Rechenregeln der bestimmten Divergenz – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

Am Ende des letzten Kapitels hatten wir bereits erwähnt, dass wir die Rechenregeln für konvergente Folgen nicht einfach auf uneigentlich konvergente Folgen anwenden dürfen. Konvergiert beispielsweise eine Folge (uneigentlich) gegen und eine weitere Folge (eigentlich) gegen , so ist es unmöglich, eine Aussage über die Konvergenz/Divergenz der Produktfolge zu machen!

Aufgabe

Gib Beispiele von Folgen und mit den oben beschriebenen Eigenschaften an, so dass

  1. mit
  2. beschränkt ist und divergiert
  3. unbeschränkt ist und nicht bestimmt divergiert

Lösung

Teilaufgabe 1: Wähle beispielsweise und , dann gilt , und

Teilaufgabe 2: Wähle beispielsweise und , dann gilt , und

Teilaufgabe 3: Wähle beispielsweise und , dann gilt , und

Teilaufgabe 4: Wähle beispielsweise und , dann gilt , und

Teilaufgabe 5: Wähle beispielsweise und , dann gilt , und ist beschränkt und divergiert

Teilaufgabe 6: Wähle beispielsweise und , dann gilt , und ist unbeschränkt und divergiert nicht bestimmt

Rechenregeln für uneigentlich konvergente Folgen Bearbeiten

Nun werden wir uns überlegen, inwiefern wir unter bestimmten Einschränkungen trotzdem Regeln für uneigentlich konvergente Folgen herleiten können. Wir werden sehen, dass auch hier, unter Berücksichtigung der Voraussetzungen, Summen-, Produkt-, und Quotientenregeln gelten.

Produktregel Bearbeiten

Überlegen wir uns zunächst, inwiefern wir die Produktregel übertragen können. Wir setzen voraus, dass   eine Folge mit   ist, und überlegen uns, was mit der Produktfolge   passiert. Da wir oben schon bemerkt haben, dass der Fall   Probleme bereitet, schließen wir diesen aus.

1. Fall:  . In dieser Fall ist es intuitiv vollkommen klar, dass auch   gelten sollte. Dies müssen wir aber formal sauber beweisen. Wir müssen also zeigen:

 

Sei daher so ein   vorgegeben. Wegen   gibt es dann ein   mit   für alle  . Analog gibt es wegen   ein   mit   für alle  . Für alle   gilt somit

 

Also gilt  .

2. Fall:  . Auch in diesem Fall ist intuitiv klar, dass auch   gelten sollte. Wir müssen also zeigen:

 

Sei daher   vorgegeben. Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Analog gibt es wegen   ein   mit   für alle  . Für alle   gilt somit

 

Also gilt  .

3. Fall:  . In diesem Fall sollte wie im 1.Fall   gelten. Wir müssen also wieder zeigen:

 

Sei daher   vorgegeben. Wegen   gibt es zu jedem   ein   mit   für alle  . Setzen wir  , so gilt daher  :  , also insbesondere  . Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Für alle   gilt somit

 

Also ist  .

4. Fall:  . Hier gilt  .

Aufgabe

Beweise dies.

Lösung

Hier müssen wir zeigen:

 

Sei daher   vorgegeben. Wegen   gibt es zu jedem   ein   mit   für alle  . Setzen wir  , so gilt daher  :  , also insbesondere  . Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Für alle   gilt somit

 

Also ist  .

Die vier Fälle lassen sich auch kompakt zusammenfassen. Dazu führen wir folgende praktische Erweiterung der reellen Zahlen ein: Wir erweitern   durch   und erhalten so die Menge  .

Satz (Produktregel für uneigentlich konvergente Folgen)

Sei   eine reelle Folge mit   und   eine reelle Folge mit  . Dann gilt

 

Summenregel Bearbeiten

Sei erneut   eine Folge mit  . Die Frage ist nun, wie es sich mit dem Grenzwert der Summenfolge   verhält. Uns wir schnell klar, dass hier der kritische Fall   ist. In diesem Fall ist es unmöglich, eine allgemeine Aussage über das Konvergenzverhalten von   zu machen. Für   und   gilt beispielsweise  , für   und   gilt  . Wir schließen daher den Fall   aus, und betrachten nur die übrigen relevanten Fälle:

1. Fall:  . Hier ist klar, dass   gelten muss. Wir müssen zeigen:

 

Sei   vorgegeben. Wegen   gibt es dann ein   mit   für alle  . Analog gibt es wegen   ein   mit   für alle  . Für alle   gilt somit

 

Also ist  .

2. Fall:  . Hier gilt ebenfalls  . Auch hier müssen wir zeigen:


 

Sei   vorgegeben. Wegen   gibt es dann zu jedem   ein   mit   für alle  . Insbesondere auch für  . Also gilt   für alle  . Wegen   gibt es außerdem ein   mit   für alle  . Für alle   gilt somit

 

Also ist  .

Die beiden Fälle fassen wir wieder zusammen:

Satz (Summenregel für uneigentlich konvergente Folgen)

Sei   eine reelle Folge mit   und   eine reelle Folge mit  . Dann gilt

 

Inversionsregeln Bearbeiten

Auch die nächste Regel ist intuitiv vollkommen logisch. Ist   eine Folge mit   für alle   und   oder  , so muss   eine Nullfolge sein.

1.Fall:  . Wir müssen zeigen

 

Sei   vorgegeben. Wegen   gibt es zu   ein  , so dass   gilt  . Damit gilt   auch

 

Somit ist  .

2.Fall:  .

Aufgabe

Zeige, dass auch in diesem Fall   eine Nullfolge ist.

Lösung

Auch hier müssen wir zeigen:

 

Sei   vorgegeben. Wegen   gibt es zu   ein  , so dass   gilt  . Damit ist  . Also gilt   auch

 

Somit ist auch hier  .

Wir halten das Ergebnis noch einmal fest:

Satz (Inversionsregel 1 für uneigentlich konvergente Folgen)

Sei   eine reelle Folge mit   für alle   und  . Dann gilt

 

Verständnisfrage: Gilt im Allgemeinen auch die Rückrichtung der Inversionsregel, d.h. folgt aus   immer   oder  ?

Nein, die Rückrichtung gilt im Allgemeinen nicht. Betrachte die Folge   mit  . Dann gilt  , aber   divergiert nicht bestimmt gegen   oder  .

Die Frage ist nun, wie wir die Voraussetzungen einschränken müssen, damit auch die Rückrichtung der Inversionsregel gilt. Bei dem Gegenbeispiel war das Problem, dass die Folge   alternierend war. Daher gibt es unendlich viele Folgenglieder, die positiv sind, und unendlich viele Folgenglieder, die negativ sind. Fordern wir als zusätzliche Voraussetzung an  , dass entweder nur endlich viele Folgenglieder negativ, oder nur endlich viele Folgenglieder positiv sind, so tritt das Problem nicht mehr auf.

1.Fall: Sei zunächst   eine Folge mit  , alle Folgenglieder seien   und und fast alle Folgenglieder seien positiv. Dann ist es intuitiv klar, dass   gilt. Zum Beweis müssen wir zeigen:

 

Sei   gegeben. Da   eine Nullfolge ist, gibt es zu   ein   mit   für alle  . Da fast alle Folgenglieder von   positiv sind, gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt nun   für alle  . Also ist  .

2.Fall: Sei nun   eine Folge mit  , alle Folgenglieder seien   und fast alle Folgenglieder seien negativ.

Aufgabe

Zeige, dass in diesem Fall   gilt.

Lösung

Hier müssen wir zeigen:

 

Sei   gegeben. Da   eine Nullfolge ist, gibt es zu   ein   mit   für alle  . Da fast alle Folgenglieder von   negativ sind, gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt nun  , und daraus folgt   für alle  . Also ist  .

Wir halten die beiden Fälle für die Rückrichtung der Inversionsregel noch einmal fest

Satz (Inversionsregel 2 für uneigentlich konvergente Folgen)

Sei   eine reelle Folge mit   für alle   und  . Dann gilt

  •  , falls   für fast alle  
  •  , falls   für fast alle  

Beispiel (Inversionsregel)

Im Kapitel Beispiele für Grenzwerte hatten wir gezeigt, dass   für   und   eine Nullfolge ist. Für   sind nun alle Folgenglieder nicht-negativ. Daher gilt nach der Inversionsregel

 

Analog gilt für  :

 

Quotientenregel Bearbeiten

Als nächstes wenden wir uns Quotientenfolgen mit uneigentlichen Grenzwerten zu. Seien also   und   Folgen mit   für alle   und   die daraus gebildete Quotientenfolge.

Zunächst setzen wir   voraus. Klar ist, dass wir die Fälle   ausschließen müssen, denn hier können wir keine allgemeine Aussage über das Konvergenz-/Divergenzverhalten der Quotientenfolge machen. Sei daher  . Dann gilt  . Wir müssen dazu zeigen

 

Sei   vorgegeben. Wegen   ist   beschränkt, d.h. es gibt ein   mit   für alle  . Weiter gilt, wegen  , nach der Inversionsregel  . Also gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt  :

 

Somit ist  .

Völlig analog gilt im Fall   und   ebenfalls  .

Zusammen ergibt sich

Satz (Quotientenregel 1 für uneigentlich konvergente Folgen)

Seien   und   reelle Folgen mit   und  . Dann gilt  .

Nun setzen wir für die Zählerfolge fest:  . Wieder müssen wir die Fälle   ausschließen.

1.Fall:  . Hier gilt  . Zum Beweis haben wir zu zeigen:

 

Sei   gegeben. Da   gegen   konvergiert, gibt es ein  , so dass   für alle  . Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt für alle  :

 

Also ist  .

2.Fall:   und fast alle   seien positiv. Hier gilt ebenfalls  . Zum Beweis müssen wir erneut zeigen:

 

Sei   gegeben. Da   gegen   konvergiert und fast alle Folgenglieder positiv sind, gibt es ein   mit   für alle  . Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt für alle  :

 

Also ist  .

Aufgabe

Zeige, dass in den Fällen   und  , und fast alle   seien negativ, gilt:  

Lösung

1.Fall:  . Wir zu zeigen:

 

Sei   gegeben. Da   gegen   konvergiert, gibt es ein  , so dass   für alle  . Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt für alle  :

 

Also ist  .

2.Fall:   und fast alle   seien negativ. Wir müssen erneut zeigen:

 
Sei   gegeben. Da   gegen   konvergiert und fast alle Folgenglieder negativ sind, gibt es ein   mit   für alle  . Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Damit gilt für alle  :
 

Also ist  .

Zusammengefasst lautet die zweite Version der Quotientenregel

Satz (Quotientenregel 2 für uneigentlich konvergente Folgen)

Seien   und   reelle Folgen mit  .

  • Ist   oder   und fast alle  , dann gilt  .
  • Ist   oder   und fast alle  , dann gilt  .

Minorantenkriterium für Folgen Bearbeiten

Intuitiv ist dieses Kriterium vollkommen klar. Haben wir eine Folge   gegeben und wissen wir von einer weiteren Folge  , dass diese "kleiner oder gleich"   ist für fast alle   und uneigentlich gegen   konvergiert, so muss auch   uneigentlich gegen   konvergieren. Beweisen können wir dies folgendermaßen: Wir müssen zeigen

 

Sei also   gegeben. Wegen   gibt es ein   mit   für alle  . Wegen   für fast alle   existiert ein   mit   für alle  . Also gilt  .

Halten wir noch einmal fest:

Satz (Minorantenkriterium für Folgen)

Sei   eine reelle Folge und   eine weitere Folge mit   für fast alle   ist und  . Dann gilt auch  .

Beispiel (Minorantenkriterium für Folgen)

Betrachten wir die Folge  . Für   gilt

 

Außerdem ist  . Nach dem Minorantenkriterium gilt somit