Vorbemerkung: Diese Einleitung ist etwas unkonventionell. Sie versucht, die Begriffe und Zusammenhänge anschaulich werden zu lassen und dem Anfänger dadurch die Chance zu bieten, sie wirklich zu verstehen.
Im Kapitel »Verschiebungsarbeit ...« (Vektoranalysis: Teil II) wurde gezeigt, dass das Linienintegral über das Skalarprodukt v·ds gleich null ist,
- wenn das Integral sich über eine geschlossene Kurve erstreckt und
- wenn ein Potentialfeld vorliegt, d. h. wenn der Vektor v der Gradient eines Skalarfeldes ist.
Letzteres ist jedoch keineswegs immer der Fall, und auch in der Physik gibt es wichtige Felder, die diese Bedingung nicht erfüllen.
Ein Beispiel dafür ist das magnetische Feld eines unendlich langen Leiters (Stromstärke I).
Der Leiter ist von konzentrischen kreisförmigen Feldlinien umgeben; der Vektor H der Feldstärke steht auf dem Radius ρ senkrecht, für seinen Betrag H gilt:
Es lohnt sich, dieses Feld etwas genauer zu betrachten und einige Überlegungen anzustellen.
1. Bewegt man einen Magnetpol (linkes Bild) aus sehr großer (unendlicher) Entfernung radial zu irgendeinem Punkt P hin, so ist dabei keine (positive oder negative) Arbeit zu erbringen. Erfolgt die Bewegung jedoch schräg, so hat der Weg eine Komponente in Richtung des Feldes, und es ist daher Arbeit aufzuwenden. Das Linienintegral
hat keinen bestimmten, vom Weg unabhängigen Wert. Daher kann man dem Punkt P kein bestimmtes Potential zusprechen.
2. Betrachten wir eine Linie, die eine viereckige Fläche umfasst, deren Seiten radial bzw. tangential verlaufen. Man kann sich leicht davon überzeugen, dass das Linienintegral über den geschlossenen Umlauf den Wert null hat. (Wäre dagegen der Betrag der Feldstärke z. B. proportional 1/ρ2, wäre das nicht so.)
3. Bei einem geschlossenen Umlauf, der den Leiter umschlingt (rechtes Bild), hat das Linienintegral dagegen – unabhängig vom Weg - den Wert I (Stromstärke). Dies zeigt, dass das Linienintegral über eine geschlossene Kurve eine besondere Bedeutung haben kann. Darum wollen wir uns genauer mit ihm befassen.
Definition: Unter der Zirkulation Γ eines Vektors v längs einer geschlossenen Kurve K versteht man das Linienintegral des Vektors längs dieser Kurve:
Beispiel: Wie oben gezeigt wurde, ist die Zirkulation des Feldstärkevektors H längs einer Feldlinie des Feldes eines unendlich langen Leiters gleich der Stromstärke I im Leiter. Umfasst dagegen die Kurve K den Leiter nicht, ist die Zirkulation null.
Im Allgemeinen wird die Zirkulation auch von der umlaufenen Fläche A abhängen. Um deren Einfluss auszuschalten, dividiert man die Zirkulation durch die Fläche und betrachtet die Größe Γ/A.
Beispiel: Bei dem oben beschriebenen Feld ist, wenn man eine Feldlinie vom Radius ρ umläuft,
Der Quotient Γ/A nimmt also mit abnehmendem Radius ρ immer mehr zu und erreicht am Umfang des Leiters (Radius a) den Wert der Stromdichte j = I/π a2 im Leiter.
Betrachtet man die Zirkulation ΔΓ des Feldvektors v längs der Umrandung einer kleinen Fläche ΔA und denkt sich diese dann auf einen Punkt P schrumpfend, dann wird der Quotient ΔΓ/ΔA dabei im Allgemeinen einem Grenzwert zustreben. Diesen Grenzwert nenne ich den Wirbel w des Vektors v in P:
Beispiel: Lässt man bei dem oben betrachteten Feld den Radius ρ des Kreises gegen null gehen, also auf den Leitermittelpunkt hin schrumpfen, so wird für den Stromfaden von punktförmigem Querschnitt der Wirbel w = j.
Es soll nun der Wirbel in einem Punkt einer gegebenen Fläche berechnet werden.
In einem Raumgebiet, in dem durch eine Funktion v = v(r) ein Vektorfeld definiert ist, befinde sich ein Flächenstück.
Durch einen Punkt P nahe an der Fläche legen wir ein kleines Koordinatensystem, dessen Achsen parallel zu den entsprechenden Achsen des großen Koordinatensystems sind. Die Ebenen des kleinen Koordinatensystems schneiden aus der Fläche ein kleines Flächenstück heraus, das wir durch ein ebenes Dreieck annähern.
Die Abschnitte auf den Achsen seien 2Δx, 2Δy, 2Δz.
Die Seitenmitten des Dreiecks sind dann
und seine Seitenvektoren
Zur (zunächst) angenäherten Berechnung des Linienintegrals über die drei Seiten multiplizieren wir den jeweiligen Seitenvektor skalar mit dem Wert, den der Feldvektor v in der Seitenmitte hat:
Für die Vektoren vA, vB und vC gilt:
Der Index PA bedeutet:
bei der Richtungsableitung dv/ds dass diese an der Stelle P und in der Richtung PA zu bilden ist,
bei Δs, dass damit die Strecke Δs = PA gemeint ist.
Zur Berechnung werden die drei »Ungefährgleichungen« in ihre Komponenten zerlegt:
Dabei sind – wie auch im Folgenden – alle partiellen Ableitungen an der Stelle P zu bilden.
Ferner ist:
Analoges gilt für die Komponenten von vB und vC.
Wenn man die zusammengehörigen Komponentengleichungen wieder zu einer Vektorgleichung zusammenfasst, erhält man:
Damit ergibt sich:
Die Summe Σ dieser drei Skalarprodukte ist
Dabei sind alle partiellen Ableitungen im Punkt P zu bilden.
Der erste Summand ist null, da die Summe der Seitenvektoren des Dreiecks null ist.
Die letzten drei Summanden können interpretiert werden als das Skalarprodukt aus einem Vektor V und einem Vektor Δ W:
Der erste Vektor erhält wegen seiner besonderen Bedeutung einen eigenen Namen: Rotation (von) v (geschrieben: rot v).
Die Komponenten des zweiten Vektors sind die Projektionen der Fläche ΔA in die Koordinatenebenen:
ΔWx = ΔAx,
ΔWy = ΔAy,
ΔWz = ΔAz.
Das heißt: Der Vektor ΔW ist identisch mit dem Flächenvektor ΔA.
Dieser Vektor kann auch geschrieben werden als
Δ A = ΔAn
wobei n der Normaleneinheitsvektor der Fläche Δ A ist.
Folglich ist
und
Lässt man nun den Punkt P unbeschränkt an die Fläche heranrücken, dann gehen ΔA und die Summe gegen null. Für den Grenzwert des Quotienten gilt:
Das heißt: Der Wirbel w des Feldvektors v im Punkt P einer Fläche ist gleich der Projektion des Vektors rot v an dieser Stelle auf die Flächennormale.
Beachten Sie: Der Vektor rot v ist nur eine Funktion des Ortsvektors r(x, y, z), während der Wirbel auch von der Richtung der Fläche abhängt, für die der Wirbel berechnet wird. Der Wirbel an einer bestimmten Stelle ist maximal, wenn die Fläche auf rot v senkrecht steht; er ist null, wenn der Vektor rot v in der Tangentialebene der Fläche liegt.
Wir betrachten ein beliebiges Flächenstück A mit dem Rand C.
Wir zerlegen die Fläche – wie in der Abbildung angedeutet – in kleine Flächenstücke ΔAi mit den nach außen gerichteten Flächenvektoren ΔAi. Die einzelnen Flächenstücke sollen alle im gleichen Sinn wie der Rand C umlaufen werden. Dabei werden alle Seiten – bis auf die, die auf dem Rand C liegen – zweimal durchlaufen. Die Richtungen der beiden Durchläufe aber sind gegensinnig.
Für jedes einzelne Flächenstück mit seinen vier Seiten gilt dann:
Summiert man über alle Flächenstücke ΔAi, so fallen alle die Summanden heraus, deren Δsi,k nicht auf dem Rand C liegt. Die übrig bleibenden werden nun mit dem Index j versehen:
Für alle ΔA gegen null (wobei natürlich auch alle Δs gegen null gehen) wird daraus
wobei die Gestalt der Fläche völlig beliebig ist. Dies ist der Integralsatz von STOKES.
1. Ein Vektorfeld habe konzentrische, kreisförmige Feldlinien um die Z-Achse. Der Größenwert v des Feldvektors sei proportional 1/ρ (ρ = Abstand des betrachteten Punktes von der Z-Achse). Gesucht die Gleichungen v = v(r) und v = v(x, y, z) sowie rot v.
Der Feldvektor v hat die Richtung des Vektors k x r und soll den Größenwert v = c/ρ haben. Ferner ist
und daher
Mit
ergibt sich
Ein Beispiel für ein solches Feld ist das magnetische Feld (Feldstärke H) eines unendlich langen Leiters. (Siehe »Einleitung – Zirkulation und Wirbel eines Vektors«)
Nach den MAXWELL-Gleichungen ist
Da die Stromdichte außerhalb des Leiters überall null ist, muss dort auch rot H = 0 sein.
Wir wenden nun zur Berechnung des Größenwerts H der Feldstärke den Integralsatz von STOKES auf eine Kreisfläche vom Radius ρ an, die mit dem Leiter konzentrisch ist und auf ihm senkrecht steht:
Nun ist einerseits
wobei q der Leiterquerschnitt und I die Stromstärke im Leiter ist. Andererseits ist
Also ist
2. Gesucht sind die Eigenschaften des Feldvektors
(Siehe dazu die Abbildung bei Beispiel 1.)
Der Vektor v steht auf k und r senkrecht und hat die konstante Länge c.
Ferner ist
und daher
Damit wird
und schließlich
3. Eine ebene Scheibe mit der Flächennormalen n rotiere mit der Winkelgeschwindigkeit ω um einen ihrer Punkte P mit n als Drehachse. Gesucht der Geschwindigkeitsvektor v eines ihrer Punkte im Abstand R von P.
Es ist v = ωR und
Einfacher ist es jedoch, ein neues Koordinatensystem einzuführen, dessen Achsen parallel zu denen des alten sind und dessen Ursprung in P liegt. Dann ist:
Der Hamiltonsche Differential-Operator Nabla (Nabla-Operator)
Bei der Berechnung von Gradient, Divergenz und Rotation werden an einer skalaren Funktion bzw. an einer Vektorfunktion bestimmte Rechenoperationen vorgenommen. Diese weisen bei aller Verschiedenheit gewisse formale Ähnlichkeiten auf: Immer werden die partiellen Ableitungen der Funktion bzw. der Vektorkomponenten gebildet.
1. Gradient:
Es werden die partiellen Ableitungen der Funktion U(x, y, z) berechnet und diese werden als Komponenten eines Vektors benutzt:
Dieser Vektor kann formal aufgefasst werden als das Produkt aus und einem »symbolischen Vektor«
und der Funktion U:
2. Divergenz:
Die Komponenten eines Vektors v = (vxvyvz) werden partiell »nach ihrem Index« abgeleitet und daraus durch Addition eine skalare Funktion gebildet:
Diese Summe kann formal aufgefasst werden als das Skalarprodukt aus Vektor Nabla und dem Vektor
:
3. Rotation:
Die Komponenten eines Vektors v werden partiell »nach den beiden anderen Indices« abgeleitet und daraus Differenzen nach Art eines Vektorprodukts gebildet. Diese werden schließlich als Komponenten eines neuen Vektors benutzt. In der Schreibweise als symbolische Determinante wird dies am anschaulichsten:
Dieser Vektor wiederum kann formal aufgefasst werden als das Vektorprodukt aus dem symbolischen Vektor Nabla und dem Vektor v:
Der symbolische Vektor Nabla wird »Hamiltonscher Differentialoperator« oder Nabla-Operator genannt. (Der Name beruht auf der Ähnlichkeit des Symbols mit der antiken Harfe Nabla.) Also: