A. Einstein: Kommentare und Erläuterungen: Zur Elektrodynamik bewegter Körper: Kinematischer Teil


Kinematischer Teil Bearbeiten

  § 1. Definition der Gleichzeitigkeit Bearbeiten

 

Ein Koordinatensystem (genauer: ein Bezugssystem), in dem die Newtonschen Gleichungen gelten, wird heute Inertialsystem genannt.

Die Bezeichnung »ruhendes System« ist höchst unglücklich gewählt, provoziert sie doch die Frage, relativ wozu das System denn ruhe? (Die Nichtexistenz einer absoluten Ruhe ist ja gerade das große Thema der Relativitätstheorie.) Es muss also heißen: Ein relativ zum Beobachter (das ist z. B. der Leser) ruhendes Inertialsystem.

"Wollen wir die Bewegung eines materiellen Punktes beschreiben, so geben wir die Werte seiner Koordinaten in Funktion der Zeit.“ Diese Ausdrucksweise ist seit langem ungewöhnlich; ihre Bedeutung ist jedoch leicht zu erraten: "... so geben wir die Werte seiner Koordinaten als Funktionen der Zeit an."

 


Hier führt Einstein im Handstreich eine sehr pragmatische »operationale« Definition der Zeit (genauer: des Zeitpunkts) ein: Der jeweilige Zeitpunkt ist das, was der kleine Zeiger seiner Uhr anzeigt.

 
 


Die im ersten Absatz nur versuchsweise vorgeschlagene Definition des Zeitpunkts eines vom Beobachter entfernten Ereignisses bedeutet: Ein Geschehen ereignet sich dann, wenn der Beobachter durch ein Lichtsignal davon erfährt. Natürlich verwirft Einstein diese absurde Definition sofort; er hätte sie uns auch gleich ersparen können. Der von Einstein eingeräumte Mangel des Verfahrens allerdings gründet weniger darin, dass die zeitliche Zuordnung vom Standpunkt des Beobachters abhängig ist (er soll ja im Koordinatenursprung stehen), sondern von der Entfernung der Ereignisse vom Beobachter.


Im zweiten Absatz geht einiges dem modernen Sprachgebrauch zuwider, vor allem der seltsame Gebrauch von »definieren«, »durch Definition« und »definitionsgemäß«.

Der Inhalt des letzten Teils des zweiten Absatzes kann etwa so wiedergegeben werden:

Eine für A und B verbindliche "Zeit" kann dadurch gewonnen werden, dass man die Uhren in A und B (die beide im Bezugssystem des Beobachters ruhen) synchronisiert. Der synchrone Gang der beiden Uhren kann wie folgt kontrolliert werden: Man sendet einen Lichtstrahl zur "A-Zeit" tA von A nach B, der dort zur "B-Zeit" tB ankomme, reflektiert werde und nach A zurücklaufe, wo er zur "A-Zeit" t' A eintreffe. Wegen der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die Laufzeit des Lichtstrahls auf dem Hin- und Rückweg gleich. Die beiden Uhren gehen dann synchron, wenn stets (d. h. auch bei jeder Wiederholung des Versuchs)


 

ist. (Bei nur einmaliger Durchführung würde man nämlich auch dann den Synchronlauf der Uhren konstatieren, wenn die Uhr in B den Mittelwert von tA und t’A anzeigte – aber stillstünde!)

Wenn der Synchronlauf der beiden Uhren sichergestellt ist, dann sind zwei Ereignisse, die in A bzw. in B stattfinden, genau dann gleichzeitig, wenn die Anzeigen der beiden Uhren im Moment des Eintreffens der Ereignisse EA bzw. EB gleich sind, wenn also


 

ist.

 
 

Bei der ersten Annahme fällt auf, dass Einstein oben die Synchronizität zweier Uhren als etwas Gegenseitiges betrachtet hat: Die beiden Uhren in A und B sind synchron, wenn ... Nun unterscheidet er auf einmal


1. die Synchronizität der Uhr in B mit der in A, und

2. die Synchronizität der Uhr in A mit der in B,


und nimmt dann an, dass eines aus dem anderen folgt.

Die Unterscheidung setzt allerdings einen Unterschied in der Definition voraus: Wann ist die Uhr in B mit der in A synchron, und wann die Uhr in A mit der in B?

Übrigens: Nach einer sauberen Definition der beiden Synchronizitäten kann man ihre Identität tatsächlich unschwer beweisen. Und danach lässt sich auch die zweite Annahme bestätigen.

Auf diese Weise hat Einstein eine Definition (und eine Messvorschrift) für die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse gewonnen, die an verschiedenen Orten stattfinden.

Die Erfahrung, auf welche die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gründet und auf die sich Einstein hier beruft, kann nur das Ergebnis des Michelson-Morley-Versuchs sein.

Auch hier ist überall »ruhendes System« zu ersetzen durch »relativ zum Beobachter ruhendes System«.