Öffentliches Recht im 2. Staatsexamen: Vorläufiger Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO


Allgemeines und Anwendbarkeit Bearbeiten

Die Vorschrift des § 47 Abs. 6 VwGO enthält, etwas versteckt, den Eilrechtsschutz im Normenkontrollverfahren, also das unmittelbare Vorgehen gegen Rechtsverordnungen und Satzungen durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Oberverwaltungsgericht / Verwaltungsgerichtshof. Die Vorschrift ist etwas an § 32 BVerfGG angelehnt. Jedenfalls können die vom Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Grundsätze im Zweifelsfall bei der Anwendung der Vorschrift übertragen werden[1]. Die Regelung in § 47 Abs. 6 VwGO ist an sich unvollständig, weshalb neben dem § 32 BVerfGG ergänzend die §§ 80, 123 VwGO sowie die allgemeinen Verfahrensgrundsätze heranzuziehen sind[2].

§ 47 Abs. 6 VwGO ist nicht anwendbar auf Feststellungsklagen (§ 43 VwGO), selbst wenn dies mit einer prinzipalen oder inzidenten Normenkontrolle verbunden ist. Der vorläufige Rechtsschutz beurteilt sich hier nach § 123 VwGO[3].

Ein Beispiel für eine denkbare Eilrechtsschutzkonstellation über § 47 Abs. 6 VwGO ist die Außervollzugsetzung eines Bebauungsplans. Dies kann das Gericht ggf. in Gänze oder unter Umständen auch nur teilweise einstweilig anordnen.

Zuständigkeit und Entscheidung Bearbeiten

  • Oberverwaltungsgericht / Verwaltungsgerichtshof (§§ 47 Abs. 6, Abs. 1, 184 VwGO)
  • Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts / Verwaltungsgerichtshofs ergeht durch Beschluss (§ 47 Abs. 6, Abs. 5 S. 1 HS. 2 VwGO). Es entscheidet in voller Senatsbesetzung. Eine Entscheidung durch den Vorsitzenden allein ist gem. § 123 Abs. 2 S. 3 VwGO nicht zulässig, da abstrakt-generelles hoheitliches Handeln kontrolliert wird.
  • Das Gericht setzt den Vollzug der Rechtsvorschrift aus bzw. erklärt den angegriffenen Rechtssatz für nicht anwendbar. Der Beschluss des Gerichts ist gem. § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO allgemeinverbindlich bekanntzumachen.
  • Ein Tenorierungsbeispiel kann wie folgt sein und findet sich auch hier (Beschluss OVG Mecklenburg-Pommern vom 20.04.2022 - 1 KM 221-22):
"1. § 8 Abs. 3 Nr. 1 sowie die §§ 9 und 10 der Muster-Landesverordnung vom 11.11.2011 (GBl. 2011, 111) werden vorläufig außer Vollzug gesetzt, soweit ... betroffen ist."
"2. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt."
"3. Die Gerichtskosten tragen die beiden Antragsteller jeweils zu einem Viertel, der Antragsgegner zur Hälfte; ihre außergerichtlichen Kosten tragen die Beteiligten jeweils selbst."
"4. Der Streitwert wird auf EUR 5.000,00 festgesetzt."

Zulässigkeit des Antrags Bearbeiten

1. Statthaftigkeit des Antrags

  • Landesrechtliche Rechtsverordnungen oder Satzungen; nicht aber bundesrechtliche Rechtsverordnungen oder Satzungen[4]
  • Die Rechtsverordnung oder Satzung muss schon erlassen worden sein, d. h. der Normenkontrollantrag ist nur hinsichtlich bereits veröffentlichter Vorschriften möglich. Nicht erforderlich hingegen ist, dass die Vorschrift bereits in Kraft getreten ist[5]. Gegen Akte im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Rechtssetzung kommt nur der Rechtsschutz nach § 123 VwGO in Betracht (str.[6]). Das bedeutet insbesondere, dass ein Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht gegen einen in der Aufstellungsphase befindlichen Bebauungsplan (§ 33 BauGB) statthaft ist.

2. Antragsbefugnis

  • Antragsteller: Natürliche und juristische Personen
Antragsteller muss durch die Rechtsvorschrift selbst oder durch ihren Vollzug (in absehbarer Zeit) möglicherweise in seinen Rechten verletzt sein.
Es gebietet sich eine strenge Auslegung der Merkmale.
  • Antragsteller: Behörde (s. § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO)
Es genügt, wenn die angegriffene Rechtsvorschrift möglicherweise rechtswidrig ist und die Behörde die Rechtsvorschrift bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben beachten muss.
  • Abwehr schwerer Nachteile oder anderer gewichtiger Gründe
  • Die Gründe müssen derart schwer wiegen, dass der Erlass unabweisbar erscheint
  • Ein schwerer Nachteil ergibt sich nur aus einer negativen Betroffenheit eigener Interessen, nicht aber aus der Beeinträchtigung sonstiger öffentlicher Interessen

3. Beteiligungs- und Prozessfähigkeit (§§ 61, 62, 67 VwGO)

4. Frist

  • im Ergebnis strittig; Umkehrschluss zu § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO wohl ja
  • Jahresfrist

Begründetheit des Antrags Bearbeiten

1. Passivlegitimation

  • Die erlassende Körperschaft, Anstalt oder Stiftung (§ 47 Abs. 2 S. 2 VwGO)

2. Obersätze[7]

  • "Der Antrag ist begründet, wenn die Rechtsvorschrift rechtswidrig ist und dem Antragsteller im Falle ihres Inkrafttretens ein schwerer Nachteil droht, also Folgen, die später nicht oder nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten rückgängig gemacht werden können.".
  • "Der Antrag ist unbegründet, wenn die Rechtsvorschrift rechtmäßig ist."

3. Weitere Prüfungspunkte im Rahmen der Begründetheit

  • Folgenabwägung: Was wäre die Konsequenz, träte die Rechtsvorschrift in Kraft?
  • Verhältnismäßigkeitsprüfung (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit)

Quellen Bearbeiten

  1. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. (2017), § 46, Rn. 148 m. w. N..
  2. Kopp/Schenke, a. a. O..
  3. Kopp/Schenke, a. a. O..
  4. Detterbeck, Allgemeines VerwaltungsR, 12. Aufl. (2014), Rn. 1540.
  5. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. (2017), § 46, Rn. 149.
  6. andere Ansicht: BayVBl 1980, 209-212 (Leitsatz 1-3 und Gründe) = BayVGH, Beschluss vom 11.12.1979 - 22.NE - 2096/79.
  7. aus: Detterbeck, Allgemeines VerwaltungsR, 12. Aufl. (2014), Rn. 1547.