Lehrbuchrhetorik im Medizinstudium: Psychologische Aspekte

Psychologische Grundbedingungen des Lernens

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Kognition, Emotion, Motivation

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Beziehungen von Emotion, Kognition und Motivation

Eine Grundeinsicht der Psychologie lautet folgendermaßen: die für das Erleben und Verhalten entscheidenden Variablen sind Denken (Kognition), Fühlen (Emotion) und Wollen (Motivation).

  • Kognition. Die Elemente der Kognition (Denken im weitesten Sinn) sind zum einen Bilder, Propositionen und Vorstellungen; zum anderen Konzepte und Kategorien, die eine Klassifikation von Wahrnehmungsinhalten ermöglichen und meist unbewusst anhand von Definitionen oder Prototypen generiert werden. Zu den Hauptfunktionen der Kognition zählen neben dem Einordnen von Erfahrung das Lösen von Problemen, d. h. das Entwerfen von Plänen zur Zielerreichung gegen Widerstände, das Fällen von Entscheidungen sowie die Überzeugungsbildung; für alle Prozesse haben sich im Evolutionsprozess dabei Methoden etabliert, die zwar ungenau arbeiten (z. B. Heuristiken) und zum Teil rigide sind (z. B. Beharren auf Überzeugungen), dafür aber rasch ablaufen und dadurch effizientes Orientieren und Handeln ermöglichen (vgl. Myers, 416ff). Kognitive Prozesse sind hauptsächlich an kortikale Strukturen gebunden.
  • Emotion. Bei den Emotionen unterscheidet man Affekte (kurz und heftig), Gefühle und Stimmungen (lang und sanft). Emotionen haben sich im Laufe der Evolution als eine der wichtigsten Funktionen des zentralen Nervensystems etabliert, weil sie als Signalgeber einen entscheidenden Überlebensvorteil bieten: durch die schnelle Situationsbewertung ist das Individuum in der Lage, rasch und zielgerichtet zu agieren, beispielsweise zu fliehen, wenn Angst aufkommt. Emotionen wirken sich auf die Gesamtheit des Organismus aus – auf die Kognition wie auf die Motivation, das Handeln oder auf vegetative Reaktionen. Emotionale Prozesse sind dabei vor allem an subkortikale Strukturen gebunden (was ihr hohes phylogenetisches Alter dokumentiert). Die entscheidende neuronale Struktur für die Emotionsverarbeitung ist das limbische System mitsamt der Amygdala; Wahrnehmungsimpulse erreichen dieses System, in dem eine unbewusste Verarbeitung stattfindet, zeitlich vor dem Kortex, wo die Wahrnehmungsinformationen bewusst verarbeitet werden – weshalb emotionsbedingte Handlungen oft erst nach ihrer Inititation bewusst werden. "Von der Amygdala aus gehen [zudem] mehr neuronale Bahnen zum Kortex als umgekehrt. Deshalb haben unsere Gefühle mehr Gewalt über unsere Gedanken als unser Denken über unsere Gefühle" (Myers, 535); Kognitionen besitzen dabei vor allem Funktion als "Richtungsgeber" von Emotionen.
  • Motivation. Motive sind Handlungsantriebe, Initiatoren von Aktionen. Während primäre Motive aufgrund ihrer Überlebensrelevanz vor allem genetisch verankert sind und meist auf Wiederherstellung verlorengegangener Körperhomöostase abzielen (entscheidende Steuerzentralen bilden Hypothalamus und mesolimbische bzw. -kortikale Dopaminsysteme), beruhen sekundäre Motive stärker auf Lernerfahrungen. Für sekundäre Motive sind folgende Begriffe und Theorien relevant:
    • Erregungsniveau. Motive entstehen oftmals zu dem Zweck, den Organismus auf einen bestimmten, während des Tages schwankenden Erregungsgrad zu bringen (vgl. Myers, 499).
    • Bedürfnishierarchie. Maslow zufolge sind Bedürfnisse hierarchisch gegliedert; die Basis bilden die physiologischen Bedürfnisse zur Erhaltung von Individuum und Art, die Spitze bilden Selbstverwirklichungsbedürfnisse, dazwischen liegen Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Selbstwert. Die Befriedigung eines tieferen Bedürfnisses ist dabei hinreichend dafür, dass das nächsthöhere Bedürfnis wachgerufen wird (vgl. Myers, 499), wobei es jedoch zahlreiche Ausnahmen gibt (vgl. Lay 2000b, 118ff).
    • Erwartung-Wert-Theorie. Prägnant formuliert besagt sie: Erwartung mal Wert ergibt die Stärke eines Motivs, wobei für eine optimale Motivstärke beide Variablen mindestens zur Hälfte ausgeprägt sein müssen. Entscheidend ist demnach erstens, wie ein bestimmtes Ziel bewertet wird (was durch Konditionierungsprozesse beeinflusst wird), zweitens, wie die Erreichbarkeit eines Ziels sowie der Weg dorthin (Verlaufserwartungen) eingeschätzt werden (vgl. Faller/Lang, 114 und Lay 2000b, 105f und 121f).

"Für jede Motivationstheorie und -praxis bedeutet das: Es gilt, Bedürfnisse zu erkennen (unter Umständen zu demaskieren) und zu identifizieren. Es gilt, die Verlaufserwartungen zu kennen. Es gilt um die Hoffnungen zu wissen, die ein Mensch mit der Bedürfnisbefriedigung verbindet (Kenntnis der Zielerwartungen)." (Lay 2000b, 122) Durch Wachrufen, Verstärken oder Suggerieren von Bedürfnissen sowie durch Beeinflussen von Erwartungen lassen sich dann Motive steigern und Handlungen wahrscheinlicher machen, denn "Motivieren bedeutet festlegen und modifizieren von […] Bedürfnis- und Erwartungsstrukturen und -inhalten" (Lay 2000b, 124); wobei erkannte strategische Motivierung zu Demotivation führen kann: "Nicht selten wird durchschaute Motivation zu einem erheblichen Demotivator, vor allem wenn dahinter gezielte Technik vermutet wird." (Lay 2000b, 110) Zudem hat jede Motivierung Grenzen: "Unterschätzen Sie niemals Prägungen, Vorurteile und Gewohnheiten. Gegen sie zu motivieren ist meist sinnlos und kann leicht demotivierend wirken." (Lay 2000b, 153) Alle drei Variablen wirken dabei gegenseitig aufeinander ein und bilden eine Einheit (vgl. Bierbrauer, 96); alle drei bestimmen gemeinsam das Erleben und Verhalten eines Menschen und müssen daher bei der gezielten Beeinflussung jeweils hinreichend berücksichtigt werden – also auch bei der Wissensvermittlung, denn beim Lernen "spielen Kognitionen, Emotionen und Motivationen eine gleich wichtige Rolle. Lernen ist insofern ein ganzheitlicher Prozess" (vgl. Terhart, 153).

Aufmerksamkeit

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Grundbedingungen für bewusstes Erleben und Verhalten und somit auch für Lernen ist Aufmerksamkeit, also sowohl ein hinreichender Aktivationsgrad (unselektive Aufmerksamkeit) als auch Fokussierung von Wahrnehmung und Denken (selektive Aufmerksamkeit).

  • Für maximale Leistungsfähigkeit ist dem Yerkes-Dodson-Gesetz zufolge ein mittlerer Aktivationsgrad erforderlich; ein zu hoher und ein zu niedriger Aktivationsgrad wirken hingegen leistungsmindernd. Das in der Formatio reticularis des Hirnstamms lokalisierte aufsteigende retikuläre aktivierende System (ARAS) spielt hierbei eine entscheidende Rolle, weil es das allgemeine Aktivationsniveau des Kortex beeinflusst.
  • Selektive Aufmerksamkeit bedeutet das Fokussieren auf bestimmte Wahrnehmungs- und Denkinhalte, wodurch die Inhalte bewussten Zugang zum Kurzzeitgedächtnis erhalten. Neurophysiologisch entspricht dem die gesteigerte Aktivität bestimmter kortikaler Funktionsareale (vgl. Spitzer, 139ff).

Kommunikationspsychologische Aspekte

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Kommunikationstheoretisches Basismodell

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Kommunikation spielt sich ab zwischen Sender und Empfänger, vermittelt über einen Kanal: Der Sender verschlüsselt Bedeutungen und gibt sie in Form von Signalen über den Kanal an den Empfänger weiter, der sie aufnimmt und entschlüsselt.

Verstehen und Konstruktion

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Meist werden die vom Sender abgegebenen Signale durch den Empfänger anders interpretiert als durch den Sender; die "Innerung" des Senders, bestehend aus einem Gemisch von Gefühlen, Gedanken und Motiven (vgl. Schulz von Thun, 20), entspricht somit in den allermeisten Fällen nicht der durch die entsprechende "Äußerung" evozierten "Innerung" des Empfängers. Denn aufgrund seiner Biographie und seinen Erfahrungen besitzt dieser andere – neuronal verankerte und sich ständig verändernde – Dispositionen als der Sender ("hermeneutisches Potentialfeld"; vgl. Lay 1990, 42f). Der Empfänger wird durch die Äußerung des Senders zwar zu strukturähnlichen mentalen Konstruktionen angeregt, greift hierzu aber auf sein individuelles, erfahrungsabhängiges Material zurück – einen anderen zu verstehen bedeutet daher vor allem ein Sich-selbst-Verstehen. Sender und Empfänger verwenden also vielleicht die gleichen Worte, meinen aber aufgrund des unterschiedlichen Konstruktionsstoffs meist Verschiedenes.

Multidimensionalität von Nachrichten

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Vier-Seiten-Modell von F. Schulz von Thun (1981)

Jede Nachricht ("Äußerung") hat vier Dimensionen, die jeweils unterschiedlich akzentuiert und oftmals implizit sind:

  1. Sachinhalt, "der Informationen über die mitzuteilenden Dinge und Vorgänge in der Welt enthält" (Schulz von Thun, 19).
  2. Selbstkundgabe, "durch die der 'Sender' etwas über sich selbst mitteilt – über seine Persönlichkeit und über seine aktuelle Befindlichkeit" (Schulz von Thun, 19f).
  3. Beziehungshinweis, "durch den der Sender zu erkennen gibt, wie er zum Empfänger steht, was er von ihm hält und wie er die Beziehung zwischen sich und ihm definiert" (Schulz von Thun, 20).
  4. Appell, "also der Versuch, in bestimmter Richtung Einfluß zu nehmen, die Aufforderung, in bestimmter Weise zu denken, zu fühlen oder zu handeln" (Schulz von Thun, 20).

Dabei kann der Rezipient die Äußerung des Senders anders wahrnehmen und interpretieren als vom Sender intendiert (vgl. Schulz von Thun, 61f), so dass es zu Missverständnissen kommen kann; diese lassen sich durch eindeutige (metasprachliche) Akzentuierung der intendierten Hauptdimension möglicherweise vermeiden (vgl. Lay 2000b, 206ff).

Redundanz

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Redundanz ist die Differenz zwischen tatsächlicher und optimaler Informationsmenge.

Eine Informationseinheit (Bit) ist diejenige Informationsmenge für ein Signal, das eine von zwei gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten darstellt. Ein Bit erlaubt also aus zwei Alternativen die richtige zu wählen (zwei Bit: aus vier Alternativen; drei Bit: aus acht Alternativen; n Bit: aus 2n Alternativen). Eine Dezimalziffer besitzt demnach etwa drei Bit (Auswahl der richtigen Ziffer aus 9 Alternativen), ein Buchstabe etwa fünf Bit (Auswahl des richtigen Buchstabens aus 26 Alternativen), ein zufällig ausgewähltes Wort etwa 16 Bit (vgl. Legewie/Ehlers, 82).

Ein gewisses Maß an Redundanz ist erforderlich, da ein nichtredundanter Text leicht durch Informationsübertragungsstörungen verstümmelt werden kann. Gerade in mündlichen Interaktionen ist eine hohe Redundanz nötig: "Im normalen Sprechverkehr kann der Hörer maximal etwa 8 bit/sec verstehend empfangen. Der Sprecher ist jedoch in der Lage, etwa 60 bit/sec zu erzeugen. Das bedeutet, dass Sprechen in informativer Absicht hochredundant sein muss. Das Maß der notwendigen Redundanz beträgt etwa 87 %" (Lay 2000b, 160); eine darüber hinausgehende Redundanzerhöhung fördert die Verarbeitung und Einspeicherung der Informationen (vgl. Lay 2000b, 160) – dies gilt auch für schriftliche Kommunikation. Das Redundanzniveau muss sich dabei auch an Publikum und Gegenstand orientieren: "Je nach dem, was ich zu sagen habe, wem ich es sage und in welcher Situation ich es sage, muss ich keine, wenig oder viel Redundanz anbieten – umso mehr[,] je komplizierter das Thema ist, über das ich meine Leser oder Hörer informieren möchte […][,] je gleichgültiger ihnen das Thema ist […][,] je enger ihr Erfahrungshorizont ist [und] je niedriger ihr Erwartungshorizont liegt." (Schneider, 145)

Lernpsychologische Aspekte

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Prozedurales und kognitives Lernen

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In der Lernpsychologie unterscheidet man folgende Arten des Lernens:

  • Prozedurales Lernen:
    • Respondentes Modell
    • Operantes Modell
  • Kognitives Lernen

Das respondente Modell bezieht sich auf die von Pawlow untersuchte klassische Konditionierung: einem bestimmten Reiz (z. B. Futter; "unkonditionierter Stimulus") folgt natürlicherweise eine bestimmte Reaktion (z. B. Speichelfluss; "unkonditionierte Reaktion"). Wird nun an den Reiz ein anderer, neutraler Reiz (z. B. Glockenton; "konditionierter Stimulus") gekoppelt, so stellt sich die besagte Reaktion auch bei alleiniger Darbietung des neutralen Reizes ein ("konditionierte Reaktion"). Das respondente Modell kann erklären, wie man Reiz-Kombinationen lernt und weshalb Menschen bei bestimmten Gelegenheiten auf "unnatürliche" Weise reagieren (vgl. Myers, 334ff).

Das operante Modell umfasst die von Skinner untersuchte operante Konditionierung. Hierbei lernt ein Individuum anhand der Folgen seines Verhaltens, so dass es dieses Verhalten entweder häufiger oder seltener zeigt, je nach dem, ob das Feedback auf sein Verhalten positiv (Verstärkung) oder negativ (Bestrafung) ausfällt. Individuen lassen sich also in gewissen Grenzen durch gezielte Belohnung oder Bestrafung so beeinflussen, dass sie bestimmte Verhaltensweisen häufiger, andere Verhaltensweisen hingegen seltener ausführen. Modelllernen ist ein Sonderfall der operanten Konditionierung. Hierbei identifiziert sich ein bestimmtes Individuum (hier als "Lerner" bezeichnet) mit einem anderen Individuum ("Vorbild"); die operante Konditionierung (Verstärkung oder Bestrafung) des Verhaltens des Vorbilds wirkt sich dadurch auf das Verhalten des Lerners aus – analog zum Vorbild zeigt dann auch dieser das entsprechende Verhalten häufiger oder seltener (vgl. Myers, 346ff).

Diese Modelle berücksichtigen keine mentalen Prozesse, das Lernsubjekt wird vielmehr als unbekannte Variable, als "Black Box" aufgefasst; wichtig sind allein In- und Output (behaviouristisches Reiz-Reaktions-Modell). Seit der kognitiven Wende haben allerdings psychische Prozesse größeres Gewicht erlangt.

Beim kognitiven Lernen stehen die mentalen Prozesse des Menschen im Zentrum. Beim Lernen durch Eigensteuerung führt sich das Individuum durch gezielte operante Selbstkonditionierung selbst (vgl. Myers, 359). Beim Lernen durch Einsicht durchdenkt das Individuum ein bestimmtes Problem, wälzt es herum und setzt sich mit ihm intensiv (bewusst und unbewusst) auseinander (was mit entsprechenden Umstrukturierungsprozessen auf neuronaler Ebene einhergeht), bis es schließlich den Problemkern erfasst ("Aha-Erlebnis") und dadurch zu einer neuen, qualitativ höheren Erkenntnis kommt ("Lernsprung") (vgl. Myers 418f).

Stufen des Lernfortschritts

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In pragmatischer Hinsicht lassen sich vier Stufen des Lernfortschritts unterscheiden:

  1. Unbewusste Inkompetenz. Man kann etwas nicht und weiß auch nicht, dass man es nicht kann.
  2. Bewusste Inkompetenz. Man kann etwas nicht, weiß aber über sein Nichtkönnen bescheid.
  3. Bewusste Kompetenz. Man hat etwas gelernt, kann es aber nur unter Aufmerksamkeitszuwendung umsetzen.
  4. Unbewusste Kompetenz. Man wendet das Erlernte gleichsam automatisch, selbstverständlich an (vgl. O'Connor/Seymour, 33).

Ziel jeden Lernens ist es, die vierte Stufe zu erreichen.

Von Vorverständnis zu Vorverständnis

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Gemäß dem Konzept des hermeneutischen Zirkels (von Gadamer später durch eine hermeneutische Spiralbewegung ersetzt) handelt es sich beim Verstehensprozess (also dem Erkennens des "Inneren" gegebener Zeichen; vgl. Poser 212) um einen kreisförmige Bewegung zwischen Teil und Ganzem: wenn wir das Teil besser verstehen, verstehen wir auch das Ganze besser, was wiederum das Teil besser verständlich macht und so weiter. "[J]edes Verstehen, sei es die Äußerung eines anderen, sei es mein Lesen eines Buches, beginnt mit Teilen: mit Phonemen, die sich zu Wörtern gruppieren (beziehungsweise mit Buchstaben, die sich zu Worten und Sätzen verbinden), um im nächsten Schritt um weitere Teile ergänzt zu werden, bis mir das Ganze der Äußerung meines Gegenüber oder des gelesenen Buches gegenwärtig ist. Von diesem Ganzen her ordnet sich jeder Teil neu und vielleicht auch anders ein." (Poser, 213) Der Verstehensprozess ist somit gleichsam eine prinzipiell endlose Pendelbewegung zwischen detailliertem Ausschnitt und Gesamtbild – von einem anfänglichen (und für den Rekonstruktionsvorgang der neuen Informationen erforderlichen) Vorverständnis schreiten wir dabei zu einem immer besseren Vorverständnis fort. Der hermeneutische Zirkel hat sein psychologisches Korrelat darin, dass in das Arbeitsgedächtnis (das ein Aspekt des Kurzzeitgedächtnisses ist; s. unten) nicht nur aktuelle Inhalte, sondern auch Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis "geladen" werden, die neue Information also mit Hilfe vorhandener Information interpretiert und eingeordnet wird (vgl. Myers, 373), wobei sich auch die langzeitgespeicherten Inhalte umstrukturieren – "[b]eim Lernen wird neues Wissen eingefügt, altes Wissen aktiviert und gegebenenfalls reorganisiert" (Terhart, 153).

Gedächtnispsychologische Aspekte

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Das Gedächtnis ist der Ort, an dem (mehr oder weniger stark vorbearbeitete) visuelle, akustische oder semantische Inhalte abgelegt und gespeichert werden. Man unterscheidet nach der Behaltensdauer drei verschiedene Gedächtnisse, die im Gehirn an unterschiedlichen Orten repräsentiert sind.

  • Sensorisches Gedächtnis. Visuelle und akustische Eindrücke werden hier für sehr kurze Zeit (bis zu zwei Sekunden) gespeichert und ans Kurzzeitgedächtnis übergeben.
  • Kurzzeitgedächtnis. Es hat eine eingeschränkte Aufnahmekapazität (sieben plusminus zwei Einheiten) und eine begrenzte Dauer (etwa 20 Sekunden). Damit die Inhalte ins Langzeitgedächtnis überführt werden, müssen sie wiederholt werden: "Wenn wir aber diese Information nicht mit Bedeutung anreichern und enkodieren oder sie wiederholen, dann verschwindet sie schnell wieder. […] Ohne aktive Verarbeitung haben Kurzzeiterinnerungen nur eine begrenzte Dauer." (Myers, 384) Erst diese aktive Bearbeitung ermöglicht eine Übergabe ans Langzeitgedächtnis.
  • Langzeitgedächtnis. Informationen werden zuerst im Hippokampus zwischengespeichert und anschließend – dabei vor allem während des Schlafs – an den Kortex zur (dynamischen) Archivierung überspielt; die Kapazität des Langzeitgedächtnisses ist dabei praktisch unbegrenzt. Da der Hippokampus für das Langzeitgedächtnis eine entscheidende Rolle spielt, führt seine beidseitige Schädigung zu einer anterograden Amnesie.

Die physiologische Grundlage für die Speicherung ist die Langzeitpotenzierung, die sowohl kurzfristig als auch langfristig stattfinden kann: kurzfristig durch Modifizierung von Enzymsystemen, langfristig durch Genexpression und daraus resultierenden strukturellen Modifikationen von Synapsen (vgl. Dudel/Heckmann, 111). Langzeitpotenzierung beruht auf repetitiver Aktivierung von Neuronen, also auf einer verstärkten Benutzung bestimmter neuronaler Wege ("Kreisen" von Informationen) und somit auf Wiederholung; gerade bewusste Wiederholung fördert die Enkodierung von Informationen (vgl. Myers, 375). Doch "nicht nur die reine Häufigkeit der Wiederholung ist wichtig, sondern auch die Tiefe der Verarbeitung. Durch Vernetzung können Informationen besser gespeichert werden (elaboriertes Memorieren […])" (Faller/Lang, 92). Neben der übenden Wiederholung wird der Konsolidierungsprozess auch durch die Anwendung gelernter Inhalte auf konkrete Probleme begünstigt: "Neu Gelerntes wird besser behalten, wenn es unmittelbar geübt und angewendet werden kann, aber auch, wenn es auf neue Informationen und Probleme angewendet werden kann." (Terhart, 153) Zusätzlich wird die Speicherung dadurch gefördert, dass die Inhalte auf unterschiedliche Weise kodiert werden (vgl. Myers, 380): "Es ist für das Lernen von Vorteil, wenn über mehrere Sinneskanäle Informationen auf das […] Gehirn treffen, das diese unterschiedlichen Arten von Informationen in sich verarbeitet und neue Bedeutungen konstruiert. […] Verschiedene Zugangsweisen zum Gegenstand, verschiedene Darstellungsformen von Lerngegenständen sollten gewählt werden." (Terhart, 153). Sogar der Abruf aus dem Speicher trägt zu besserer Abspeicherung bei: "Bei jedem Abruf erfolgt eine Neueinspeicherung (Re-Enkodierung), die die Speicherung einerseits verfestigt, andererseits aber im gegenwärtigen Kontext und mit neuem Wissen verändert." (Faller/Lang, 92; vgl. Terhart, 153) Dabei werden besonders solche Informationen gut erinnert, die strukturiert sind und einen Bezug zur eigenen Lebenswelt und Biographie aufweisen: "Wir erinnern Informationen dann am besten, wenn wir ihnen eine persönliche Bedeutung verleihen können bzw. sie in für uns sinnvolle Einheiten gliedern" (Myers, 381; vgl. Terhart, 153); wobei eine hierarchische Gliederung besonders wirksam ist (vgl. Myers, 382).

Neurophysiologische Aspekte

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Synapsen

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Da alles, was psychologisch ist, auch neurobiologisch ist, haben auch Lernen und Gedächtnis neuronale, in den Verschaltungen des Gehirns repräsentierte Korrelate. Die grobe Verdrahtung der Neurone ist dabei genetisch festgelegt, wohingegen spätere Umwelteinflüsse feine Veränderungen bewirken – häufig genutzte neuronale "Straßen" (Synapsen) werden verstärkt (wobei kurzfristige Synapsenveränderungen mittels Aktivierung von Enzymsystemen und langfristige, auf Genexpression und strukturellen Modifikationen beruhende Synapsenveränderungen eine Rolle spielen) und somit gewissermaßen zu "Autobahnen" ausgebaut, unbenutzte Verbindungen hingegen abgeschwächt oder völlig abgebrochen (vgl. Birbaumer/Schmidt, 229f). Das Gehirn passt sich somit an die Umgebung an, sei es an eine abwechslungsreiche oder eine reizarme Umgebung (das Gehirn lernt dann eben effizient mit der reizarmen Umgebung umzugehen, indem es nicht benötigte neuronale Verbindungen verkümmern lässt). Die Lerngeschichte eines Menschen ist somit in der Synapsenkonfiguration seines Gehirns gespeichert.

Während bestimmter Entwicklungsabschnitte ("kritische Phasen") sind Umwelterfahrungen von entscheidender Bedeutung, um die entsprechenden neuronalen Verbindungen langfristig zu stabilisieren. Fehlen Erfahrungen in diesen Entwicklungsperioden, so gehen die Verbindungen zugrunde, entsprechende Fähigkeiten können später durch noch so viel Üben nicht adäquat erworben werden (vgl. Birbaumer/Schmidt, 229) – es gilt tatsächlich: was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Vor allem während der Adoleszenz findet eine Auslese von neuronalen Verbindungen statt: "Das Gehirn gleicht während des Jugendalters […] einer Baustelle. Wie ein Baum immer mehr Wurzeln und Zweige treibt, so lassen die Hirnzellen bis zur Pubertät immer weitere Verbindungen sprießen. In der Zeit der Adoleszenz werden dann die nicht genutzten Verbindungen gestutzt […]. Was wir nicht benutzen, geht verloren." (vgl. Myers, 172)

Neuronale Grundlagen von Lernen und Gedächtnis

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Für die neuronalen Mechanismen bei Lern- und Gedächtnisprozessen gilt gemäß aktuellen Forschungsergebnissen folgendes:

  • "Entwicklung und Verbesserung neuronaler Verknüpfungen beim Lernen ist vor allem mit Verbesserung synaptischer Funktionen verbunden." (Golenhofen, 496)
  • Das deklarative Gedächtnis ist vor allem in den kortikalen Assoziationsarealen lokalisiert. Es gliedert sich in ein Kurz- und Langzeitgedächtnis: "Die Inhalte im Kurzzeitgedächtnis sind leicht auslöschbar […]. Daraus kann man schließen, dass der Kurzzeitspeicher an spezifische Erregungsmuster gebunden ist, die wahrscheinlich in Form von Erregungskreisen ablaufen. Die Inhalte im Langzeitgedächtnis sind fester verankert als die im Kurzzeitgedächtnis. Das legt den Schluss nahe, dass bei der Bildung von Engrammen im Langezeitgedächtnis eine chemisch-strukturelle Speicherung vorliegt." (Golenhofen, 496)
  • "Die Konsolidierung des Gedächtnisses (Überführung von Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis) ist eng mit der Funktion des Hippokampus und anderen Teilen des limbischen Systems verbunden. Beidseitige Schädigung des Hippokampus führt zum Erlöschen dieser Funktion […]." (Golenhofen, 496) Der Konsolidierungsprozess, also die Übertragung von im Hippokampus gespeicherten Inhalten an den Kortex, findet vor allem im Schlaf statt – "[d]er Hippokampus fungiert im Schlaf als Lehrer des Kortex" (Spitzer, 125). Konsolidierung, Vernetzung und Umstrukturierung von Gedächtnisinhalten bilden die Grundlage von Verstehen und Einsicht.
  • Wird der Hippokampus beidseits geschädigt, findet keine Konsolidierung mehr statt (vgl. Golenhofen, 496). Dabei ist es vor allem langfristiger Stress, der den Hippokampus schädigt (vgl. Spitzer, 171).
  • Kognition, Emotion und Motivation sind für das Lernen gleichermaßen wichtig; notwendige Bedingung für Lernen ist Aufmerksamkeit: unspezifische Aufmerksamkeit im Sinne allgemeiner Aktivation und selektive Aufmerksamkeit im Sinne von Fokussierung auf bestimmte Inhalte.
  • Verstehen bedeutet auf seiten des Empfängers Konstruktion mittels persönlichen Konstruktionsmaterials. Eine absolute Kongruenz der Innerungen von Sender und Empfänger wird daher so gut wie nie erreicht.
  • Eine Äußerung enthält nicht nur "pure" Information, sondern auch Beziehungs-, Selbstkundgabe- und appellative Anteile.
  • Redundanz ist bei zwischenmenschlicher Kommunikation wichtig, gerade in Lehr-Lern-Kontexten.
  • Es gibt verschiedene Formen des Lernens. Ziel ist dabei, von unbewusster Inkompetenz zu unbewusster Kompetenz aufzusteigen.
  • Das Verstehen eines Textes beruht auf einer Pendelbewegung zwischen Teil und Ganzem, was zu immer besserem Vorverständnis sowohl der Teile als auch des Ganzen führt; ein umfangreiches Vorverständnis zu Beginn erleichtert den anschließenden Verstehensprozess während der Auseinandersetzung mit dem Text.
  • Bestimmte Bedingungen und Vorgehensweisen fördern das Enkodieren, Abspeichern und Abrufen von Inhalten. Hierzu zählen: (bewusste) Wiederholung, Vernetzung, problemorientierte Anwendung, Kodierung auf verschiedenen Kanälen, Informationsabruf, persönlicher Bezug, Strukturierung, Hierarchisierung.
  • Gerade in jungen Jahren sind Lernerfahrungen wichtig, da entsprechende Fertigkeiten später nur mehr sehr mühsam erworben werden können.
  • Ein funkionierender Hippokampus ist für das Lernen entscheidend. Dauerhafter Stress sollte vermieden werden, da er den Hippokampus schädigt.