Studienführer Hans Albert: Dogmatismus der Nationalökonomie


Ökonomische Theorie als politische Ideologie

Modellplatonismus und andere Strategien der Kritikimmunisierung

Modellexogene Annahmen und Hilfsannahmen, von Ökonomen bei der Modellbildung oft als unprüfbare Voraussetzungen oder „Dogmen" [1] genommen, werden nicht selten dazu noch zu einer ursprünglichen Erkenntnisquelle erhoben. Wer Klassiker dogmengeschichtlich betrachtet, erblickt leicht in ihnen nichts anderes mehr als eine historische Ansammlung von Dogmen. Für Ludwig von Mises sind jedoch sogar ausdrücklich die Sätze der reinen Ökonomie streng allgemein, d.h. denknotwendig und von derselben apriorischen Evidenz wie die der Logik und der Mathematik. Hans Albert hält einen solchen Ansatz, der wie Immanuel Kant synthetische Sätze a priori für eine gültige Möglichkeit annimmt, für unhaltbar und plädiert als Alternative hierzu für eine empirisch verstandenen Marktsoziologie.

Leicht werden auch aus zweckmäßigen Modellannahmen unter der Hand ontologische Behauptungen und aus einem zuerst bloß instrumentell eingesetzten Rationalismus ein schlechter Positivismus. Denn aus sprachlich oder logisch zweckmäßigen Festlegungen werden urplötzlich ontologische Schlussfolgerungen gezogen. Eine derartige Ontologisierung wird meist durch die stillschweigende Annahme der an der Debatte beteiligten unterstützt, das jeweils vorliegende Modell sei das einzige, welches ein bestimmtes Gebiet der Realität mathematisch wiederzugeben in der Lage sei.[2]

Ganz anderes ist aber im Sinne empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis nach Hans Albert [3] angebracht. Man soll die vorliegenden Erkenntnisse der Anthropologie (sprich: Psychologie, Soziologie, ...) gebrauchen und damit die Menschenbilder (= Verhaltensannahmen bezüglich der Akteure) kritisieren, die bei der Modellbildung jeweils unterstellt werden.[4]

Als Gegenargument wurde ernstlich entgegen gehalten, dass die vorgeschlagene Methode der üblichen Praxis des ökonomischen Mainstreams zuwider laufe. "Kein Ökonom hält sich an Poppers Falsifikationismus!"[5] Und wenn Wirtschaftswissenschaftler methodologische Kritik einfach ignorierten, so könne das weniger an den betreffenden Ökonomen liegen, sondern an der vorgeschlagenen Methodologie, weil diese die Wissenschaftspraxis wohl nicht so nehme, wie sie eben in Wirklichkeit ablaufe.

Nicht immer scheinen aber selbst bekannte Ökonomen nicht so genau zu wissen, was sie tun, vor allem beim Einsatz der in der Ökonomie vielfach so beliebten Modellmethode. Zu einer ausgiebigen Kontroverse hat zum Beispiel Milton Friedmans[6] "F-Twist" Anlass gegeben. So wurde sein Schwanken etikettiert zwischen empirischer und konventionalistischer Auffassung der Annahmen in der ökonomischen Theorie [7], der in seiner Behauptung gipfelte, „the more significant the theory, the more unrealistic the assumption"[8] Näher zu ergründen, was Friedman hiermit wohl genau gemeint haben könnte, haben hernach viele Disputanden zu unternehmen gesucht.[9]. Albert[10] erblickte bei dieser Debatte in der Mehrdeutigkeit von „Annahme" den Ursprung der Konfusion.

Beim ökonomischen Mainstream dominiert eine grundsätzliche Einstellung, wonach die Marktrationalität der Vernunft gleichzusetzen sei; man kann hier in gewisser Weise von "Marktfundamentalismus" sprechen. Albert [11] sieht diese Frage vergleichsweise nüchtern: Auch der Preismechanismus des Marktes ist eben nur ein sozialer Mechanismus, dessen Funktionieren von seinem sozialen und kulturellen Umfeld abhängt. Es ist nur ein Wahrnehmungsfehler bestimmter ökonomischer Theorien, dass da, wo ihre ökonomische Perspektive (d.h. die traditionelle Perspektive ihrer Faches bzw. ihrer Fachdoktrin) aufhöre, auch tatsächlich die Grenzen der Erklärung wirtschaftlichen Handelns lägen.

Das Modell der neoklassischen Preistheorie, das bis heute vielen wirtschaftspolitischen Empfehlungen meist zugrunde gelegt wird, weil es innerhalb der Ökonomie als Maßstab effizienter Ressourcenallokation immer noch nicht außer Kurs gesetzt ist, ist grundsätzlich nicht von dieser unserer Welt, weil es die harten Bedingungen dieser einfach nicht zur Kenntnis nimmt (Ablauf in Zeit und Geschichte, Informationskosten, Transaktionskosten usw.).

Dass Modell des Gleichgewichts, bei welchem empirisch erklärende und normativ / ordnungspolitisch bewertende Aspekte logisch unheilvoll miteinander verquickt werden, ist schon deswegen vollkommen ungeeignet, einen Maßstab für reale Wirtschaftsprozesse abzugeben, weil es effizient per Definition ist, d.h. schon aufgrund der getroffenen Annahmen ist es logisch unmöglich, dass die Marktteilnehmer sich nicht auf das effiziente Gleichgewicht einstellen. Das heißt in dürren Worten, es ist willkürlich gewählt und vielleicht auf irgendeine Welt anwendbar, gewiss aber nicht auf diejenige, welche wir bislang hier auf Erden gewohnt sind.

Mit bestimmten Sprachen sind immer nur bestimmte Weltanschauungen formulierbar oder Theorien explizierbar.[12] So hat die Theorie des ökonomischen Gleichgewichts im Zuge ihrer strikteren Formalisierung zusehends Definitionscharakter gewonnen und damit den einer formalen Sprache. Selbst diese letzte Anwendungsmöglichkeit stößt jedoch auf schwerwiegende Einwände: Sie ist weder eine logisch konsistente Sprache, da sie mit den Paradoxien der vollkommenen Voraussicht belastet ist.[13], noch taugt sie zur Beschreibung kausaler Prozesse, da sie den Zeitfaktor grundsätzlich unberücksichtigt lässt.

Einzelbelege

  1. Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. Bd. 1, Göttingen 1965 (zuerst: 1952), S. 38
  2. Eugen Altschul, Erwin Biser: The Validity of Unique Mathematical Models in Science. Philosophy of Science, 15, 1948, S. 11-24
  3. Hans Albert: Ökonomische Ideologie und politische Theorie. Das ökonomische Argument in der ordnungspolitischen Debatte. Göttingen 2. Aufl. 1972
  4. Hans Albert: Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 114, 1958, S. 273ff
  5. H. Müller-Goddefroy: Wissenschaftslogik und Wissenschaftsprozeß. Zur Forderung nach Falsifizierbarkeit der Theorien der Nationalökonomie. Jahrbuch für Sozialwissenschaften, 36, 1985, S. 128-148
  6. Milton Friedman: Essays in Positive Economics. Chicago 1953
  7. Alan Musgrave: Unreal assumptions in Economic Theory: The F-twist untwisted. Kyklos, 34, 1981, S. 26-29, 377-387
  8. Milton Friedman: Essays in Positive Economics. Chicago 1953, S. 14
  9. Einen umfasseden Überblick über die Kontroverse gibt Jean-Louis Arni: Die Kontroverse um die Realitätsnähe der Annahmen in der Oekonomie. Grüsch 1989; vgl. dazu auch Max Albert: 'Unrealistische Annahmen' und empirische Prüfung. Zeitschrift für Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften, 116, 1996, S. 451-486
  10. Hans Albert: Aufklärung und Steuerung, Aufsätze zur Sozialphilosophie und zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Hamburg 1976, S. 155f, Anm.98
  11. Hans Albert: Aufklärung und Steuerung, Aufsätze zur Sozialphilosophie und zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Hamburg 1976, S. 87
  12. Kasimir Ajdukiewicz: Das Weltbild und die Begriffsapparatur. Erkenntnis, 4, 1934, S. 259-287
  13. Oskar Morgenstern: Vollkommene Voraussicht und wirtschaftliches Gleichgewicht. in: Hans Albert, (Hrg.): Theorie und Realität. Tübingen 1. Aufl. 1964, S. 251-271

Hans Albert: Tautologisches und Ideologisches. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 90, 1954, S. 219

Hans Albert: Der logische Charakter der theoretischen Nationalökonomie. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 171, 1959

Hans Albert: Die Idee rationaler Praxis und die ökonomische Tradition