Induktionsanfang:  .
Induktionsschluss: Gelte nun  . Dann ist  , denn die Vereinigung zweier Teilmengen von   ist ebenfalls eine Teilmenge von  . ✔

Anmerkung: Das 5. Peano-Axiom wird häufig mit Aussagenformen anstelle von Klassen formuliert:

  sei eine beliebige Aussageform:
 

Wegen   sind beide Formulierungen gleichwertig.

Warnung

Um das letzte Axiom zu verstehen, werden Kenntnisse über Partitionen (Zerlegungen) benötigt! Vgl. dazu das Kapitel Äquivalenzrelation, Funktion

Auswahl

 

Wir lesen dieses Axiom schrittweise:   sei eine beliebige Menge.
Die Prämisse besagt:              

Die Konklusion besagt:          

Insgesamt heisst das also: Zu einer Menge   deren Elemente nicht leer und paarweise disjunkt sind, gibt es eine Menge  , die aus jedem Element von   genau ein Element enthält, also auswählt. Die Menge   ist eine Partition der Menge   und die Menge   wählt aus jedem Teil der Partition einen Repräsentanten aus:

 
Partition (links) mit Auswahlmenge (rechts)

Das Auswahlaxiom sieht harmlos aus, hat aber erhebliche Auswirkungen. Es gibt eine Reihe von wichtigen Sätzen, die auf der Basis der übrigen Axiome zum Auswahlaxiom gleichwertig sind. Wir wollen hier aber die Vorstellung der Axiome von ZFC beenden.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Siehe Wikipedia-Artikel „Russellsche Antinomie“
  2. Brief von Cantor an Dedekind vom 3. August 1899 in: Georg Cantor, Briefe, ed. H. Meschkowski und W. Nilson, Berlin, Heidelberg, New York 1999, S. 407. Im Briefauszug S. 440 sagte er, dass er die Dinglichkeit der Mengen bereits in seiner Mengendefinition in der Zusammenfassung „zu einem Ganzen“ berücksichtigt hatte.
  3. Siehe z.B. Arnold Oberschelp: Allgemeine Mengenlehre. 1994