Die Soziologie institutionalisiert sich international
1893 gründete der Franzose René Worms die erste internationale Organisation, die Sozialwissenschaftler unter dem Titel der Soziologie vereinigte namens "International de Sociologie" (ISS). In der Öffentlichkeit wurde dieser Organisation wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auch gelang es Worms nicht, die Gesamtheit der tätigen Soziologen zu vereinigen. Emilé Durkheim blieb z.B. dem ISS fern. Dennoch waren um 1900 Franzosen die größte Gruppe der 100 ordentlichen und 100 assoziierten Mitglieder. Die USA belegten mit 14 Mitgliedern nur den 6. Rang, sogar hinter Russland. Russland war zu dieser Zeit ohnehin aktiver als die USA.
Um 1900 waren reine Soziologen eher rar gesät. Meist betrieben diese Wissenschaftler Soziologie gewissermaßen nebenher. [1] Zur damaligen Zeit wurde die Soziologie in Europa noch nicht als Einzeldisziplin gefördert. Dies bescherte bereits 1910 der amerikanischen Soziologie einen Vorsprung, da dort das Fach als eigenständig anerkannt war. 9 der 14 amerikanischen Mitglieder der ISS waren Universitätsprofessoren für Soziologie.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich in Europa um 1900 eine große Anzahl soziologisch Interessierter gebildet hatte, die auch teilweise bereit waren, international zusammen zu arbeiten. Als eigene Disziplin wurde die Soziologie noch nicht wahrgenommen bzw. wurden dahin gehende Bestrebungen blockiert. Die USA hatten grundsätzlich wissenschaftlichen Aufholbedarf. Diese Rückstände konnten jedoch durch verschiedene (strukturelle) Bedingungen kompensiert und überwunden werden. Eine (gegenüber Europa) frühere Anerkennung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft wurde bereits erwähnt. Hinzu kamen strukturelle Gegebenheiten im amerikanischen Bildungssystem: Die Zahl der Studierenden und die Zahl jener, die ihr Studium mit dem Titel PH.D. abschlossen, stieg in den USA kontinuierlich an. Dieser Umstand bedingte natürlich auch einen steigenden Bedarf an universitärem Lehrpersonal, wobei es in den USA für junge Akademiker wesentlich leichter war, einen Zugang zu einer wissenschaftlichen bzw. akademischen Karriere zu erlangen, als beispielsweise in der alten Welt. [2] Diese vorteilhaften Bedingungen kamen letztendlich auch europäischen Akademikern zugute. Dass die USA als finanzkräftiges Forschungsland mittles Stipendien europäischen Wissenschaftlern einen US-Aufenthalt und die Umsetzung diverser Forschungsprojekte sowie Publikationen ermöglichen wollten, führte zum Aufbau von Kontakten und Netzwerken, die schließlich vor und während des zweiten Weltkrieges eine rasche Abwanderung Europas wissenschaftlicher Elite ermöglichte.
USA als finanzkräftiges Forschungsland
Der große Reichtum der USA machte es möglich, Stiftungen zu gründen. Ein Charakteristikum des Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der USA war und ist die Philanthropie, also die Einstellung bzw. Sozialnorm, nach der das Gemeinwohl durch teils üppige Geldspenden gefördert werden soll. Dass dieses Vorgehen zweckgerichtet ist und nur oberflächlich betrachtet altruistisch anmutet und u.a. auch zu Problemen im Sozialsicherungssystem geführt hat, kann hier nicht weiter verfolgt werden und lässt den Begriff der "Philanthropie" eher deplaziert erscheinen. Unabhängig davon unterstützten ab 1900 einige Industriebosse Wissenschaftler, als Förderer der Moderne und um gesellschaftlichen Problemen indirekt, an deren Wurzeln zu begegnen. Die "scientific philanthropy" war geboren, vertreten durch Magnaten wie Andrew Carnegie und John D. Rockefeller[3]. Gemeinsam übertrugen sie mehr als 300 Mio [4] US-Dollar (ca. 5,9 Mrd. 2005) an Stiftungen, freilich unterschiedlichen Zwecken gewidmet. In den zwanziger Jahren des 20. Jhdts. bildeten sich zunehmend Spezialstiftungen mit dem Ziel, die sozialwissenschaftliche Forschung zu institutionalisieren. Besonderer Wert wurde schon damals auf internationale Teamarbeit und interdisziplinäre Ansätze gelegt. Nicht zuletzt kann behauptet werden, dass die USA zu dieser Zeit zu einer Weltmacht in Bezug auf Wissenschaftsarbeit [5] geworden sind. Auch muss aus heutiger Sicht anerkannt werden, dass die amerikanische Wissenschaft in ihrer strukturellen Entwicklung der europäischen bei Weitem voraus war.
Stipendien vor 1933
Robert Andrews Millikan [6], einer der ersten amerikanischen Nobelpreisträger, formulierte erstmals das Ein-Jahres Stipendium für Graduierte. Er wurde hierbei von der Rockefeller Familie unterstützt. Zu Beginn war man der Auffassung, auch eine Förderung für Ausländer zu ermöglichen, welche schließlich zur Verbesserung der Situation in den Heimatländern dienen sollte. Es war also geplant, dass die Stipendiaten nach einer definierten Zeitspanne wieder in Ihr Heimatland zurückkehren sollen. Eine Strategie, Wissenschaftler abzuwerben, gab es noch nicht.
1924 wurden die ersten Stipendien für Sozialwissenschaftler freigeben. Es wurden annähernd gleich hohe Summen für Europäer wie auch für Amerikaner genehmigt. Erste Stipendiaten aus Österreich waren u.a. Eric(h) Voegelin und Charlotte Bühler. Einen Braindrain gab es also, trotz der ursprünglichen Annahme, dass die ausgebildeten Wissenschaftler in ihre Heimatländer zurückkehren werden, auch schon vor der Machtergreifung der Nazis in Deutschland. Eventuell könnte die Weltwirtschaftskrise 1929 dabei eine Rolle gespielt haben [7]. Dennoch müssen als gewichtigste Gründe die bereits erwähnten, in Amerika günstigeren Möglichkeiten für eine Berufslaufbahn als Wissenschaftler, angeführt werden.
Stipendien während der NS Zeit
1929 wurden die selbstständigen Stiftungen der Rockefellers in eine Mutterstiftung zusammengelegt. Die Administration der Stipendienvergabe in Europa erfolgte nun von einem Büro in Paris aus. 1933 wurden die drei wichtigsten deutschen Vertrauenspersonen der Rockefeller: Ernst Jäckh, Alfred Weber und Bernhard Harms ihrer Ämter enthoben. Dies machte die Situation für deutsche Stipendiaten erheblich schwieriger. Meist erhielten Deutsche ein Stipendium zu einem Zeitpunkt, zu dem sie gar nicht mehr in Deutschland waren. Zwischen 1929 und 1941 erhielten 17 österreichische und 53 deutsche Sozialwissenschaftler ein Stipendium [8]. Damit stellte Deutschland 58% und Österreich 17 % aller Stipendiaten [9].
Die philanthropische Hilfe der amerikanischen Industriemagnaten, Stipendien in den USA zu vergeben um den Begünstigten dann zu einer Verbesserung der Situation im Heimatland zu verhelfen, entwickelte sich durch Nazideutschland zu einem unfreiwilligen Braindrain, der den Wissenschaftlern Schutz und verbesserte Forschungsmöglichkeiten bot und den USA einen Vorsprung der Wissenschaftsreputation einräumte.
Die Soziologie im Bann der Nazi – Herrschaft
Nach René König sei die Soziologie nach 1933 brutal zum völligen Stillstand gebracht worden. Helmuth Schelskys Gegenthese war, dass die spezifische soziologische Thematik damals ohnehin am Ende war [10]. Erwähnt sei hier, dass Schelsky ein Regimefreund der Nazis war. Ab 1932 war er Mitglied der SA, ab 1937 Mitglied der NSDAP. Diese Analyse ist ferner nicht verwunderlich.
Für den Vergleich von Auswanderer und Daheimgebliebenen verwendet Karl Mannheim den Begriff der Generationseinheiten und Generationslagen. Er folgert aus der „verwandten Lagerung im sozialen Raum“, dass es im Allgemeinen eine spezifische Art des Erlebens des Denkens einer Generation gibt. Man könne jedoch nicht nur aufgrund gleichartiger Generationslagerung auf einen Generationszusammenhang schließen. Dieser entstehe mit dem gemeinsamen Schicksal, so Mannheim.
„Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem „Generationszusammenhang“, diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhangs in jeweils verschiedenerer Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene „Generationseinheiten“ im Rahmen desselben Generationszusammenhangs.“ (Mannheim 1964, s: 544 zitiert aus Fleck 2007, S.182)
In unserem Kontext kann man auf gegenläufige Generationseinheiten schließen. René Königs Zitat erhält auch durch den Umstand Gewicht, dass es Mitte der 1950er Jahre gerade mal fünf soziologisch Tätige Universitätsprofessoren in Österreich gab, während es in den USA die zehnfache Zahl emigrierte Österreicher untererrichtete.
Die Stipendiaten der Rockefeller haben von der Ausbildung im Exil für ihren beruflichen Erfolg stark profitiert. Von 71 Unterstützten aus der Vorkriegszeit befanden sich 1950 immerhin noch 32 in den USA und 9 in anderen Ländern fern ihrer Heimat. Das bedeutet, dass 55 Prozent aller bekannten Stipendiaten im nichtdeutschsprachigen Ausland verblieben. In einem Verzeichnis der Rockefeller Fellows von 1972 zeigte sich, dass 41 Prozent der deutschen Emigranten, welche vor 1941 ihr Stipendium erhielten in den USA blieben und 95 Prozent der Österreicher [11].
Diese statistischen Zahlen verdeutlichen, dass die Forschung in der Soziologie in ihren Ursprungsländern durch die Naziherrschaft zum Stillstand gekommen ist. Den US – Amerikanern hat dieser Umstand verholfen, viele der besten Soziologen der damaligen Zeit zu erhalten. Die Auswirkungen sind in unterschiedlicher Weise heute noch bemerkbar.
In dieser Theory Map sollen die Auswirkungen des Braindrains bezogen auf die entwickelten soziologischen Theorien und deren emigrierten Entwicklern untersucht werden.
↑ Viele waren hauptamtlich Juristen (wie z.B. Max Weber) oder auch Nationalökonomen (wie z.B. Werner Sombart), auch bekannten sich zahlreiche Philosophen zur Soziologie.