Mensch und Kosmos: Reinkarnation

Ich habe zahlreichere Körper besessen, als ich jetzt aufzählen möchte. (511)
Auch ihr habt andere Leben gelebt, und das Wissen darum ist in euch, auch wenn ihr euch dessen nicht bewusst seid. (511)

Der Gedanke an die Möglichkeit der Reinkarnation, also an die Möglichkeit, dass wir nicht nur ein einziges Mal auf Erden leben, sondern schon wiederholt und sogar sehr oft hier gelebt haben könnten und folglich damit rechnen müssen, auch künftig neuerlich wiedergeboren – reinkarniert – zu werden, dieser Gedanke bereitet vielen Menschen unseres Kulturkreises große Schwierigkeiten. Ich kenne Menschen, denen der erste intensive Kontakt mit dieser Vorstellung buchstäblich den Schlaf geraubt hat, und andere, die Monate brauchten, um ihre Scheu oder ihren Widerwillen vor einer ernsten Auseinandersetzung damit zu überwinden. Aber die Wahrheit richtet sich nicht nach unseren Wünschen, nach unseren Vorlieben und Abneigungen, und auch die christliche Lehre ist kein gültiges Argument gegen den Wiedergeburtsglauben, denn es gibt keine unüberwindlichen Widersprüche zwischen beiden, es gibt sogar christliche Sekten und Gemeinschaften, zu deren Glaubenskanon die Wiedergeburtslehre gehört. Der Glaube an die Wiedergeburt ist auf der Erde weit verbreitet, ja, er findet sich sogar beim größeren Teil der Menschheit. Dies beweist natürlich gar nichts; ich erwähne es nur, weil viele Menschen der westlichen Welt meinen, lediglich die Bewohner Südostasiens und Tibets glaubten an die Reinkarnation. Das Gegenteil ist richtig: Der Glaube an die Wiedergeburt findet sich nicht nur in fast allen Teilen der Welt, sondern auch in früheren Jahrhunderten im Abendland: bei den Kelten Mittel- und Westeuropas ebenso wie bei den Wikingern Islands und Skandinaviens. Evans-Wentz entdeckte noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hinweise auf ein Weiterbestehen des Reinkarnationsglaubens unter den keltischen Einwohnern Schottlands, Wales’ und Irlands. Die weite Verbreitung des Glaubens an die Wiedergeburt auf der Erde ließ Schopenhauer bemerken: „Wenn ein Asiate mich nach einer Definition für Europa fragen würde, müsste ich ihm antworten: Es ist der Teil der Welt, der vollständig von der unerhörten und unglaublichen Täuschung beherrscht wird, dass eines Menschen Geburt sein Anfang sei und dass er aus nichts geschaffen wurde.“ (Parerga und Paralipomena) Seit der Zeit Schopenhauers allerdings haben viele Abendländer den von ihm beklagten Irrglauben abgelegt. Eine Umfrage des Gallup-Instituts von 1968 – also noch vor der Blütezeit der «Esoterik» – hat ergeben, dass 18 Prozent der Bewohner von acht europäischen Ländern an Reinkarnation glaubten. Ein Jahr später erklärten bei einer ähnlichen Umfrage 20 Prozent der US-Amerikaner und 26 Prozent der Kanadier, an Reinkarnation zu glauben. Spätere Umfragen ließen eine steigende Tendenz erkennen. In der Philosophie des Abendlandes hat der Reinkarnationsglaube eine lange Tradition, die mindestens bis auf Pythagoras (etwa 570 - 496 v. Chr.) zurückreicht. Zu den Anhängern des Glaubens an die Wiedergeburt gehören neben vielen anderen Sokrates, Plato, Plotin, Giordano Bruno, Goethe, Schopenhauer, Emerson und Walt Whitman. Es ist bezeichnend, dass diese Tatsache in der westlichen Welt weitgehend verheimlicht oder ignoriert wird und dass viele Anhänger des Reinkarnationsglaubens meinen, sie gehörten einer kleinen, exotischen Minderheit an, und sich daher manchmal scheuen, sich zu ihrem Glauben zu bekennen. Einer der wichtigsten Gründe hierfür ist sicher der zumindest unterschwellig noch sehr wirksame Einfluss der großen christlichen Kirchen. Dabei darf die von diesen Kirchen durchgehend vertretene Ablehnung des Wiedergeburtsglaubens nicht als wesenhaft christlich angesehen werden. Im Gegenteil, es gibt sogar im Neuen Testament Hinweise auf den Reinkarnationsglauben, wenngleich diese auch – vielleicht als Folge späterer Retuschen – eher spärlich und indirekt sind. Sie erwecken aber den Eindruck, als werde der Reinkarnationsglaube als selbstverständlich und keiner weiteren Erläuterung bedürftig vorausgesetzt. Die einschlägigen Stellen lauten:

(Jesus über Johannes den Täufer:) Und wenn ihr es gelten lassen wollt: Ja, er ist Elija, der wiederkommen soll. (Mt. 11,14)
(Jesus fragte seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn?) Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. (Mt. 16,14)
(Über Johannes den Täufer:) Andere sagten: Er ist Elija. Wieder andere: Er ist ein Prophet wie einer von den alten Propheten. (Mk. 6,15)
(Johannes der Täufer über sich selbst:) Sie fragten ihn: Wer bist du dann? Bist du Elija? Und er sagte: Ich bin es nicht. – Bist du der Prophet? Er antwortete: Nein. (Joh. 1,21)
Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde? (Joh. 9,1,2) – (Die Frage der Jünger ist nur sinnvoll, wenn man annimmt, dass sie an die Wiedergeburt und an eine Karmalehre geglaubt haben, die eine Bestrafung der Sünden in einem späteren Leben vorsieht.)

Nach Stevenson (Wiedergeburt, Frankfurt 1992) hat mindestens ein Teil der Christen Südeuropas bis zum sechsten Jahrhundert an die Reinkarnationslehre geglaubt. Die Katharer, eine christliche Sekte in Südfrankreich (12. bis 14. Jahrhundert) und Italien (dort bis Anfang des 15. Jahrhunderts), besaßen einen stark ausgeprägten Glauben an die Reinkarnation. Aus den Aufzeichnungen der Mönche der Inquisition, von denen sie schließlich auf grausame Weise ausgerottet wurden, geht hervor, dass einige der Katharer angaben, sich an ein früheres Leben oder gar mehrere erinnern zu können. (Literaturangaben siehe Stevenson) Auch bei den Anthroposophen Rudolf Steiners und der von ihnen beeinflussten Christengemeinschaft (gegründet 1922) ist die Reinkarnationslehre wesentlicher Bestandteil der Weltanschauung.

Neben dem Buch Stevensons empfehlen sich zu diesem Thema zwei weitere, vertrauenswürdige Bücher:

  • Lama Anagarika Govinda, Der Weg der weißen Wolken, München 1966
  • Thomas Sugrue, Edgar Cayce, München 1981

Seth macht diesen Aspekt der von ihm so genannten multidimensionalen Wesenheit des Menschen mit spürbarem Vergnügen an einigen seiner früheren Leben anschaulich:

Zur Zeit Jesu Christi lebte ich als ein Mann namens Millenius in Rom. Mein Geld verdiente ich als Kaufmann, aber ich war ein höchst neugieriger Herr, und auf meinen zahlreichen Reisen verbrachte ich viel Zeit mit ganz unterschiedlichen Menschen.
Ich war rund und dick, mein Auftreten war alles andere als patrizierhaft und meine Kleidung leicht vernachlässigt. Es gab damals ein Schnupfpulver, das aus einer bestimmten Sorte Stroh hergestellt wurde. Ich schnupfte ständig und beschmutzte oft mein Oberkleid damit.
Mein Haus lag im geschäftigsten, nordwestlichen Viertel der Stadt, am Rande dessen, was ihr die Innenstadt nennen würdet. Unter anderem verkaufte ich auch Eselsglocken. Ihr werdet sie nicht für eine besonders exquisite Ware halten, aber die Bauern außerhalb Roms fanden sie sehr nützlich. Jede hatte einen anderen Klang und dadurch konnten die Bauern ihre Esel von den unzähligen anderen unterscheiden.
Auch innerhalb Roms wurden vielfach Esel als Lasttiere benutzt, besonders von den einfacheren Leuten. Die Anzahl der Glocken, ihr Ton, selbst ihre Farbe, alles hatte seine Bedeutung. Im Gedränge der Stadt konnten die Armen und die Sklaven, welche Waren – häufig welkes Gemüse – von den Karren der Händler kaufen wollten, die speziellen Glocken erkennen.
Die Glocken waren nur ein kleiner Teil meiner Ware, die vor allem aus Tuchen und Farben bestand, aber sie faszinierten mich. Wegen meines Interesses an ihnen reiste ich weit mehr in der Umgebung und in der Region herum, als es ein vernünftiger Mann hätte tun sollen. Die Glocken wurden mein Steckenpferd. Meine Neugier stachelte mich an, auf der Suche nach immer neuen Glocken weit umherzureisen, und brachte mich mit Leuten zusammen, die ich sonst nie getroffen hätte.
Ich konnte zwar nicht lesen und schreiben, aber ich war schlau und geistig rege. So entdeckte ich, dass verschiedene jüdische Sekten – sowohl innerhalb wie außerhalb Roms – für irgendwelche Zwecke bestimmte Glocken benutzten. Dass ich römischer Bürger war, gab mir ein klein wenig Sicherheit auf meinen Reisen. Ich begegnete dabei so vielen Juden wie Römern. Sozial stand ich nicht weit über ihnen. (588)
Sehr viel später – im vierten Jahrhundert – war ich ein unbedeutender Papst, und zwar kein sehr guter. Ich hatte zwei uneheliche Kinder, eine Geliebte, die sich heimlich in mein Studierzimmer schlich, einen Magier, den ich mir für den Fall hielt, dass ich nicht mehr recht weiter wusste, eine Haushälterin, die – solange sie bei mir war – jedes Jahr schwanger wurde, und drei Töchter, die ins Kloster gingen, weil ich nichts von ihnen wissen wollte. Ich regierte nicht lange, und so werde ich nur in einigen wenigen Berichten und auch dort nur mit lumpigen drei Zeilen erwähnt.
Ich kam aus einer großen Familie und war ehrgeizig, wie alle intelligenten jungen Männer jener Zeit. Zum Militär wollte ich nicht, so blieb nichts anderes als die Kirche. Als Papst erließ ich zwei Kirchengesetze, woran ihr sehen könnt, dass bei allem immer auch etwas Gutes herauskommt. (Auf eine Frage aus dem Teilnehmerkreis antwortend:) Nein, mein Name war nicht Clemens – aber der Name gefällt mir.
Danach folgten vier Leben unter den widrigsten Umständen, damit ich den Unterschied zwischen Luxus und Armut, zwischen Hochmut und Mitgefühl kennen lernte. Und es gab Tage in späteren Jahrhunderten, da ich dieselben Straßen ging, die ich einst als Papst gewandelt war. Als Papst war ich sie leichten Fußes gegangen, als armer Bauer dagegen kam ich beladen und schweren Fußes daher, bis ich gelernt hatte, was ich lernen musste, so wie auch ihr alle eure Lektionen lernen werdet. (Aus einer Gruppensitzung am 25. Mai 1971.)
Ich will meine früheren Existenzen hier nicht im Detail besprechen, ich erwähne sie nur, um auf einige Punkte hinzuweisen. Vor allem: Ich bin viele Male Mann oder Frau gewesen, und ich habe mich mit verschiedenen Berufen und Tätigkeiten abgegeben, und immer mit der Absicht zu lernen, um eines Tages lehren zu können. Meine gegenwärtige »Arbeit« hat daher eine solide Grundlage in körperlichen Existenzen.
Ich habe niemals die Rolle einer überragenden Persönlichkeit von historischer Bedeutung gespielt, sondern meine Erfahrungen in den schlichten und unauffälligen Vorkommnissen des Alltagslebens gemacht, im normalen Lebenskampf. Ich habe die Sehnsucht nach Liebe erfahren, das unaussprechliche Verlangen des Vaters nach dem Sohn, des Sohnes nach dem Vater, des Mannes nach der Frau, der Frau nach dem Mann, und ich war mit Haut und Haaren in die Netze menschlicher Beziehungen verstrickt gewesen. Einmal war ich ein Gewürzhändler in Dänemark, wo ich Ruburt und Joseph kannte. In mehreren Leben war ich ein Schwarzer, davon einmal im heutigen Äthiopien und einmal in der Türkei.
Meinem Leben als Papst folgten später einige Leben als Mönch. In einem davon wurde ich das Opfer der spanischen Inquisition. Meine Erfahrungen mit weiblichen Existenzen umfassen die einer einfältigen Jungfer in Holland, einer Kurtisane zur Zeit des biblischen David und mehrere Existenzen als bescheidene Mutter mit vielen Kindern.
In mehreren Leben war ich mir meiner früheren Existenzen bewusst. Als Mönch kopierte ich einmal ein Manuskript, das ich selbst in einem anderen Leben geschrieben hatte.
Oft hatte ich eine Vorliebe für körperliche Fülle – und besaß sie auch. Doch zweimal bin ich Hungers gestorben.
Ich habe meine Tode nachher immer als sehr lehrreich empfunden. Stets war es ein Gewinn, zwischen zwei Leben den Gedanken und Ereignissen nachzuspüren, die zu meinem Sterben geführt hatten. Keiner meiner Tode hat mich überrascht. Während ich im Sterben lag, empfand ich das Unausweichliche daran; auch war ein Wiedererkennen dabei, ja ein Gefühl der Vertrautheit: „Natürlich, dieser und kein anderer ist mein persönlicher Tod.“ Und ich habe dann selbst die bizarrsten Todesumstände widerspruchslos hingenommen und dabei fast ein Gefühl der Vollendung gehabt: Das Leben wäre ohne den Tod nicht vollständig. Alle meine Tode waren die Ergänzung des jeweiligen Lebens; immer hatte ich das Gefühl, dass es nicht anders sein könnte.
Und dann stellte sich ein überwältigendes Gefühl der Demut und zugleich der Ekstase ein, wenn das innere Ich beim Eintritt des Todes seine Freiheit spürte. (588)
Wenn man viele Male geboren wurde und gestorben ist, bei jedem Tod die Vernichtung erwartet hat und dann erfährt, dass man weiterhin existiert, dann nimmt das Ganze den Charakter einer göttlichen Komödie an. Alle meine Tode wären für mich Abenteuer gewesen, hätte ich gewusst, was ich heute weiß. (518)

Zum Schluss dieses Abschnitts zitiere ich den englischen Philosophen John Ellis McTaggart (1866-1925):

Ein Leben wie das unsere, in dem Sünde mit Tugend ringt, und Zweifel mit Zuversicht, und Hass mit Liebe, kann uns nicht befriedigen, aber es kann uns eine Menge lehren – weit mehr als wir zwischen einer einzigen Geburt und einem einzigen Tod lernen könnten.

Kein Mensch kann in einem einzelnen Leben die Lektionen ungebrochener Gesundheit und körperlicher Krankheit lernen, die Lektionen des Reichtums und der Armut, des zurückgezogenen Studiums und des öffentlichen Handelns, der Freundschaft und der Einsamkeit, der Auflehnung und des Gehorsams, der Tugend und des Lasters. Und es wäre so gut, sie alle zu lernen. Ist es da nicht kostbar, hoffen zu können, dass das, was wir in einem Leben versäumt haben, in einem anderen uns zukommen kann?

Und obwohl der Weg lang ist, er kann nicht ermüdender sein als ein einziges Leben. Denn mit dem Tod lassen wir hinter uns die Erinnerung und das hohe Alter und die Müdigkeit. Wir sterben vielleicht alt, aber wir werden jung geboren werden. Und der Tod erhält eine tiefere und gnädigere Bedeutung, wenn wir ihn betrachten als Teil des beständig sich wiederholenden Rhythmus des Fortschritts – so unvermeidlich, so natürlich und so wohltuend wie der Schlaf.