Reisen in das Alte Dresden/ Die Entfestigung Dresdens/ August Heinrich Dittrich
Im Jahre 1819 war von Dresden aus als Missionszögling nach Basel gegangen August Heinrich Dittrich, der Sohn eines Bauern im Dorfe Fürstenau, geb. 15. Febr. 1797. Der reich begabte Knabe wurde bis zu seinem 13. Jahre in der Dorfschule unterrichtet, dann nahm ihn sein älterer Bruder, welcher Pfarrer in Dittersdorf geworden war, zu sich und bereitete ihn mit solchem Erfolge für das Gymnasium vor, daß er im Jahre 1812, fünfzehn Jahre alt, dem Rector des Freiberger Gymnasii, Gernhard, bei der ersten Vorstellung sogleich lateinisch antwortete und von diesem in die erste Klasse des Freiberger Gymnasii aufgenommen ward.Er überragte seine Altersgenossen vielfach an Wissen, besonders war die Geschichte sein Lieblingsgebiet, unaufhörlich las er die alten Historiker in der Ursprache, Thucydides und Polybius, Sallust und Tacitus; nach ihren Helden [28] bildete er sich seine Moral und Klugheitslehre; ja auch die Schriften Machiavelli's, Montesquieu's und dann Joh. v. Müller's studirte er eifrig, besonders angeregt durch seinen Freund Bülau. Sein Ehrgeiz wuchs immer mächtiger: Feldherr und Staatsmann wollte er werden, das waren die Laufbahnen, in denen er sich Tag und Nacht herum träumte. Daraus entstand eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen die Religion, worin er noch durch ein aus dem Englischen übersetztes Buch „über die natürliche Religion“ bestärkt wurde. Denn nur vorübergehend hatte die ernste Vorbereitung zur Confirmation und diese selbst auf das der Welt so völlig zugekehrte Gemüth des Knaben gewirkt, und mit innerem Widerstreben hatte es ihn erfüllt, wenn sein Bruder öfter den Wunsch aussprach, er solle Theologie studiren und gar einmal davon sprach, als ein entfernter Verwandter von ihm, Jacobi, Missionar wurde, welche Freude es ihm bereiten würde, wenn auch er, August, einmal diesen Beruf erwählen würde. In Freiberg fand der junge Dittrich durch die väterliche Liebe des Rector Gernhard viele Gönner, die den tüchtigen, aber sehr armen Gymnasiasten unterstützten. Auch der berühmte Mineralog Werner gehörte zu seinen Gönnern; der junge Dittrich durfte zuweilen zu ihm kommen, und da zeigte ihm Werner nicht blos seine Steine und Bilder, sondern er sprach mit ihm, wie er das mit Kindern gern zu thun pflegte, von biblischen Geschichten, bestärkte ihn in seinem Eifer, mahnte ihn, auch die hebräische Sprache zu lernen, damit er die heilige Schrift in ihren Grundsprachen lesen könne, ja, er schenkte ihm sogar eine hebräische Bibel, die noch in späteren Jahren unserm Dittrich ein theueres Erinnerungszeichen an seinen edlen Wohlthäter war. (Anmerkung: Was Werner im Hause seines Vaters und dann von frommen Lehrern in der Waisenhausschule zu Bunzlau bis zu seiner Confirmation in seinem Herzen empfangen hatte, blieb bis zu seinem Ende ein wesentliches Eigenthum seines Gemüthes, „das Geheimnis, welches unverrückt über seiner Hütte blieb“ (Hiob 29,4.), für Diejenigen freilich nicht erkennbar, welche nach dem urtheilten, was ihnen vor Augen lag; Andere aber bezeugen, daß Werner im Umgange mit Kindern, als besuchender Wohlthäter und Tröster in den armen Hütten manches einfältig gläubigen Bergmanns mit den äußeren Gaben gerne auch jene inneren mittheilte, von denen die Gelehrten und Gebildeten, die von der Welt Hochangesehenen vielfach nicht wußten, wohl aber die Kleinen und Armen, die Stillen im Lande.) Diese Mahnungen waren nicht vergeblich, Dittrich lernte hebräisch, trieb sogar auch arabisch, [29] aber zum Studium der Theologie konnte er sich nicht entschließen. Sein Herz war durch den rationalistischen Religionsunterricht immer mehr von Gott entfremdet worden; seine Ehrbegierde hatte ihn dazu getrieben, wider den Wunsch seines Bruders und des Rectors an dem Feldzuge gegen die Franzosen Theil zu nehmen, wodurch natürlich sein Abgang zur Universität verzögert werden mußte. Er kam freilich nur etwa bis Mainz, kehrte dort wieder um und langte ziemlich abgerissen eines Abends in der Pfarre zu Dittersdorf an. Glücklicherweise war seine Schwägerin, die Frau Pfarrerin, die erste, die ihn bemerkte und ihren Mann versöhnlich gegen den heldenmüthigen Gymnasiasten von der traurigen Gestalt stimmte. Sein patriotischer Jugendstreich wurde ihm feierlich verziehen und er begann mit neuem Eifer seine Studien. Nach dem Tode seiner Aeltern entschloß er sich, mit Einwilligung seines ältern Bruders, die Rechtsgelehrsamkeit zum Hauptstudium zu machen. Freilich lag die Zukunft dunkel vor ihm, ihm fehlten alle Mittel zum Studiren, bei seinem Bruder hatte er noch 100 Thlr., in Freiberg 20 Thlr. Schulden und der Abgang zur Universität schien kaum ausführbar. Es war Ostern 1816. Da half ihm Gott sehr gnädig. Als er eben in großer Sorge wegen seiner Zukunft war, vier Tage vor seiner Abreise kamen zwei seiner Mitschüler wie Boten vom Herrn gesandt und überreichten ihm im Namen der zwei obersten Classen ein Geschenk von mehr denn 30 Thlrn., der Rath der Stadt übersandte ihm 15 Thaler und mehrere edle Familien, die sich nicht einmal nannten, schickten ihm je 4 und 5 Thaler zu, so daß er am Tage seiner Abreise, ledig seiner Schulden in Freiberg, noch 50 Thlr. zum Beginn seiner Studien in Leipzig hatte. Auch in Leipzig fand er in den Professoren Kruse, Weiße und Haubold väterlich rathende und helfende Freunde, so daß er drei Jahre ruhig studiren konnte. Er hörte alle juristische Collegien, trieb für sich besonders Geschichte und Staatswissenschaft, und schrieb auch eine kleine Schrift: „Vom Götzendienst unserer Zeit“, welche er unter dem Namen Sebast, Theopluton herausgab. In derselben bewies er u. A., daß eine geoffenbarte Religion für jedes Staatsgebäude die nothwendige Grundlage sei; das Christenthum, als bloße Vernunftlehre aufgefaßt, sei eine Vermessenheit, ein solches könne keine Macht über die Gemüther haben und unter= [30] grabe die Grundsäule des Staatsgebäudes. Die Ausarbeitung des Schriftchens hatte ihn wieder mehr auf religiöse Fragen geführt; das zunächst aus historischem Interesse begonnene Lesen des alten Testaments brachte ihn, besonders durch die Weissagungen der Ankunft des Messias, sehr zum Nachdenken. So verging die Studienzeit und nach Abschluß derselben bot sich ihm eine ganz seinen Wünschen entsprechende Stelle. Der Staatsminister Graf von Einsiedel berief ihn zum Erzieher seines Pflegesohnes, und Dittrich, voll großer Hoffnungen, so vielleicht Eingang in die diplomatische Laufbahn finden zu können, folgte dem Rufe. Er kam erst nach Prietitz dann in die Nähe Dresdens, nach Briesnitz a. d. Elbe, und begann den Unterricht. Einen bedeutenden Eindruck machte auf ihn der Pastor Roller in Lausa, wohin ihn die Gräfin mitgenommen hatte. „Da habe ich endlich einen wahren Prediger des Wortes Gottes kennengelernt“, schreibt er seinem Bruder, „herzlich und einfach, aber voll der Lehre, die er predigen soll, ohne Wortgepränge, aber mit schweren Worten redend, wenn er spricht.“ In der ländlichen Stille und Ruhe nahm er jetzt auch, angeregt durch den Umgang und die christlichen Gespräche des Grafen von Einsiedel und seiner Gemahlin, sein griechisches neues Testament vor und las das Evangelium St. Matthäi, Anfangs mit mancherlei Gedanken; aber als er an das 5. Capitel kam, veränderte sich sein ganzer Sinn, sein Herz ward gerührt und erweicht, es fiel wie Schuppen von seinen Augen und er mußte sich selber sagen: das ist eine göttliche Lehre und ein wahres Evangelium, von Gott den Menschen gegeben. Mit heißem und täglich wachsendem Durst las er nun die anderen Evangelien und die Apostelgeschichte durch, und jeden Tag wuchs seine Erkenntniß. Er schaute mit bitterster Reue auf sein bisheriges inneres Leben, denn die Triebfeder zu all seinem Fleiß war nur der Ehrgeiz gewesen, und was die Menschen gelobt und ausgezeichnet hatten, war doch aus bösem und verdorbenem Herzen gekommen. Er suchte und fand Vergebung bei Christo, seinem Heilande. Nun aber ward es sein heißer Wunsch, die gefundene Gnade Andern mitzutheilen und das Evangelium, das seine Seele gerettet hatte, den Heiden zu bringen. Er schrieb nach Basel und theilte ausführlich seinen Lebenslauf mit; in Dresden wohnte er unterdeß noch im Hause des Ministers [31] von Einsiedel, bis die erwünschte Antwort aus Basel kam. Im December 1819 verließ er Dresden und nach einer für ihn sehr erquicklichen Reise über Frankfurt a. M., Stuttgart, Tübingen kam er den 4. Jan. 1820 nach Basel in's Missionshaus. Hier blieb er nur kurze Zeit; um arabisch zu studiren, begab er sich nach Paris und dann, um weitere Missionsverbindungen anzuknüpfen, nach England. Unterdeß hatte man in Basel beschlossen, Vorbereitungen zu eigener Missionthätigkeit zu treffen. Das Augenmerk richtete man auf die Länder am schwarzen und caspischen Meere und am Kaukasus. Dort befand sich bereits eine schottische Missionstation. Als nun die Edinburger Missions=Gesellschaft für Judenmission das Baseler Missioncomitee aufforderte, einige fromme und taugliche Männer in die Uferländer des schwarzen Meeres zu senden, um dem zerstreuten und zahlreichen Israel daselbst das Wort vom Reiche Gottes zu bringen, da sandte man von Basel die Brüder Bezner und Saltet mit dem Auftrage, zunächst den Juden Südrußlands das Evangelium zu bringen, aber auch die daselbst bestehenden deutschen Colonisten, welche den Gefahren des Mohamedanismus ausgesetzt waren, zu berücksichtigen und über dieselben Mittheilungen zu machen. Odessa und Astrachan, so hoffte man, würden vielleicht Ausgangspunkte einer neuen Mission nach verschiedenen Nachbarländern werden können. Um hierzu die einleitenden Schritte zu thun, wurden die Brüder Dittrich und Felician Zaremba zunächst nach Petersburg geschickt. Auf er Reise dahin berührten sie Dresden und hielten hier am 16. August 1821 in der Waisenhauskirche bei dem zweiten Jahresfest des Missionsvereins Ansprachen. In Petersburg sollten sie zunächst die Vortheile, welche die Brüdergemeinde und die schottischen Colonien in Karaß am kaukasischen Gebirge besaßen, erwerben. In einer Privataudienz am 10. April 1822, welche Zaremba und Dittrich erlangten, gab Kaiser Alexander die großmüthige Versicherung seines kaiserlichen Schutzes und sprach seine Bereitwilligkeit aus, durch jedes geeignete Mittel die christlichen Zwecke der evangelischen Missionsgesellschaft im Gebiete der heidnischen und mohamedanischen Einwohner des asiatischen Rußlands zu unterstützen.
Fünfzig Jahre der Missionsthätigkeit im Königreiche Sachsen, 1869, S. 27, 28, 29, 30, 31.