Verwaltungsrecht in der Klausur/ Die Fälle / Fall 6


§ 4 Übungsfälle zur Fotsetzungsfeststellungsklage

Fall 6: Fortsetzungsfeststellungsklage gegen ein Aufenthaltsverbot für Fußballfans

Autorin der Ursprungsfassung ist Judith Sikora

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1 Der Fall ist angelehnt an VG Darmstadt, Beschl. v. 28.4.2016, Az.: 3 L 642/16.DA = NVwZ 2016, 1344.

2 Lernziele/Schwerpunkte: Fortsetzungsfeststellungsklage, Allgemeinverfügung, öffentliche Bekanntgabe, Verhältnis der polizeilichen Generalklausel zu Standardbefugnissen, Bestimmtheit eines Verwaltungsakts

Sachverhalt

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3 Anlässlich der als „Hessenderby“ bezeichneten Fußballspiele zwischen dem SV Darmstadt 98 und der Eintracht Frankfurt kommt es wieder zu heftigen Ausschreitungen zwischen sog. Ultras beider Fangruppen. Dabei haben Frankfurt-Fans nicht nur im Stadion randaliert, sondern Darmstadt-Fans auf dem Weg zum oder vom Stadion aufgelauert, beleidigt und zum Teil sogar tätlich angegriffen. Die Eintracht wurde deswegen durch das DFB-Sportgericht zu Zuschauerausschlüssen und Strafzahlungen verurteilt. Trotzdem befürchtet die Polizei, dass einige hartgesottene Frankfurt-Fans trotzdem zum anstehenden Hessenderby in der Rückrunde nach Darmstadt kommen und „Krawall“ machen werden.

Der Magistrat der Stadt Darmstadt erlässt daher am 21.4.2016 folgende Regelung:

„Allgemeinverfügung: Fußballbundesligaspiel zwischen dem SV Darmstadt 98 und Eintracht Frankfurt a. M. am 30.4.2016 in Darmstadt

  1. Anhänger/Fans von Eintracht Frankfurt (erkennbar durch Fanbekleidung, Skandierung von Parolen und sonstigem Auftreten) ist es in der Zeit vom 29.4.2016, 19 Uhr, bis 1.5.2016, 7 Uhr, verboten sich in dem Bereich … des Darmstädter Stadtgebiets aufzuhalten.
  2. Die sofortige Vollziehbarkeit wird angeordnet.“

Der Bereich umfasst einen großen Teil des Darmstädter Stadtgebiets, der anhand einer Karte näher aufgezeigt wird. Die Allgemeinverfügung wird damit begründet, dass an der sofortigen Vollziehung der Allgemeinverfügung ein besonderes Interesse bestehe. Gestützt wurde die Maßnahme auf die Generalklausel des § 11 HSOG und in der regionalen Tageszeitung „Darmstädter Echo“ veröffentlicht.

Der friedliebende Frankfurt-Fan F ist empört, dass man alle Eintracht-Anhänger unter „Generalverdacht“ stellt. Er und seine Freunde seien weder gewaltbereit noch hätten sie Verständnis für sog. Hooligans. Wenngleich er das Stadionverbot als unfair empfindet, möchte er dennoch in der Nähe sein und seinen Verein mental unterstützen. Außerdem könne das Verbot leicht umgangen werden, indem er seinen Fanschal und das Eintracht-Trikot zu Hause lasse. Um zu verhindern, dass die Polizei mit solchen „Willkürmaßnahmen“ durchkommt, erheben F und sein Kumpel K zunächst Widerspruch. Die Stadt reagiert überraschend schnell und bescheidet den Widerspruch des F und K bereits am nächsten Tag abschlägig. Dies können F und K nicht auf sich sitzen lassen und erheben sogleich formgemäß Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht.

Als am darauffolgenden Samstag die Eintracht in Abwesenheit des F verliert, nimmt K seine Klage zurück, da die Weiterverfolgung nun „ohnehin sinnlos“ sei. F hingegen ist überzeugt davon, dass die Niederlage seines Vereins nur auf mangelnden Fan-Support zurückzuführen sei. Aufgrund entsprechender Pressemitteilungen der Stadt Darmstadt befürchtet F, die Polizei könne das „fan- und krawalllos“ verlaufene Spiel als Bestätigung ihrer Strategie ansehen und künftig häufiger Aufenthaltsverbote erlassen. Damit dergleichen in Zukunft nicht noch einmal vorkommt, möchte F die Angelegenheit gerichtlich klären lassen und erhebt nach abschlägiger Bescheidung seines Widerspruchs formgemäß Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht.

Hat die Klage des F Aussicht auf Erfolg?

Bearbeiter*innenvermerk: Es ist davon auszugehen, dass die zuständige Behörde gehandelt hat. Für die Lösung ist auf das VersG des Bundes abzustellen. Auf § 11 und § 31 HSOG wird hingewiesen.

§ 11 HSOG

Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die folgenden Vorschriften die Befugnisse der Gefahrenabwehr- und der Polizeibehörden besonders regeln.

§ 31 HSOG

1) 1Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. 2Die Platzverweisung kann ferner gegen eine Person angeordnet werden, die den Einsatz der Feuerwehr oder andere Hilfs- oder Rettungsmaßnahmen behindert. […]

(3) 1Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich innerhalb einer Gemeinde eine Straftat begehen wird, so können die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörde ihr für eine bestimmte Zeit verbieten, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung oder sie ist aus einem vergleichbar wichtigen Grund auf das Betreten des Bereichs angewiesen (Aufenthaltsverbot). 2Unter den Voraussetzungen des Satz 1 können die Polizeibehörden einer Person auch den Kontakt mit bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe untersagen. 3Ein Verbot nach Satz 1 oder 2 ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken. 4Es darf die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten. […]

Lösungsgliederung

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4 A. Zulässigkeit

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
II. Statthafte Klageart
III. Feststellungsinteresse
IV. Klagebefugnis
V. Vorverfahren
VI. Form und Frist
VII. Klagegegner
VIII. Beteiligten- und Prozessfähigkeit
IX. Zwischenergebnis

B. Begründetheit

I. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
1. Ermächtigungsgrundlage
2. Formelle Rechtmäßigkeit
a) Zuständigkeit
b) Verfahren
c) Begründung
d) Form
e) Zwischenergebnis
3. Materielle Rechtmäßigkeit
a) Handlungsform
b) Hilfsgutachterlich: Bestimmtheit, § 37 I HVwVfG
c) Hilfsgutachterlich: Tatbestand des § 31 III 1 HSOG
aa) Adressat
bb) Eingriffsschwelle
d) Hilfsgutachterlich: Ermessen
e) Zwischenergebnis
4. Zwischenergebnis
II. Verletzung in eigenen Rechten

C. Ergebnis

Lösungsvorschlag

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5 Die Klage des F hat Aussicht auf Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

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6 Die Klage des F ist zulässig, wenn alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

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7 Zunächst müsste der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Mangels aufdrängender Zuweisung an den Verwaltungsrechtsweg ist dafür auf die Generalklausel des § 40 I 1 VwGO abzustellen. § 40 I 1 VwGO eröffnet den Verwaltungsrechtsweg für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art. Eine Streitigkeit ist öffentlich-rechtlich, wenn die streitentscheidenden Normen solche des öffentlichen Rechts sind. Vorliegend kommt es auf Normen des HVwVfG[1] und des HSOG an, diese berechtigen einen Träger öffentlicher Gewalt, nämlich die Gefahrenabwehr- und Polizeibehörden (sog. modifizierte Subjektstheorie) und sind daher solche des öffentlichen Rechts. Mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit ist die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich, sodass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.

II. Statthafte Klageart

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8 Die Statthaftigkeit richtet sich nach dem Begehr des Klägers, § 88 VwGO. F möchte, dass das Vorgehen der Polizei für unzulässig erklärt wird.

Die Feststellung der Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns könnte F mithilfe eine Feststellungsklage nach § 43 I VwGO erreichen. Die allgemeine Feststellungsklage dient der Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Dieses wird zwar weit verstanden, nämlich als die sich aus einem konkreten Sachverhalt ergebende öffentlich-rechtliche Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache. Jedoch ist die Feststellungsklage nach § 43 II VwGO subsidiär gegenüber anderen Klagearten.

Wenn die „Allgemeinverfügung“ der Stadt Darmstadt einen Verwaltungsakt darstellt, wäre die Anfechtungsklage nach § 42 I Alt. 1 VwGO die richtige Klageart, um diesen aus der Welt zu schaffen. Die Verfügung mit dem Regelungsinhalt, dass es Eintracht-Anhänger untersagt wird, sich innerhalb einer bestimmten Frist in einem bestimmten Bereich des Darmstädter Stadtgebiets aufzuhalten, wurde von einem Träger öffentlicher Gewalt auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit Außenwirkung zur Regelung eines Einzelfalls, nämlich des Spiels am 29.4.2016, erlassen.[2] Problematisch könnte aber sein, dass sich die Untersagungsverfügung nicht an einen Adressaten, sondern generell an „Anhänger/Fans von Eintracht Frankfurt“ richtet. Es könnte sich aber um eine personenbezogene Allgemeinverfügung handeln.[3] Der Bezeichnung als Allgemeinverfügung kommt keine konstitutive, sondern allenfalls indizielle Bedeutung für die Handlungsform zu; es kommt vielmehr darauf an, ob die sachlichen Voraussetzungen i.S.d. § 35 S. 2 Var. 1 HVwVfG vorliegen.[4] Dafür müsste sich die „Allgemeinverfügung“ an einen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richten. Der Adressatenkreis muss zum Zeitpunkt des Erlasses noch nicht feststehen, es ist ausreichend, dass er durch allgemeine Merkmale bestimmbar ist.[5] Hier sind die Adressaten durch ihre Anhängerschaft zur Eintracht zumindest gattungsmäßig bezeichnet, sodass der Personenkreis hinreichend eingrenzt ist. Es handelt sich um eine belastende personenbezogene Allgemeinverfügung, sodass die Anfechtungsklage die richtige Klageart war.

Allerdings hat sich die Allgemeinverfügung durch Zeitablauf nach der Klageerhebung i.S.d. § 43 II HVwVfG[6] erledigt. Daher ist nunmehr die Fortsetzungsfeststellungsklage die richtige Klageart. Der Vorsitzende wird nach § 86 III VwGO auf die Umstellung des Klageantrags hinwirken.

III. Feststellungsinteresse

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9 § 113 I 4 VwGO setzt ein berechtigtes Interesse des Klägers an der Feststellung der Rechtswidrigkeit voraus, d.h. ein nach vernünftigen Erwägungen schutzwürdiges Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Ein Feststellungsinteresse nimmt die Rechtsprechung regelmäßig in einer der folgenden Fallgruppen an: Wiederholungsgefahr, Rehabilitationsinteresse, präjudizielle Wirkung, tiefgreifender oder sich typischerweise kurzfristig erledigende Grundrechtseingriffe.

Ein Feststellungsinteresse könnte hier unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr bestehen. Dafür ist die hinreichend bestimmte Gefahr erforderlich, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird. Die „Hessenderbys“ – Hin- und Rückrunde – finden zweimal pro Spielzeit statt und bislang kam es jedes Mal zu Ausschreitungen. Das vergangene Spiel war seit langer Zeit das erste friedliche, sodass F befürchtet, dass Aufenthaltsverbote für Fußballfans in Zukunft öfter erlassen werden. Diese Befürchtung wird durch die Pressemitteilung bestätigt, sodass eine Wiederholungsgefahr vorliegt und F ein Feststellungsinteresse hat.

IV. Klagebefugnis

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10 Es ist umstritten, ob neben dem besonderen Feststellungsinteresse auch die Klagebefugnis nach § 42 II VwGO vorliegen muss. F ist als Adressat des belastenden Verwaltungsakts möglicherweise in seinem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 11 I GG, mindestens aber in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG beeinträchtigt, so dass eine Entscheidung dahinstehen kann.

V. Vorverfahren

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11 Da sich der Verwaltungsakt erst nach Klageerhebung erledigt hat, müssen zum Zeitpunkt der Erhebung der Anfechtungsklage alle Zulässigkeitsvoraussetzungen für diese vorliegen. Daher war ein Vorverfahren nach § 68 I 1 VwGO durchzuführen. F hat fristgemäß einen Anfechtungswiderspruch erhoben, der negativ beschieden wurde. Das Vorverfahren wurde damit ordnungsgemäß und erfolglos durchgeführt.

VI. Form und Frist

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12 Laut Sachverhalt hat F die Form des § 82 VwGO gewahrt. Die Anfechtungsklage wurde einen Tag nach Zustellung des Widerspruchbescheids erhoben, sodass die Frist des § 74 I 1 VwGO ebenfalls eingehalten wurde.

VII. Klagegegner

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13 Die Anfechtungsklage müsste nach § 78 I Nr. 1 VwGO gegen den Rechtsträger der handelnden Behörde gerichtet worden sein. Gehandelt hat nach §§ 31 III 1, 82 I HSOG, §§ 9 II 2, 66 I 1 HGO der Magistrat der Stadt Darmstadt als untere Verwaltungsbehörde. Die Stadt Darmstadt ist damit nach § 78 I Nr. 1 VwGO analog der zuständige Klagegegner für die Fortsetzungsfeststellungsklage.

VIII. Beteiligten- und Prozessfähigkeit

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14 Die Beteiligten- und Prozessfähigkeit des F als natürliche Person ergibt sich aus §§ 61 Nr. 1 Alt. 1, 62 I Nr. 1 VwGO. Die Stadt Darmstadt ist gemäß §§ 61 Nr. 1 Alt. 2, 62 III VwGO beteiligten- und prozessfähig.

IX. Zwischenergebnis

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15 Mithin ist die Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig.

B. Begründetheit

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16 Die Klage ist gem. § 113 I 4 VwGO begründet, soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig war und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.

I. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts

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17 Die Allgemeinverfügung müsste rechtswidrig sein. Das ist der Fall, wenn sie nicht auf einer verfassungskonformen Ermächtigungsgrundlage beruht oder sich formell oder materiell nicht in ihren Grenzen hält.

1. Ermächtigungsgrundlage

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18 Als Ermächtigungsgrundlage wurde die polizeiliche Generalklausel des § 11 HSOG angegeben. Der Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel könnte aber durch eine speziellere Regelung gesperrt sein.[7] In Betracht kommen § 31 I HSOG (Platzverweis) und § 31 III 1 HSOG (Aufenthaltsverbot). Diese beiden Standardmaßnahmen unterscheiden sich durch ihren räumlichen und zeitlichen Anwendungsbereich. Ein Platzverweis untersagt typischerweise kurzfristig den Aufenthalt an einem eng umgrenzten Ort, das Aufenthaltsverbot wird regelmäßig für einen längeren Zeitraum (arg. ex § 31 III 4 HSOG) und einen größeren Bereich eingesetzt. Die Verfügung untersagt den Aufenthalt in einem großen Bereich des Stadtgebiets für die Zeit von Freitagabend bis Sonntagmorgen. Daher handelt es sich um ein Aufenthaltsverbot. § 31 III HSOG regelt das Aufenthaltsverbot als Maßnahme der Gefahrenabwehr abschließend.[8] Da hier ein Aufenthaltsverbot erlassen wurde, tritt die Generalklausel des § 11 HSOG im Wege der Subsidiarität hinter die spezielleren Befugnisse zurück. Der § 31 III 1 HSOG ist eine abschließende Sonderregelung für alle polizeilichen Maßnahmen im Anwendungsbereich des Aufenthaltsverbots, d.h. für alle Maßnahmen, die auf eine in § 31 III 1 HSOG abschließend geregelte Rechtsfolge zielen.[9] Als Ermächtigungsgrundlage ist daher § 31 III 1 HSOG heranzuziehen. Dass die Maßnahme laut Sachverhalt ursprünglich auf § 11 HSOG gestützt wurde, ist unerheblich, da das Verwaltungsgericht eine sachlich unzutreffende Befugnisnorm durch die einschlägige ersetzen kann.[10]

2. Formelle Rechtmäßigkeit

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19 Das Innenstadtverbot müsste formell rechtmäßig zustande gekommen sein.

a) Zuständigkeit
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20 Es müsste die zuständige Behörde gehandelt haben. Nach § 31 III 1 HSOG sind die Gefahrenabwehr- und Polizeibehörden zuständig. Gehandelt hat hier der Magistrat der Stadt Darmstadt. Er war als untere Verwaltungsbehörde nach §§ 31 III 1, 82 I HSOG, §§ 9 II 2, 66 I 1 HGO zuständig, da kein Eilfall vorlag.

b) Verfahren
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21 Vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts ist der Adressat grundsätzlich anzuhören, § 28 I HVwVfG.[11] Eine Anhörung der betroffenen Frankfurter Fans fand nicht statt. Bei dem Innenstadtverbot handelt es sich jedoch um eine personenbezogene Allgemeinverfügung gem. § 35 S. 2 Var. 1 HVwVfG, die sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Adressatenkreis richtet. Deshalb durfte gem. § 28 II Nr. 4 HVwVfG von einer Anhörung abgesehen werden.

c) Begründung
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22 Nach § 39 I HVwVfG müsste der Verwaltungsakt ordnungsgemäß begründet worden sein. Dass in der Begründung eine falsche Ermächtigungsgrundlage angegeben war, schadet nicht, da § 39 I HVwVfG nur überhaupt eine, jedoch keine inhaltlich tragfähige Begründung verlangt.[12]

23 Das Aufenthaltsverbot müsste auch i.S.d. § 41 HVwVfG[13] ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sein. Nach § 41 I 1 HVwVfG ist ein Verwaltungsakt grundsätzlich dem Adressaten bekannt zu geben. Dem F wurde die Verfügung zwar nicht individuell bekannt gegeben. § 41 III 2 HVwVfG sieht jedoch vor, dass Allgemeinverfügungen öffentlich bekannt gegeben werden dürfen, wenn die individuelle Bekanntgabe untunlich ist. Dies ist der Fall bei Unmöglichkeit oder wenn die Individualbekanntgabe mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Hier ist der Kreis der Betroffenen, nämlich die zum Hessenderby anreisenden Eintracht-Anhänger, im Vorhinein nicht feststellbar. Das Aufenthaltsverbot richtet sich an alle Fans der Eintracht, unabhängig von bereits verhängten Stadionverboten oder gekauften Karten. Daher war die Ermittlung aller Adressaten nicht möglich und die Allgemeinverfügung durfte öffentlich bekannt gegeben werden nach § 41 III 2 HVwVfG.

Gemäß § 41 IV HVwVfG müsste der verfügende Teil der Allgemeinverfügung ortsüblich bekannt gemacht worden sein. Fraglich ist, wie das Merkmal der Ortüblichkeit zu bestimmen ist. Eine Ansicht schlägt vor, aus Sicht des Adressatenkreises zu fragen, was ortsüblich ist. Sie begründet dies mit der Binnensystematik von § 41 HVwVfG, der die Bekanntgabe regelt. Da Fans der Eintracht vor allem außerhalb von Darmstadt wohnen, würde die bloße Veröffentlichung im „Darmstädter Echo“ Fans im übrigen Hessen und in anderen Bundesländern nicht erreichen, sodass eine örtliche Tageszeitung das Kriterium der Ortsüblichkeit aus deren Sicht nicht erfüllen würde. Gegen diese Auslegung spricht jedoch ein systematischer Vergleich mit den §§ 67 I 5, 69 II 3, 74 V 2 HVwVfG, die für öffentliche Bekanntmachungen die Veröffentlichung im amtlichen Veröffentlichungsblatt der zuständigen Behörde und außerdem in örtlichen Tageszeitungen, die in dem Bereich verbreitet sind, in dem sich die Entscheidung voraussichtlich auswirken wird, vorschreiben. Daher ist die Ortsüblichkeit im Rahmen von § 41 IV HVwVfG so auszulegen, dass es allein auf die Üblichkeit bei der handelnden Behörde ankommt – auch dann, wenn sich die Entscheidung überörtlich auswirkt.[14] Daher genügt die Veröffentlichung im „Darmstädter Echo“ der Form des § 41 IV HVwVfG.

e) Zwischenergebnis
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24 Folglich ist die Allgemeinverfügung formell rechtmäßig.

3. Materielle Rechtmäßigkeit

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25 Das Aufenthaltsverbot müsste darüber hinaus auch materiell rechtmäßig sein.

a) Handlungsform
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Zunächst ist fraglich, ob die Behörde das Aufenthaltsverbot überhaupt in der Form einer Allgemeinverfügung erlassen durfte. Der Wortlaut des § 31 III 1 HSOG spricht ausdrücklich von „einer Person“ als Adressat der Maßnahme. Daher wird größtenteils die Zulässigkeit eines Aufenthaltsverbots durch Allgemeinverfügung abgelehnt.[15] Darüber hinaus ergibt eine teleologische Auslegung, dass die Norm auf die Verhinderung der Straftat durch eine bestimmte Person zielt. Die für Befugnis erforderliche Prognose muss daher bezogen auf ein Individuum und einen Einzelfall erfolgen. Dies ist unmöglich, wenn sich das Verbot von vornherein auf einen nicht eindeutig bestimmten, sondern lediglich bestimmbaren Personenkreis bezieht, wie dies hier der Fall ist.

b) Hilfsgutachterlich: Bestimmtheit, § 37 I HVwVfG
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26 Das Aufenthaltsverbot müsste ferner hinreichend bestimmt sein, § 37 I HVwVfG. Die Bestimmtheit verlangt, dass der Verwaltungsakt so präzise und konkret gefasst wird, dass der Adressat erkennen kann, wie er sich zu verhalten hat und die Behörden den Verwaltungsakt insbesondere vollstrecken können. Insbesondere müssen die Betroffenen erkennen, ob sie als Adressat der Maßnahme in Frage kommen. Bei einer personenbezogenen Allgemeinverfügung können die Adressaten naturgemäß nur nach allgemeinen Merkmalen bestimmt sein. Fraglich ist jedoch, ob die Umschreibung als „Anhänger/Fans von Eintracht Frankfurt (erkennbar durch Fanbekleidung, Skandierung von Parolen und sonstigem Auftreten)“ diese Voraussetzungen erfüllt. Hier wird nicht deutlich, ob der Klammerzusatz nur ein Identifizierungshinweis ist oder ob von vornherein nur solche Anhänger betroffen sein sollen, die in der beschriebenen Form nach außen hin erkennbar sind. Nach der Formulierung ist nicht ausgeschlossen, dass sich alle Eintracht-Fans angesprochen fühlen, auch wenn sie ihre Faneigenschaft nicht äußerlich zur Schau stellen. Das Tragen von Fanbekleidung und das Skandieren von Parolen mögen noch geeignete Kriterien sein, den betroffenen Adressatenkreis der Verfügung hinreichend deutlich abzugrenzen. Was jedoch mit „sonstigem Auftreten“ gemeint ist, bleibt unklar.[16] Daher ist der Adressatenkreis des Verwaltungsakts nicht hinreichend bestimmt. Auch dies führt zur Rechtswidrigkeit der Allgemeinverfügung.

c) Hilfsgutachterlich: Tatbestand des § 31 III 1 HSOG
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27 Darüber hinaus müsste der Tatbestand des Aufenthaltsverbots vorliegen. Nach § 31 III 1 HSOG kann einer Person vorübergehend das Betreten eines bestimmten örtlichen Bereichs verboten werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie dort Straftaten begehen wird.

aa) Adressat
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28 Die Allgemeinverfügung richtet sich an alle Anhänger der Eintracht, die durch Fanbekleidung, Skandierung von Parolen oder sonstiges Auftreten zu erkennen sind. Das Aufenthaltsverbot richtet sich damit nicht gegen eine Person, sondern mehrere. Daher ist das Tatbestandsmerkmal „einer Person“ nicht erfüllt, sodass die Allgemeinverfügung schon aus diesem Grund rechtswidrig ist.

bb) Eingriffsschwelle
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29 Weiter müssten Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass es in einem bestimmten örtlichen Bereich zu einer Straftat kommen wird. Dafür müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, welche die Prognose erlauben, dass der Adressat der Verfügung an einem bestimmten Ort mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Straftat begehen wird.[17] Dies ist jedoch nicht ersichtlich. Auch wenn polizeiliche Erkenntnisse zu gewaltbereiten Problemfans vorliegen, lässt dies nicht die Annahme zu, dass jeder Fan von Eintracht Frankfurt sich diesem Personenkreis zurechnen lässt. Es liegen darüber hinaus auch keine Anhaltspunkte vor, dass alle Eintracht-Fans per se gewaltbereit sind. Daher ist auch die erforderliche Eingriffsschwelle nicht gegeben.

d) Hilfsgutachterlich: Ermessen
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30 Ferner müsste der Magistrat in den Grenzen des ihm durch § 31 III 1 HVwVfG eingeräumten Ermessens gehandelt haben, vgl. § 40 LVwVfG, § 114 1 VwGO. Die Allgemeinverfügung könnte insbesondere ermessensfehlerhaft sein, wenn das Aufenthaltsverbot nicht verhältnismäßig gem. § 4 HSOG wäre (Fall der Ermessensüberschreitung). Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist.

Die Verhinderung der Begehung von Straftaten, die anlässlich des Fußballspiels nicht ausgeschlossen sind, stellt zwar einen solchen legitimen Zweck dar.

Fraglich ist jedoch, ob das Aufenthaltsverbot auch geeignet ist. Dies ist deshalb nicht eindeutig, weil gewaltbereite Fans das Verbot umgehen könnten, indem sie auf das Tragen von Fanbekleidung verzichten und so nicht als Fans erkennbar sind. Darüber hinaus kann das Aufenthaltsverbot zu einer bloßen Verdrängung der Ausschreitungen außerhalb des Verbotsbereichs führen. Allerdings reicht für die Eignung des Verbots eine Förderung des Zwecks aus. Ein Aufeinandertreffen von Fans beider Mannschaften ist im Stadtgebiet am wahrscheinlichsten, sodass das Aufenthaltsgebot nicht ungeeignet ist, dort Auseinandersetzungen zu verhindern.[18]

Zweifelhaft ist jedoch die Erforderlichkeit des Aufenthaltsverbots angesichts der Größe des räumlichen Geltungsbereichs. Allein die Unkenntnis der Behörde über die konkreten Aufenthaltsorte der Fans dürfte nicht ausreichen, um die Ausdehnung auf einen derart großen Teil des Stadtgebiets zu rechtfertigen. Als milderes Mittel käme hier insbesondere die Begrenzung des Aufenthaltsverbots auf ein kleineres Gebiet in Darmstadt mit besonderem Bezug zur Gefahr, etwa der Bereich ums Stadion, den Bahnhof oder der Weg zwischen beiden Orten in Betracht.

Im Rahmen der Angemessenheit ist zu berücksichtigen, ob die Betroffenen in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden. Es ist umstritten, ob ein Aufenthaltsverbot in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 I GG oder nur in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG eingreift.[19] Kriterien für die Abgrenzung sind insbesondere die Persönlichkeitsrelevanz des Aufenthaltsbestimmungsrechts in der konkreten Situation, die zeitliche Dauer und örtliche Reichweite.[20] Bei einem Aufenthaltsverbot von insgesamt 36 Stunden am Stück für einen großen Teil des Darmstädter Stadtgebiets während eines für Fans sehr wichtigen Fußballspiels lässt sich ein Eingriff in die Freizügigkeit gut begründen (a.A. vertretbar).

Für einen gewichtigen Eingriff in die Rechte der Betroffenen spricht daher, dass das Spezialgrundrecht aus Art. 11 I GG betroffen ist. Außerdem werden Personen mit einem Aufenthaltsverbot belegt, die bisher nicht gewalttätig geworden sind und dies auch nicht werden wollen. Es werden mithin Personen in Anspruch genommen, die keine Verhaltensstörer i.S.d. § 6 HSOG sind. Die Behörden müssten vielmehr durch entsprechende Einzelmaßnahmen gegen solche Fans vorgehen, die tatsächlich auffällig geworden sind.

e) Zwischenergebnis
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31 Das Aufenthaltsverbot war nicht angemessen und damit nicht verhältnismäßig.

4. Zwischenergebnis

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32 Die Allgemeinverfügung war aus einer Vielzahl von Gründen rechtswidrig.

II. Verletzung in eigenen Rechten

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33 Die rechtswidrige Allgemeinverfügung verletzt den F auch in seinem Recht auf Freizügigkeit sowie jedenfalls in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit.

C. Ergebnis

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34 Die Klage des F ist zulässig und begründet, sie hat daher Aussicht auf Erfolg.



Fußnoten

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  1. Hessen hat ein eigenständiges VwVfG erlassen, wobei die Normen im wesentlichen mit denen des VwVfG des Bundes übereinstimmen. Zur Anwendbarkeit des Landesrechts näher Senders, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, 2020, § 2 Rn. 621.
  2. VG Darmstadt, Beschl. v. 28.4.2016, Az.: 3 L 642/16.DA, Rn. 7.
  3. Dazu näher Milker, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, 2020, § 2 Rn. 78 ff.
  4. Hebeler, JA 2016, 878 (879).
  5. Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 9 Rn. 31.
  6. Im VwVfG des Bundes findet sich eine entsprechende Regelung in § 43.
  7. S. zum Vorrang der Standardbefugnisse vor der Generalklausel Eisentraut, in: Eisentraut, Verwaltungsrecht in der Klausur, 2020, § 2 Rn. 1032; dazu auch Hecker, NVwZ 2016, 1301 (1302).
  8. VG Darmstadt, Beschl. v. 28.4.2016, Az.: 3 L 642/16.DA, Rn. 9.
  9. Schoch, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 2. Kap. Rn. 96.
  10. M.w.N. Büscher, JA 2010, 791 (794).
  11. Im Bundes-VwVfG findet sich eine entsprechende Regelung in § 28.
  12. Schenke, JuS 2000, 230 (231); vgl. auch Pünder, in: Ehlers/Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 14 Rn. 71.
  13. Eine entsprechende Regelung findet sich auch in § 41 Bundes-VwVfG.
  14. Froese, JuS 2017, 50 (54).
  15. Hornmann, in: Hornmann, HSOG, 2. Aufl. 2008, § 31 Rn. 66; Hecker, NVwZ 2016, 1301 (1302); Froese, JuS 2017, 50 (54); offen lassend: VG Darmstadt, Beschl. v. 28.4.2016, Az.: 3 L 642/16.DA, Rn. 9; Hebeler, JA 2016, 878 (880).
  16. VG Darmstadt, Beschl. v. 28.4.2016, Az.: 3 L 642/16.DA, Rn. 12.
  17. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2016, § 16 Rn. 25.
  18. VG Darmstadt, Beschl. v. 28.4.2016, Az.: 3 L 642/16.DA, Rn. 14 f.
  19. Näher Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2016, § 16 Rn. 21.
  20. Zu den Kriterien zur Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 11 I GG Durner, in: Maunz/Dürig, GG, 85. EL, Stand: November 2018, Art. 11 Rn. 77 ff.