Elementarwissen medizinische Psychologie und medizinische Soziologie: Besondere medizinische Situationen

Vorbemerkung: Das Themengebiet "besondere medizinische Situationen" wurde in den ersten ärztlichen Prüfungen der vergangenen Jahre nur sehr sporadisch geprüft, daher soll dieses Themengebiet hier auch nur kurz angerissen werden. Der Gegenstandskatalog führt acht derartige besondere Situationen auf:

  • Intensivmedizin
  • Notfallmedizin
  • Transplantationsmedizin (Nieren-, Leber-Transplantationen etc.)
  • Onkologie
  • Humangenetische Beratung (Stichworte: Pränataldiagnostik, Brustkrebs-Screening)
  • Reproduktionsmedizin (Stichwort: künstliche Befruchtung)
  • Sexualmedizin
  • Sterben, Tod, Trauer

Das wichtigste dabei ist, dass die meisten dieser Situationen sowohl für den Patienten und seine Angehörigen als auch für den Arzt Belastungen darstellen. Beispielsweise hat ein Notfallpatient mit psychischem Schock zu kämpfen, ein Intensivpatient ist mit Monotonie, Verlust der Intimsphäre, Isolation etc. konfrontiert; der Arzt hat daher die Aufgabe, geeignete Strategien zu finden, um die Belastungen für den Patienten zu reduzieren. Doch auch für die Ärzte selbst sind diese Situationen nicht leicht, was sich in hohem Krankenstand und starker Personalfluktuation niederschlägt; verbessern lässt sich dies beispielsweise durch Balint-Gruppen, psychoanalytisch orientierten Gesprächskreisen unter Leitung eines erfahrenen Therapeuten, in denen sich die Ärztinnen und Ärzte untereinander austauschen können. Auf die Themengebiete Sexualmedizin und Sterben, Tod, Trauer soll genauer eingegangen werden.

Der sexuelle Reaktionszyklus besteht aus vier charakteristischen Phasen und kann in jeder Phase gestört werden

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Allgemeines: menschliche Sexualität ist vielschichtig (biologische, psychische, soziale Ebene).

  • Biologische und psychosoziale Faktoren beeinflussen die Sexualität:
    • Biologische Faktoren:
      • Chromosomales Geschlecht
      • Neuronales Geschlecht: Geschlechtshormone führen zur geschlechtsspezifischen Differenzierung von Gehirnstrukturen.
    • Psychosoziale Faktoren:
      • Geschlechtsstereotyp:
        • Unter "Geschlechtsstereotyp" versteht man alle Wahrnehmungen, Erwartungen und Einstellungen gegenüber dem Geschlecht, die das individuelle Verhalten prägen.
        • Der Erwerb des Geschlechtsstereotyps erfolgt im 2. Lebensjahr; es ist zunächst starr, wird in der Grundschulzeit jedoch flexibler.
      • Psychosexuelle Entwicklung gemäß der Psychoanalyse: Identifikationsprozesse sind Ursache für den Verhaltenserwerb (z. B. Identifikation mit dem Vater: Generalisierung auf alles Männliche und Übernahme dessen geschlechtstypischen Verhaltensweisen).
      • Sozialpsychologie: die Art der sexuellen Beziehung hängt ab vom frühkindlichen Bindungsstil.
        • Sicherer Bindungsstil: Treue
        • Ambivalenter Bindungsstil: Suche nach Zärtlichkeit und "Gehaltenwerden"
        • Vermeidender Bindungsstil: oft Sexualität ohne Liebe
  • Die sexuelle Orientierung ist mittelfristig stabil und unterliegt einem starken genetischen Einfluss.
    • 90 % der Männer und Frauen sind heterosexuell
    • 2-3 % sind homosexuell
    • 4-5 % sind bisexuell
  • Das Sexualverhalten und die Art und Weise der Partnerwahl sind evolutionär gewachsen und selbstverständlich auch heute noch nachzuweisen.
    • Männer: masturbieren öfter, haben öfter sexuelle Kontakte ohne emotionale Bindung; die Auswahl der Partnerin erfolgt v. a. nach ihrer physischen Attraktivität.
    • Frauen: die Auswahl des Partners erfolgt eher nach seinem sozialem Status und seinem Ehrgeiz.
Frau Mann
Variabilität des Erregungsverlaufs Variabel (3 typische Erregungskurven) Weniger variabel (sexuelle Befriedigung ist an Orgasmusejakulation gebunden)
Dauer des Erregungsverlaufs länger, Rückbildungsphase länger Kürzer (Orgasmus in 1 Minute möglich)
Refraktariät Nicht vorhanden Vorhanden (absolute Refraktärsphase)
Stimulation Mehr durch körperliche Berührung und Zärtlichkeiten (stärkere Partnerbezogenheit) Mehr durch Phantasien und visuelle Reize
Situative Abhängigkeit Abhängig von situativen Einflüssen und vom Partnerkontakt, deshalb leichter störbar (Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl ist wichtig) Geringe situative Abhängigkeit

Die Sexuelle Reaktion besteht gemäß MASTERS UND JOHNSON aus vier Phasen, ICD und DSM unterscheiden eine zusätzliche Phase (Appetenzphase), es fehlt dafür allerdings eine andere Phase (Plateauphase). Sexuelle Reaktionen treten unabhängig von der Art der Stimulation auf; die Phasen beeinflussen sich, wobei endogene oder exogene Reize die sexuelle Reaktion begünstigen oder hemmen können.

Masters/Johnson ICD, DSM
Appetenzphase
Erregungsphase Erregungsphase
Plateauphase
Orgasmische Phase Orgasmusphase
Rückbildungsphase Entspannungsphase
  • Appetenzphase ("Phase 0"): in dieser Phase erwacht das sexuelle Begehren (Phantasien, Motive).
  • Erregungsphase (Phase 1): diese Phase ist der längste Teil des Reaktionszyklus und leicht zu stören.
    • Sexuelle Lust
    • Begleitende physiologische Veränderungen
      • Frau: Vasokongestion, Lubrikation und Ausdehnung der Vagina, Erektion der Mamillen und Größenzunahme der Mammae
      • Mann: Zunahme der genitalen Durchblutung, Erektion
  • Plateauphase (Phase 2): diese Phase beginnt, wenn in der Erregungsphase eine ausreichende sexuelle Stimulierung erfolgt ist.
    • Stufe hoher sexueller Spannung mit Möglichkeit des Orgasmus oder des Spannungsabfalls
    • Weitere physiologische Veränderungen:
      • Frau: weitere Veränderung der Brüste und Mamillen, die Klitoris wird an den vorderen Symphysenrand gezogen, orgastische Manschette
      • Mann: Vergrößerung des Hodenvolumens
      • Beide: Anstieg von Atemfrequenz, Pulsfrequenz und Blutdruck
  • Orgasmusphase (Phase 3): der Orgasmus erfolgt nach maximaler Steigerung der Stimulation.
    • Höhepunkt der sexuellen Lust, Lösung der sexuellen Spannung
    • Rhythmische Kontraktion der perinealen Muskulatur und der Sexualorgane
      • Frau: Kontraktion von orgastischer Manschette, Uterus, Musculus sphincter ani externus
      • Mann: Kontraktion von Becken- und Harnröhrenmuskulatur
    • Muskuläre Anspannung, Atem- und Pulsfrequenz sowie Blutdruck steigern sich maximal, die äußere Sinneswahrnehmung wird eingeschränkt (oftmals wird auch Wärme empfunden, die vom Becken ausstrahlt).
  • Rückbildungsphase (Phase 4): diese Phase ist charakterisiert durch ein Gefühl muskulärer Entspannung und allgemeinen Wohlbefindens.

Störungen der Sexualfunktion: Erkrankungen (Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, chronische Niereninsuffizienz etc.) und ihre Therapien (Medikamente, Behandlungsfolgen etc.) können Sexualfunktionsstörungen zur Folge haben.

  • Sexuelle Funktionsstörungen:
    • Ursachen:
      • Psychologisch: Religiosität, Fehlinformation, soziokulturelle Einflussfaktoren, frühere Traumatisierung, nicht ausgelebte Homosexualität etc. (Praktik-Abhängigkeit: z. B. Erektion ist nicht bei der Ehefrau, aber bei einer Prostituierten möglich)
      • Organisch
    • Arten von Störungen
      • Einteilung anhand der Phasen des sexuellen Reaktionszyklus:
        • Appetenzphase:
          • Hypoaktive Störung
          • Sexuelle Aversionsstörung
        • Erregungs- und Plateauphase:
          • Mann: Erektile Dysfunktion (Erektionsstörungen, kommen bei 52% der Männer von 40 bis 70 Jahren vor; sie haben organische oder psychische Ursachen)
          • Frau: Ausbleiben der Lubrikations-Schwell-Reaktion, Vaginismus
        • Orgasmus:
          • Mann: Vorzeitige oder verzögerte Ejakulation, Orgasmusstörung
          • Frau: Unfähigkeit, den Orgasmus zu erleben
      • Sexuell bedingte Schmerzen
        • Dyspareunie: Schmerzen vor, während oder nach dem Geschlechtsverkehr
        • Vaginismus: Spasmus der Scheidenmuskulatur
    • Psychsoziale Einflussfaktoren, die das sexuelle Erleben beeinträchtigen
      • Psychodynamische Konflikte
      • Inzestvorstellungen ("Heilige oder Hure")
      • Erinnerungen an Missbrauch während der Kindheit oder Jugend
      • Partnerabhängige Störungen
      • Ängstigende Einstellungen
      • Selbstverstärkungsmechanismen: einmaliger sexueller Misserfolg kann zu Angst vor der nächsten sexuellen Situation führen (Teufelskreis).
  • Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien, "Perversionen", die aber stark kulturrelativ und zeitabhängig sind): Paraphilien sind intensive, dranghafte, wiederkehrende sexuelle Bedürfnisse, Vorstellungen und Verhaltensweisen, die auf ungewöhnliche Objekte, Aktivitäten oder Situationen abzielen; sie gelten aber erst dann als krankhaft, wenn sie zur Sucht werden.
    • Fetischismus
    • Fetischistischer Transvestitismus
    • Exhibitionismus
    • Voyeurismus
    • Pädophilie
    • Inzest
    • Sadomasochismus.
  • Störungen der Geschlechtsidentität:
    • Transsexuelle Menschen sind davon überzeugt, dem falschen Geschlecht anzugehören.
    • Transvestiten ziehen gerne Kleidung des anderen Geschlechts an.


Merke: Der sexuelle Reaktionszyklus gliedert sich in fünf Phasen: Appetenzphase, Erregungsphase (am längsten, leicht störbar), Plateauphase, Orgasmusphase und Rückbildungsphase. In jeder Phase können Störungen auftreten.


Weblinks:   Masters und Johnson,   Sexueller Reaktionszyklus, Spiegel-Online-Artikel über eine Biografie zu Masters und Johnson

Sterbende und trauernde Angehörige durchleben bestimmte psychische Prozesse, bestimmte Formen der Sterbehilfe sind erlaubt

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Kognitionen von Sterbenden und Angehörigen

Phasenmodell nach KÜBLER-ROSS
1. Nicht-wahrhaben-Wollen
2. Zorn (Wut, Neid; "Warum gerade ich?") als Zeichen einer starken emotionalen Belastung.
3. Verhandeln (innerliches Feilschen um einen Aufschub).
4. Depression (Gefühl der Unausweichlichkeit; Erleben, dass Körper und Gedanken der eigenen Kontrolle entgleiten).
5. Nach ausreichender Zeit: Akzeptieren (fast frei von Gefühlen)
  • Kognitionen des Sterbenden:
    • Es gibt Phasenmodelle des Sterbens, beispielsweise dasjenige von KÜBLER-ROSS, die allerdings nur als grobe Richtschnur dienen können, da Sterben immer individuell verläuft (wendet man die Phasenmodelle zu strikt an, wird man mitunter dem individuellen Patienten nicht gerecht).
    • Der Sterbende fluktuiert zwischen Negieren und Akzeptieren und befindet sich in einem Zustand des middle knowledge (Halbwissen, d. h. die tödliche Bedrohung wird wahrgenommen aber nicht eingestanden).
    • Ängste/Sorgen von Sterbenden...
      • ...vor körperlichem Leiden,
      • ...vor Demütigung und Verlust der Würde,
      • ...vor Einsamkeit,
      • ...davor, wichtige Ziele aufgeben zu müssen,
      • ...vor den Folgen des eigenen Todes für die Angehörigen.


Merke: Jeder Mensch stirbt individuell. Phasenmodelle können daher allenfalls grobe Anhaltspunkte für den Sterbeverlauf liefern.


  • Kognitionen der Angehörigen: der Trauerprozess ist ein Prozess der Ablösung vom Verstorbenen sowie ein Vorgang, der zur Selbstfindung beitragen kann.
    • "Normaler" Trauerprozess: hierzu gibt es Phasen- und Zielmodelle; eine gelungene Trauerarbeit wird durch eine zu kurze und zu wenig emotionale Auseinandersetzung erschwert. Bei einem "erwarteten Tod" dauert der Trauerprozess weniger lang, bei einem nach der sozialen Uhr unerwarteten Tod dagegen länger. Trauerarbeit und lautes Trauern sind nicht signifikant hilfreich bei der Bewältigung des schmerzvollen Ereignisses. Dauer und Art des Trauerns sind individuell verschieden.
      • Am Anfang steht oft eine Identitätskrise, in der chaotische Gefühle und evtl. Schuldgefühle vorherrschen; es wird empfohlen, sich an den Verstorbenen bewusst zu erinnern und seine Bedeutung für das eigene Leben möglichst realistisch zu erfassen (statt ihn zu idealisieren).
      • Später erfährt der Trauernde Mut, neue Beziehungen aufzunehmen.
    • Komplizierte (pathologische) Trauer: der Trauernde ist in seiner Trauer verhaftet → die seelische Weiterentwicklung bleibt stehen (häufig bei gewaltsamen Todesfällen, Suizid und Mitschuld am Tod des anderen), es kann sich eine Depression entwickeln.

Sterbehilfe: Achtung: Sterbewünsche sind oft Ausdruck einer Depression oder starker Schmerzen und verschwinden oftmals nach erfolgreicher Behandlung der Depression/Schmerzen.

  • Aktive Sterbehilfe (Euthanasie; in Deutschland verboten):
    • absichtliches Töten auf Verlangen des Patienten vor Einsetzen des Sterbeprozesses
    • Aber: assistierter Suizid (= Helfen bei der Selbsttötung)
      • In der Schweiz: erlaubt
      • In Deutschland: Beihilfe zur Selbsttötung ist nicht strafbar, aber der Arzt ist dann verpflichtet den suizidalen Patienten wieder ins Leben zurückzuholen (bisher ungelöstes Dilemma).
  • Indirekte Sterbehilfe (nicht strafbar): beschwerdelindernde Behandlung, bei der als Nebenwirkung der Tod des Patienten eintreten kann.
  • Passive Sterbehilfe (prinzipiell erlaubt; geboten, wenn eine Patientenverfügung vorliegt [falls nicht, muss über die Angehörigen der mutmaßliche Wille exploriert werden]): Unterlassen von Heilbehandlung (Zulassen natürlichen Sterbens, d. h. Einstellen von künstlicher Ernährung oder Beatmung).


Merke: Es gibt verschiedene Arten der Sterbehilfe: aktive, indirekte und passive Sterbehilfe. Gesetzlich verboten ist die aktive Sterbehilfe, ethisch umstritten sind alle Sterbehilfe-Arten.


Weblinks:   Elisabeth Kübler-Ross, The Five Stages of Death,   Trauer,   Sterbehilfe


Wichtige Prüfungsthemen (näher erläutert im Glossar): sexueller Reaktionszyklus.