Astronomische Berechnungen für Amateure/ Positionsastronomie/ Horizont

Im folgenden werden wir explizit oder implizit immer wieder vom Sehwinkel eines Objektes sprechen. Darunter verstehen wir den Öffnungswinkel desjenigen Kegels, den die Sehstrahlen vom Auge des Beobachters zum Objekt bilden. Dabei liegt die Kegelspitze im Auge des Beobachters.


Beispiel:

Ein Beobachter, dessen Augen sich in 1.7 m über dem Erdboden befinden, betrachtet einen 4.5 m hohen Apfelbaum in 10 m Entfernung. Der Baumteil oberhalb seiner Augen ist 2.8 m hoch, was bei einer Entfernung von 10 m einem Sehwinkel von arctan 0.28 = 15.64° entspricht. Der untere Teil entspricht einem Sehwinkel von arctan 0.17 = 9.65°. Insgesamt entspricht dies folglich einem Sehwinkel von 25.29°.


Bestimmung der Kimmtiefe für einen erhöhten Beobachter-Standort

Betrachten Sie die nebenstehende Figur. Befindet sich ein Beobachter im Punkt B direkt auf der Erdoberfläche, so bildet die Tangentialebene nBs an den Erdkörper seinen mathematischen Horizont. Befindet er sich im Punkt B1 in der Höhe H über dem Niveau des Erdkörpers – beispielsweise auf einem Gebäude, auf einem Berg oder in einem Flugzeug –, so wird seine Horizontebene vom Erdmittelpunkt parallel weg verschoben auf die Ebene n1B1s1. Mit anderen Worten: der Winkel zwischen Zenit Z und mathematischem Horizont beträgt immer 90°. Bei Objekten des erdnahen Raums oder des Sonnensystems macht sich die Parallelverschiebung in einem zusätzlichen Beitrag in der täglichen Parallaxe bemerkbar. Sterne und Galaxien sind so weit entfernt, dass die tägliche Parallaxe insgesamt vernachlässigt werden kann. Durch den erhöhten Standpunkt kann der Beobachter aber sozusagen unter seinen mathematischen Horizont blicken. Der Winkel, um den in diesem Fall der wahre Horizont tiefer liegt als der mathematische, heisst Kimmtiefe κ. Oder anders formuliert: bei einem erhöhten Standort bildet die wahre Horizontlinie einen Kreis (Erde als Kugel) bzw. eine Ellipse (Erde als Ellipsoid) auf der Erdoberfläche, und die Sehlinien vom Horizont zum Beobachter bilden einen Kegel, dessen Spitze in seinem Auge ruht. Für den vereinfachten Fall der Kugelgestalt der Erde lässt sich die Kimmtiefe sehr leicht berechnen (M ist der Erdmittelpunkt):



Auf der kugelförmigen Erde entspricht dies einer Entfernung u, der sog. Kimmentfernung, von


Wird der wahre Horizont als Grenzlinie zwischen Erde und Himmel von Erhebungen (Gebäude, Hügel oder Berge) gebildet, so sind zwei Effekte zu beachten:

  • Je weiter entfernt vom Beobachter sich die Erhebung befindet, desto stärker ist ihr Fusspunkt infolge der Erdkrümmung bezogen auf die Horizontebene des Beobachters „abgesunken“. Dieser Effekt ist seit dem Altertum bekannt und wird immer wieder als Beweis für die Kugelgestalt der Erde angeführt: von einem sich nähernden Schiff sieht man zuerst die Mast- oder Antennenspitzen, dann eine allfällige Takelage, die Kamine, die Aufbauten, das Deck und erst zum Schluss den Rumpf.
Welcher der vier Gipfel ist der höchste?
Die nebenstehende Foto zeigt den Effekt am Beispiel einer Bergfoto. Die Aufnahme wurde in Cham (CH; LV03-Koordinaten RW = 676 572, HW = 228 011; H = 430 m) gemacht und zeigt den Pilatus bei Luzern (LV03-Koordinaten RW = 662 200, HW = 203 450; h = 2118.7 m) sowie das „Dreigestirn“ Eiger, Mönch und Jungfrau, dessen Koordinaten Sie im Kapitel „Geografische Karten“ schon bestimmt haben. Der höchste der vier abgebildeten Gipfel ist mit 4158 m (LV03) die Jungfrau. Da sie mit rund 82½ km aber die grösste Entfernung vom Standort des Fotografen aufweist, ragt sie am wenigsten weit in den Himmel hinauf. Umgekehrt ist der Pilatus mit nur 28½ km Distanz der nächste und macht darum den Eindruck, der höchste Gipfel zu sein. In Wirklichkeit hat aber der Pilatus von allen vier Gipfeln die geringste Höhe. Dies hat in erster Linie mit dem Sehwinkel allgemein und mit dem Absinken des Fusspunktes zu tun.
  • Jede Erhebung steht senkrecht auf ihrer Horizontebene. Dadurch erscheint sie für den Beobachter nach „hinten“ gekippt und deshalb verkürzt. Für den Beobachter ist der Sehwinkel senkrecht zum Sehstrahl massgebend.
Zur Berechnung der wahren Horizontlinie

Die beiden Effekte sollen nun berechnet werden, zuerst das „Absinken“ des Fusspunktes. Betrachten Sie dazu die nebenstehende Grafik. Wir nehmen einmal an, der Fusspunkt E der Erhebung befinde sich jenseits der Kimmlinie (bzw. des Kimmpunktes) K. Ist t der auf der Erdoberfläche gemessene Abstand zwischen dem Fusspunkt E der Erhebung und dem Kimmpunkt K, d der Abstand zwischen E und dem Fusspunkt B des Beobachters, so gilt:


Zum Bogenstück t gehört im Erdmittelpunkt der Winkel τ, der sich im Winkelmass einfach berechnen lässt:


Damit findet man den Anteil , um den der Fusspunkt der Erhebung aus Sicht des Beobachters unter der Sehlinie zum Kimmpunkt liegt, zu



Man erkennt nun: liegt E zwischen B und K, dann wird t < 0 und damit auch τ < 0. Da aber cos x = cos(−x) ist, ändert sich nichts am Resultat.


Um den Sehwinkel , um den der Fusspunkt unter der Kimmlinie liegt, berechnen zu können, setzen wir die Abstände einander gleich. Dann finden wir für υ:



Die Verkürzung durch die bezüglich der Sehlinie B1KE5 gekippte Stellung der Erhebung ist leicht zu berechnen: es ist EE1 = h die wahre Höhe der Erhebung und . Die gesuchte Höhe ist , für die wir finden:


Davon liegt – wie weiter oben berechnet – unter der Sehlinie. Darüber hinaus ragt der Teil . Er bildet die reale Horizontlinie des Beobachters in B1. Die Höhe h´´ entspricht für den Beobachter einem Sehwinkel ω, der sich wie folgt berechnen lässt (wir machen die gleiche Vereinfachung wie bei der Berechnung von υ):


Die reale Horizontlinie liegt also für den in B1 stehenden Beobachter um den Winkel |κ − ω| unter (ω < κ) bzw. über (ω > κ) dem mathematischen Horizont.


Übungen

  • Sie haben im Kap. 3 die Koordinaten der Höchi Flue ob Egerkingen (Jurahöhe; 7° 47' 33.32“ /47° 20' 9.09“ / 1014 m); vom Eiger (8° 0' 19.58“ / 46° 34' 38.97“ / 4020 m); vom Mönch (7° 59' 50.41“ / 46° 33' 30.43“ / 4157 m) und von der Jungfrau (7° 57' 45.38“ / 46° 32' 12.24“ / 4208 m) berechnet. Von der Jurahöhe aus können Sie das Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau schön sehen. Berechnen Sie für den Fall, dass Sie dort oben stehen: a) den Sehwinkel der drei Berge, falls die Erde flach wäre; b) die Kimmtiefe und die Kimmentfernung für den Standort Höchi Flue; c) den Wert, um den der Fusspunkt der drei Berge infolge der Erdkrümmung „absinkt“ (die Entfernungen messen 85.9 km [zum Eiger]; 87.8 km [zum Mönch] und 88.8 km [zur Jungfrau]); d) die Verkürzung der Höhe infolge des „Kippens“ der drei Berge; e) die effektive Lage des wahren Horizonts, dh. den tatsächlichen Sehwinkel der drei Berge.
  • In der Navigation gibt man für die Kimmtiefe κ die Näherung . Leiten Sie diese Formel her!